Erwin-Olaf-Ausstellung in München

Von schwuler Ekstase zur Mystik des Realen

05:53 Minuten
Porträt des niederländischen Fotografen Erwin Olaf.
Erwin Olafs Bilder sind verstörend, abgründig, unheimlich. Zeit, den niederländischen Fotografen auch in Deutschland einem größeren Publikum bekannt zu machen. © picture alliance / ANP | Koen van Weel
Von Tobias Krone · 15.05.2021
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Erwin Olaf ist einer der wichtigsten niederländischen Künstler und doch in Deutschland kaum bekannt. Das will die Kunsthalle München nun ändern und widmet dem Fotografen eine große Retrospektive mit dem Titel "Unheimlich schön".
Es ist ein Selbstporträt des sexuellen Erwachens. Entgeistert, erregt, wie gebannt blickt Erwin Olaf jäh an der Kamera vorbei ins Helle – an seinem Gesicht, der Kiefer markant durch das Schattenspiel hervorgehoben, laufen Spermatropfen herunter.
"Die 80er-Jahre waren eine super revolutionäre Zeit, sehr frei, aber auch sehr aggressiv: Die Punk-Bewegung, das militante Gay-Movement, wo ich dazugehörte. Alles in meiner Fotografie ging um Freiheit und darum, die Welt zu erobern und vielleicht zu überzeugen: Ich bin da", sagt Erwin Olaf, der heute 62 ist.

Ikonen der LGBTQ-Bewegung

Die Ausstellung beginnt mit dieser überschäumenden Stimmung. Am bekanntesten dürfte der Akt eines jungen Mannes sein aus der frühen Schwarz-Weiß-Serie "Squares": Blonde verwuschelte Haare, vor dem Geschlecht eine Champagnerflasche, aus der es solide herausspritzt. Mit seiner unmissverständlichen Botschaft wurde das Foto zu einer Ikone der LGBTQ-Bewegung.Doch neben diesen Bildern von gestählter Männlichkeit begann Erwin Olaf 1985 auch damit, das Männlichkeitsideal zu unterwandern. Die Serie "Ladies Hats" ist ein kreatives Spiel mit Formen, Geschlechterbildern und niederländischer Kunstgeschichte:
"Auf den schlichten Bildern sehen Sie lauter Männer mit Frauenhüten, die ganz fein ausgeleuchtet sind und damit so eine fast malerische Qualität bekommen. Und auch diese Komposition, die Köpfe, die in den Bildraum hineinragen, die Körperhaltung, lässt natürlich an Rembrandt denken", sagt die Kuratorin Anja Huber.

Ereignishaftigkeit von Zeit erfahrbar machen

Soviel zum aggressiven Jugendwerk des gelernten Journalisten Erwin Olaf, der vor der schlichten Leinwand die sexuellen Provokationen seiner Zeit auf Hasselblad-Format bannte. Mit der Zeit dann wurden seine Fotoserien opulenter und gleichzeitig subtiler. Das Ergebnis einer Selbstbefragung, wie er erklärt:
"'Kann es nicht auch ein bisschen leiser sein, Erwin?' Anfang der 2000er-Jahre hatte ich auch meinen Vater verloren, die erste Person in meinem Leben, die ich geliebt habe. Und dann dachte ich: Nein. Ich muss mehr nach innen gehen."
Damals entstanden mehrere der geheimnisvollen großformatigen Fotoreihen, die heute Olafs Werk dominieren, zum Beispiel die Serie "Grief": Menschen allein am Tisch, aus dem Fenster starrend, Tränen in den Augen. In einem 60er-Jahre-Interieur in fahlen Farbtönen reinszeniert Erwin Olaf hier die Stunde nach der Ermordung John F. Kennedys. Eine Art Hollywoodfilmszene in Fotoformat. Die Personen wirken teilnahmslos und doch innerlich angespannt, so beschreibt es die Kulturwissenschaftlerin Claudia Peppel im lesenswerten Katalog. Der Begriff der "Ereignishaftigkeit von Zeit" – Erwin Olaf mache ihn hier erfahrbar.
Gewöhnungsbedürftig ist die Ästhetik allemal. Alle Oberflächen auf den Fotografien inklusive der Gesichter sind wahnsinnig glatt. Unbehagen überkommt einen bei einer so perfekt inszenierten kostümierten Einsamkeit. Eine immer wieder ins Mystische abgleitende Atmosphäre.

Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Werbeindustrie

"Unheimlich schön" ist der treffende Titel dieser Ausstellung eines Künstlers, der auch für die Werbeindustrie gearbeitet hat. "Ja, ich gebrauche gerne Schönheit oder Perfektionismus wie in der Werbeindustrie. Das habe ich dort gelernt, um einzuladen: Komm in meine Welt. Und wenn man drin ist, dann schlage ich dir meinen Inhalt um die Ohren", sagt Erwin Olaf grinsend.
Er übt Gesellschaftskritik – mal mehr, mal weniger subtil. Die Sexualisierung der Modeindustrie nimmt er aufs Korn, indem er Nacktmodels in lasziven Posen Papiertaschen mit den Modelabels Gucci und Chanel über den Kopf zieht. Nach den Bataclan-Anschlägen in Paris bespielte er während der Langen Nacht der Museen die Fenster des Rathauses. In einer filmischen Installation zeigte er Dutzende Gesichter, die Grimassen schneiden – neben nackten Körpern, die sich in Zeitlupe aufrichten.
"Wenn die Freiheit mit Gewalt beschränkt wird, dann finde ich, sollten wir uns verteidigen. Und da muss auch ein Künstler auf die Barrikaden gehen. Wut ist ein guter Brennstoff für meine Arbeit. Ohne Wut mache ich nichts", sagt Erwin Olaf.

Ein warmherziger ironischer Blick auf uns

Und doch scheint die Wut mehr und mehr einer inneren Ruhe zu weichen. Diese zeigt sich in Erwin Olafs neuester Serie "Im Wald". Zum ersten Mal hat er in freier Natur fotografiert. In wildromantischen Alpenwäldern inszeniert er Menschen vor Wasserfällen, auf nebligen Bergseen, im Farndickicht. Es sind Touristinnen in Burka, Menschen auf der Flucht, vermeintliche Dschungelbewohner mit Fotohandy im Anschlag.
Ein warmherziger ironischer Blick auf eine Spezies, die ihre Beziehung zur Natur neu verortet – und ihr im Zeitalter des Klimawandels mehr denn je ausgesetzt ist.

Die Ausstellung "Unheimlich schön" ist bis 26. September in der Kunsthalle München zu sehen. Täglich zwischen 10 und 20 Uhr.

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