Indoktrinierende Kinderbücher

Abenteuergeschichten waren schon immer politisch

Ein Mann in weißer Uniform mit Pistole
Auch in Rudyard Kiplings Dschungelbuch schlägt sich eine imperiale Weltsicht nieder: Hier eine Szene aus der Realfilmadaption von 1994. © imago stock&people
Gedanken von Jasamin Ulfat-Seddiqzai · 09.09.2022
Rassistische Stereotype beklagen die einen in Kinderbüchern, „woke“ Propaganda befürchten andere. Bleibt entspannt, meint die Literaturwissenschaftlerin Jasamin Ulfat-Seddiqzai. Abenteuergeschichten wollten schon immer im Sinn des Zeitgeists erziehen.
Früher war alles besser, vor allem aber Kinderfilme und -bücher. Denn damals, so heißt es, ging es in Abenteuergeschichten noch nicht um politische Botschaften, sondern um Helden, Geheimnisse und Goldschätze. Heute aber sei Unterhaltung nur noch durchzogen von „woker“ Propaganda. Solche Beschwerden hört man häufig, zuletzt zum Sendestart der neuen Fantasy-Serie „House of the Dragon“, in der einige Heldinnen gegen das Patriarchat kämpfen.
Tatsächlich ist die Vorstellung, dass gerade Abenteuerromane früher unpolitisch waren, aber ein Irrtum. Die Geschichten um verstaubte Schatzkarten, ägyptische Flüche oder aggressive, menschenfressende Ureinwohner waren schon immer ideologisch motiviert. Nicht umsonst entstanden Helden wie Allan Quatermain, Vorbild für Indiana Jones, um 1880, also in der Hochphase des Imperialismus.

Den britischen Imperialismus preisend

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit, in der Europa die Welt beherrschte und insbesondere Großbritannien in vielen Bereichen federführend war, auch in der Unterhaltungsliteratur. Damals begannen britische Autoren, spannende Geschichten über mutige Jungs und Männer zu schreiben, die sich im Empire behaupteten. Oft ging es um versunkene Tempel, Kannibalen und alte Gottheiten. Diese Geschichten wollten unterhalten, aber nicht nur.
Viele Autoren der Abenteuerliteratur hatten selbst lange Jahre in den Kolonien verbracht. Männer wie Henry Rider Haggard oder Rudyard Kipling priesen den britischen Imperialismus als für die Welt förderlich an. Kiplings Gedicht „The White Man’s Burden“ lamentierte sogar, dass die kolonisierten Völker der Welt nicht zu schätzen wüssten, welch große Belastung die Weltherrschaft für die britische Nation sei.
Gleichzeitig sah die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts viele soziale Umwälzungen, neue Ideen der Gleichberechtigung machten sich breit. Arbeiter und Frauen fingen an, für ihre Rechte zu kämpfen. Schnell entstand bei konservativ Gesinnten die Sorge, dass die Jugend durch solch radikale Ideen verdorben werden könnte. Sie trauerten der alten Zeit nach, als das Leben noch fordernder war. Aus Angst, die männliche Jugend des Landes werde durch Fortschritt und Wohlstand verweichlicht, schufen Autoren wie eben Kipling oder auch Arthur Conan Doyle neue männliche Vorbilder, die sich in Gefahren stürzten und für ihr Vaterland kämpften.

Klassenhierarchie aufrechterhalten

Literaturmagazine wie das „Boys‘ Own Paper“ hatten es sich zur Aufgabe gemacht, junge Briten zu echten Männern zu erziehen. Dabei ging es um Mut, Ausdauer, Aufrichtigkeit und Stärke. Es ging aber auch um Klassenhierarchien und den tiefen Glauben, dass Jungen aus der oberen Mittelschicht geborene Führer seien, denen die ärmeren, ungebildeteren Jungen gerne folgten.

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Außerdem begegneten die weißen Jungs in der kanadischen Wildnis oder in der afrikanischen Savanne vermeintlich wilden Völkern, die entweder zu verbitterten Feinden oder edlen Verbündeten wurden. Eins hatten all diese Geschichten gemeinsam: Sie sollten die Jungen auf ein Leben als imperiale Herrscher der Welt vorbereiten. Am Ende hatte alles seine Ordnung, wenn ein Brite die Oberhand behielt.

Heute geht es um Toleranz und Teamgeist

Seitdem hat sich einiges geändert. Heute spielen neben den typischen alten Helden auch Frauen eine Rolle, manchmal sogar queere oder nicht-weiße Menschen, und oft geht es nicht darum, dass der heldenhafte Einzelkämpfer als erster das Ziel erreicht, sondern dass alle gemeinsam als Team zusammenstehen. Das hat einen erzieherischen Aspekt. Aber seit es Kinderliteratur gibt, wird sie dazu genutzt, Kinder im Sinne des Zeitgeists zu erziehen. Früher hieß das, Kinder zu besseren Christenmenschen zu machen, dann wieder zu imperialen Soldaten.
Heute sollen sie durch moderne Fernsehserien und Abenteuergeschichten toleranter gegenüber Minderheiten werden. Wer im Hinterkopf behält, dass Kinderliteratur immer schon politisch war, wird sich vielleicht bei der nächsten Empörungswelle ein wenig entspannen können.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte sind Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der Anglo-Afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam und erschienen in der „taz“ und der „Rheinischen Post“.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai posiert für ein Pressebild.
© privat
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