Ernährung als Statussymbol

Du bist, was du isst

30:09 Minuten
Altes Kochbuch mit Küchenutensilien vor grüner Holzwand
Kochen wie Oma: Ernährung wird zum Lifestylethema – und Interessierte entdecken alte Rezepte und Gemüsesorten wieder. © picture alliance / imageBroker / Jürgen Wiesler
Von Tina Hüttl · 13.07.2021
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Essen und Ernährung haben sich zum Megatrend und Lifestylethema verdichtet, zum Ausdruck unserer eigenen Identität, zum Statussymbol. Für manche vielleicht sogar zu einer Art Ersatzreligion. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Ein Gang durch den Supermarkt, ein Blick in den Kühlschrank der Büroküche, ein Abendessen mit Freunden reichen, um sich von einem Phänomen zu überzeugen: Was und wie wir essen, verändert sich. Die Currywurst als Kantinen-Einheitsgericht ist selten geworden. Selbst Discounter verkaufen Hafer- oder Mandelmilch. Und kaum eine größere Tischrunde, bei der sich nicht ein Gast vegetarisch, gluten- oder laktosefrei ernährt.
Schon im 18. Jahrhundert schrieb der Franzose Jean Anthelme Brillat-Savarin: "Sage mir, was du isst, und ich sage dir, was du bist". Er gilt als Begründer der Gastrosophie, der Wissenschaft vom guten Essen. Was das jedoch genau ist: gutes, genussvolles und auch gesundes Essen, wird von Kultur zu Kultur und Generation zu Generation nicht immer gleich verstanden.
Wie also verändern Moden und Umwelteinflüsse unsere Ernährungsgewohnheiten? Und welche Weltsicht und Werte drücken wir aus, indem wir essen, was wir essen?

Allergien und Unverträglichkeiten sind Alltag im Restaurant

17.30 Uhr im Tulus Lotrek, einem michelinstern-dekorierten Restaurant in Berlin-Kreuzberg. Auf der langen Holztafel im Hinterraum steht das Personalessen: kross geröstete Sauerteigstullen mit Kirschtomaten und Burrata. Noch eineinhalb Stunden, bis die ersten Gäste hier sitzen, im Service geht man die Reservierungswünsche durch.
"Dann legen wir doch mal los. Heute haben wir insgesamt 29 Personen an neun Tischen, damit sind wir voll. Und es fängt an mit vier Tischen um 19 Uhr, zwei Personen sitzen an Tisch sieben und die bringen Allergie mit: gegen Nüsse."
Ilona Scholl, Restaurantleiterin und Lebenspartnerin von Sternekoch Max Strohe, hat Routine. Essen soll Menschen vor allem glücklich machen, sagt sie.
"19.30 Uhr: Vier Personen sitzen Tisch fünf und sechs: ein Vegetarier und einmal Gluten. Ich habe die nicht erreicht, weiß nicht, ob das hart Zöliakie ist oder halt nur so Lifestyle-Gluten."

Von den zwölf Reservierungen heute hat sie hinter neun sorgfältig in kleiner Schrift Sonderwünsche notiert. Ob Nussallergie, Laktose, Histamin, Gluten oder alkoholfrei – im Tulus Lotrek haben sie kein Problem damit, sofern die Gäste es rechtzeitig mitteilen, sagt Max Strohe.
Vegetarische Frühlingsrollen
Vegetarische Frühlingsrollen: Weniger Fleisch essen - das möchten immer mehr Menschen in Deutschland.© Deutschlandradio / Ellen Wilke
Für das Team ist es eine Konzentrationsfrage. Extrateller bedeuten in der Küche Stress. Kreativität und gute Planung sind daher unverzichtbar: Das Tulus Lotrek druckt für Gäste mit Sonderwünschen inzwischen extra Menükarten: eine laktosearme, eine glutenreduzierte – eine vegetarische ist ohnehin selbstverständlich.

Doch oft sind die Gäste nicht begeistert, wenn sie lesen: Statt einer Langustine mit Beurre Blanc gibt es in Dashi gegarten Rettich. "Ich würde sagen, in 50 Prozent der Fälle kommen die Leute hier an und geben bei der Reservierung drei Wochen vorher an, sie haben Laktose und Gluten. Und wir machen uns einen Kopf und dann sagen die Leute: Ach, weißt du was, heute gönne ich mir das mal! Und dann lassen wir die Karte wieder verschwinden und die essen das normale Menü." Genervt ist man im Tulus Lotrek deswegen nicht, eher amüsiert.

Essen als identitätsstiftendes Element

Max Strohe hat vor 20 Jahren seine Ausbildung gemacht. Er ist auf dem Land zwischen Bonn und Koblenz aufgewachsen. Damals sei es absurd gewesen, als Vegetarier ein Restaurant zu besuchen. Im Freundeskreis gab es ein einziges Mädchen, das kein Fleisch aß. Sie war überall dabei, sah aus wie die anderen und alle fanden sie cool. Heute gehe die Ernährung oft mit einem Lebensentwurf einher:
"Ich könnte dir, glaube ich, mit einer 98-prozentigen Trefferquote sagen, wer Veganer ist. Das kann ich dir einfach sagen, weil die alle androgyn aussehen. Die haben einen beigen Mantel an, eine hellblaue Jeans, übergroße Brille ohne Rand, einen grauen Pullover, der transparent ist, und sind tätowiert."

Der Verdacht der beiden: Ernährung werde mehr und mehr dazu benutzt, sich abzugrenzen. Die Gesellschaft spaltet sich nicht nur in Glaubensfragen, Politik und Einkommen, sondern auch beim Inhalt des Kühlschranks.
"Ich glaube schon, dass das Sich-Definieren über das, was man zu sich nimmt, auch dieses Bio-Politische, schon ein relativ neues Phänomen ist", sagt Ilona Scholl. "Auch die Diskussion von Veganismus, wer leistet sich das? Wer kann es? Wen schließt das aus? Das ist ja schon ein Phänomen, das stark angekommen ist, zumindest in den Großstädten."
Ihr Partner Strohe spricht sogar von Essen als einer Ersatzreligion.

"Interesse oder Ablehnung in Bezug auf neue Lebensmittel oder Geschmacksrichtungen kann in Sozialstrukturen, Identitätsbildung, Sublimation, Frustration, sozialem Aufstreben, kulturellem Snobismus oder Furcht begründet sein, um nur einige zu nennen. Immer wenn Menschen essen, naschen oder trinken, wirken folglich Impulse über die bloße Befriedigung des Hungers hinaus. Auch in der Renaissance und im Viktorianischen Zeitalter aß, naschte und trank man nicht aus rein körperlichen Gründen. Im 20. Jahrhundert trat die sekundäre Bedeutung des Essens aber besonders in den Vordergrund." (Aus: Paul Freedman: Essen. Eine Kulturgeschichte des Geschmacks.)

Die Allergien sind auf dem Vormarsch

Ein steriler grauer Flur wie im Krankenhaus, links und rechts viele Türen. Im Wartebereich spuckt der Nummernapparat bereits die Zahl 52 aus. Es ist fünf Minuten vor Neun. Um neun Uhr beginnt die Sprechstunde im Allergie Centrum der Charité.
Vielleicht lässt sich hier herausfinden, ob die von Gastronomen beobachtete, sich in Kühlschränken und Supermärkten widerspiegelnde Zunahme von Unverträglichkeiten tatsächlich existiert? Zufall oder nicht: Viele der Wartenden sind weiblich.
"Aus unserer Sprechstunde sehen wir eher Patienten, die sind so 40 plus aufwärts. Man kann auch sagen: häufiger Frauen. Es ist auch immer die Frage, das weiß man in der Medizin immer nicht: Ist das beeinflusst durch die Wahrnehmung? Es sind so unterschiedliche Faktoren."

Margitta Worm ist Professorin an der Charité und leitet die Sprechstunde für Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die Medizinerin ist ein wissenschaftlich-nüchterner Typ, ebenso nüchtern ist ihr Sprechstundenzimmer. Ihr ist zunächst einmal wichtig zu unterscheiden:
Kundin an einem Regal mit glutenfreien Waren.
Ernährungsgewohnheiten werden individueller: Das wird auch in den Supermärkten zunehmend sichtbar.© dpa / Ulrich Baumgarten
"Der Oberbegriff ist ja Nahrungsmittelunverträglichkeit. Und dann muss man differenzieren zwischen der Nahrungsmittelallergie und der nicht-allergischen Nahrungsmittelunverträglichkeit. Da gehören klassische Dinge wie die Milchzuckerunverträglichkeit – Laktoseintoleranz – hinein oder aber auch Intoleranzen, also Überempfindlichkeiten. Da wäre das Stichwort auch prozessierte Lebensmittel und dann natürlich ein großes Thema: die Histaminunverträglichkeit. Da ist aber sehr wichtig, dass man es abtrennt von der Nahrungsmittelallergie."
Was handfeste Allergien angeht, gibt es für die Ärztin keine Frage: Sie sind auf dem Vormarsch. 17 Millionen Europäer reagieren auf bestimmte Lebensmittel allergisch. Das entspricht 3,5 Prozent der Bevölkerung. Bei Kindern unter fünf Jahren sind es fünf Prozent. Hier hat sich die Zahl in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.
Ein Grund ist die Globalisierung, die uns Mangos, Kiwis, Kardamom oder Erdnüsse beschert hat. Ein anderer: hochverarbeitete Produkte mit Konservierungs- und Farbstoffen.
Allergien gehen mit handfesten Symptomen einher: Hautausschlag, Schwellungen oder lebensbedrohlicher Atemnot. Mit Haut-, Blut oder einem Lungenfunktionstest, wie er hier zu hören ist, können sie Mediziner gut diagnostizieren.

Auch die Psyche spielt bei Unverträglichkeiten eine Rolle

Schwieriger wird es bei den Unverträglichkeiten. Die einzige Möglichkeit ist eine Eliminationsdiät, also bestimmte Lebensmittel weglassen und sehen, ob man sich besser fühlt.
"Wir haben gerade schon die Psyche angesprochen. Um die da auszuschalten, sollte man solche Testungen kontrolliert, verblindet und mit Placebos durchführen. Deshalb ist es in der Realität so, dass sehr viele Menschen denken, sie haben diese Unverträglichkeit, und sich einschränken, obwohl es manchmal in der Form gar nicht nötig ist."
In Industrieländern verzichten um die 20 Prozent der Menschen auf Lebensmittel wie Milch, Weizen oder Fruchtzucker – obwohl es keine gesicherte Diagnose gibt. Und: Je höher der sozioökonomische Status, desto häufiger sind allergische Erkrankungen und Unverträglichkeiten. Sprich: Man muss es sich leisten können, kompliziert zu sein.
Worms würde das als Wissenschaftlerin nicht so überspitzt formulieren, doch sie sagt: Die weit verbreitete Gluten- und Histamin-Überempfindlichkeit sei eher von Medien geschürt.
"Gerade bei Intoleranzen gilt eine alte Beobachtung von Paracelsus: Die Dosis macht das Gift. Und dementsprechend beraten wir unsere Patienten, dass wir hier aufklären: Kleine Mengen können vertragen werden. Im Prinzip versuchen wir, Verhaltensmuster zu vermitteln, die den Alltag gut umsetzbar machen."
Menschen mit Beschwerden als Spinner oder Wichtigtuer abzutun, greife jedoch zu kurz. Körper und Geist gehören zusammen, weiß die Medizinerin. Die Psyche mischt immer mit.

Der Körper als beherrschbare Bastion

Sarah hat ihre Ernährung zum Geschäftsmodell gemacht: Auf YouTube sieht man die superschlanke Bloggerin, wie sie ihren obsessiv sportlichen Lifestyle inszeniert. Sie erzählt eineinhalb Millionen Followern, dass sie sich nicht nur vegan, sondern weitestgehend ohne Soja und Getreide ernährt.
Möglich scheint heute alles: glutenfrei, ölfrei, zuckerfrei, mehlfrei – die Freiheit beim Essen kennt in einer Wohlstandsgesellschaft keine Grenzen. Wer jedoch wie besessen darauf fixiert ist, sich immer nur gesund zu ernähren, ist krank. Wissenschaftler sprechen dann von Orthorexie. Das hat viel mit Kontrolle über das eigene Leben zu tun. Der Körper wird zur Bastion, die man am strengsten und absolutistischsten beherrschen kann.
Ein Stapel Kochbücher
Die Ernährungsratgeber-Industrie brummt – und im Fernsehen bruzzeln rund um die Uhr die Hensslers, Mälzers und Zacherls. © dpa picture alliance / reality / Frank May
Manchmal scheint es, dass vielen Menschen zwischen Low Carb, Paleo-Diät und immer neuen Food-Studien das Bauchgefühl für gute Ernährung verloren gegangen ist. Ob nun der Wunsch nach Aufmerksamkeit, Selbstoptimierung, Umweltbewusstsein oder tatsächlich eine Krankheit dahinterstecken – Essen war schon immer ein Mittel der Distinktion.
Im mittelalterlichen Europa beispielsweise galt ein ausgeklügelter Kodex, welche Speisen welchem Stand angemessen waren. Je mehr, vielfältiger und farbenfroher aufgetischt wurde, umso höher das gesellschaftliche Prestige.
"Die Zutaten wurden häufig zerkleinert, gehackt und gestampft und so zu einer formbaren Masse verarbeitet, aus der man grandiose Gebilde herstellen konnte; diese schmückte man entweder mit ihrer ursprünglichen Haut und ihren Federn oder man brachte sie im Teigmantel in die ursprüngliche oder eine andere Form. Farben spielten dabei eine große Rolle. Mit geriebenem Toast konnte man Saucen dunkler färben, mit Hühnerleber braun, mit Eigelb verstärkte man eine Gelbfärbung. Geschmacksgebung spielte dabei keine Rolle. Diese Färbemethode war wahrscheinlich arabisch inspiriert. Goldene Speisen, mit Blattgold oder golden gefärbt und von bunten – bevorzugt goldenen – Tellern gegessen, beeindruckten die Kreuzfahrer sehr." (Aus: "Essen - eine Kulturgeschichte des Geschmacks")

Ernährung als Statussymbol

Auch heute hängen Ernährung und sozialer Status zusammen. Indem wir regional-saisonal einkaufen, Slow-Food-Anhänger oder Gourmets sind, drücken wir unsere Lebenseinstellung aus. Und mancher Digital Native versucht es neuerdings mit funktionaler Flüssignahrung.
"Wir sind in Mitte, Torstraße, bei Schröder und Schömbs, eine kleine mittelständische Agentur mit 40 Mitarbeitern. Aus dem Fashionbereich haben wir viele Kunden, dem Getränkebereich, also was man klassisch Lifestyle nennt, wo jeder sich so sein Thema zusammenbaut. Es geht mehr um Bedürfnisse und weniger um Bedarf."
PR-Agent Jan Heinemann berät Kunden in ihrer digitalen Kommunikation, weil Social Media und Influencer für sie immer wichtiger werden. Er sei nicht unkritisch, was den Lifestyle und die Arbeitskultur im Silicon Valley angehe. Seit einigen Jahren achtet der 40-jährige Familienvater stärker auf Ernährung als früher.
"In einer Agentur hat man oft hektische Mittagszeiten, manchmal hat man wenig Zeit, je nachdem wie der Tag durchgetaktet ist. Ich gebe auch zu, manchmal habe ich gar keinen Bock, essen zu gehen, will nicht, weiß aber: Wenn ich jetzt nicht Nahrung zu mir nehme, dann rächt sich das in einer Stunde und ich bekomme schlechte Laune. Deshalb muss ich darauf achten."

Nährstoffaufnahme statt Genuss beim Essen

Heinemann hat Flüssignahrung für sich entdeckt. In den USA löste der Software-Entwickler Rob Rhinehart 2014 mit dem Nahrungspulver-Shake "Soylent" einen Trend aus – der Name angelehnt an die Science-Fiction-Dystopie "Soylent Green" aus den 70er-Jahren. Der Film spielt in einer überbevölkerten Welt, in der Essen knapp geworden ist. Die Menschen halten sich mit einem Proteinkeks am Leben. Erst am Ende findet der sterbende Charlton Heston heraus: Die Kekse werden aus Menschen hergestellt.
"Soylent, was aus dem Silicon Valley aus den USA kommt, das gibt es ja relativ lange. Das fand ich schon sehr fasziniert und habe das schon vor sechs bis sieben Jahren mit meinem Geschäftspartner, den ich damals hatte, diskutiert. Wir fanden das also wirklich spannend."
Soylent oder das Produkt, das Heinemann trinkt, sind rein pflanzenbasiert. Essen – eine jahrtausendalte, kulturell gewachsene Tätigkeit – wird aufgelöst in Zahlen: 37 Prozent Kohlenhydrate, 30 Prozent Fett, 30 Prozent Proteine und drei Prozent Ballaststoffe. Daraus besteht der vollwertige Mahlzeit-Ersatz. Dazu 180 Mikrogramm Vitamin A, fünf Milligramm Vitamin D, zwei Milligramm Mangan, 75 Mikrogramm Molybdän, 20 Milligramm Niacin… Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Sie ergibt, genau berechnet, die elementare Nährstoffzusammensetzung, die der menschliche Körper braucht.
Ein- bis zweimal die Woche, wenn andere zum Mittagessen gehen, geht Heinemann nur kurz zum Kühlschrank. Darin stehen stets ein paar weiße Plastikflaschen mit dem Drink.
Ihm gefällt vor allem die Zeitersparnis und dass es komplett planbar ist, was Kalorien angeht. Der Geschmack sei etwas künstlich, der Konsum nicht unbedingt ein Vergnügen.
"Schmeckt gar nicht so schlecht. Am Anfang habe ich extrem darauf geachtet, wie das Sättigungsgefühl bei diesen Sachen funktioniert. Offensichtlich kann man den Körper austricksen, so fühlt es sich jedenfalls an. Wenn alle Nährstoffe drin sind, signalisiert er: Alles klar, hat gereicht."

Nicht nur Leuten wie ihm, die in stressigen Phasen nur Kaffee trinken, könne der Drink helfen. Heinemann spricht davon, dass mit Flüssignahrung die Welt ernährt werden könnte, ohne Massentierhaltung und Ressourcenverschleiß. Er selbst isst weniger Fleisch als früher.
Rinderfilet mit rohmarinierten Blumenkohl, Kalamansi und pikanten Erbsen
Muskelfleisch, Brust oder Filet sind gefragt. Innereien werden kaum mehr gegessen. © dpa / Rolf Vennenbernd
"Ich muss mich dazu gar nicht doll zwingen. Das passiert, weil man mehr darauf achtet, welches Fleisch man kauft, und dann isst man automatisch weniger. Aber das ist ja vielleicht auch der Weg, der sinnvoll ist, hier sich vom Fetischismus verabschieden."

Der Fleischkonsum wandelt sich

Der Fetisch Fleisch zeigt, wie sich die Bedeutung eines Nahrungsmittels, sein Sozialprestige und damit unsere Ernährungsform im Laufe der Zeit wandelt. Historisch gesehen stand Fleisch für Wohlstand und Männlichkeit, lange galt das Eisbein als Leibgericht der Deutschen. Heute zählt es zu den unbeliebteren Speisen. Stattdessen sind Muskelfleisch, Brust oder Filet gefragt – Innereien und Extremitäten wie Zunge kommen kaum noch auf den Teller. Der Ethnologe Marin Trenk nennt diesen Trend Invisibilisierung – also ein Unsichtbarmachen des Tiers.
Doch auch die Bewertung von Fleisch hat sich gewandelt: Die wohlhabende Schicht versucht, ihren Konsum gering zu halten.
Eine Verabredung mit dem gelernten Metzger und Koch Erwin Seitz zum gemeinsamen Kochen. Mittlerweile verdient er seinen Lebensunterhalt als Gastronomiekritiker und Autor von Büchern wie "Die Verfeinerung der Deutschen".
"Ich halte mich daran, was Mediziner empfehlen, an den Ernährungsstil des Flexitariers. Ich ernähre mich überwiegend pflanzlich, aber so zwei, dreimal in der Woche Fleisch oder Fisch. Ich habe so die 100 Gramm Grenze. A spart man auch da wieder Geld. Und B: Ich muss sagen, das reicht mir vollkommen aus. Da hat man zum Gemüse den Fleischgeschmack dabei. Das macht einem Freude und diese Freude steckt doch wahrscheinlich tief genetisch in einem drin."

Die neue Generation der "nachhaltigen Feinschmecker"

Es gibt Wirsing und Kräutersaitlinge, dazu ein marmoriertes Rib Eye Steak eines Ökometzgers: 200 Gramm zu zweit – für 13 Euro. Beim Discounter kostet das Fleisch weniger als ein Drittel. Seitz ärgert, wenn Menschen als Besseresser verunglimpft werden, die auf Tierwohl und Fleischqualität Wert legen.
"Da schauen die Leute zu kurz. Das ist der nachhaltige Feinschmecker, der sich momentan da entwickelt und aufblüht. Es ist nicht nur der Yuppie und der Typ, der als Symbol der Gentrifizierung gilt. Es sind viele Leute, die keine Superverdiener sind – eher auch ihr Gehalt umschichten, die weniger ausgeben für Auto, für Fernreisen, für technologischen Konsum und die bereit sind, wieder einen Euro mehr auszugeben für ein gutes Fleisch, für sehr gutes ökologisches Gemüse. Aber auch dadurch ist es im Prinzip kein Verzicht, sondern ein Zugewinn an Erlebnis."

Wer nicht im Supermarkt einkauft, sondern am Markt die Jahreszeiten spürt, setze sich automatisch bewusster mit seiner Ernährung auseinander. Seitz nennt das den "nachhaltigen Feinschmecker" und erkennt darin eine Bewegung, die das 21. Jahrhundert noch länger beschäftigen werde. Auch, weil sie der AfD und Klimaleugnern als Feindbild tauge.
Obst und Gemüse an einem Marktstand auf dem Winterfeldplatz in Berlin.
Auf dem Wochenmarkt statt im Supermarkt kaufen, das liegt im Trend: Hier auf einem Wochenmarkt in Berlin.© dpa
"Es ist ein ähnlicher Umschlag wie von der Antike ins Mittelalter, sodass man eine säkulare Welt hat wie die Griechen und Römer. Und plötzlich kommt eine neue Gesellschaft, die einen spirituellen Bezug zu den Dingen sucht. Viele Menschen, und ich gehöre dazu, beunruhigt das industrielle Zeitalter und die starke Umweltverschmutzung und die Treibhausgase und die Klimaerwärmung. Und dann sucht man eben nach Wegen, wie kann man das ändern, wie kann man was besser machen."
Tatsächlich ist der Fleischkonsum kaum spürbar zurückgegangen. Er pendelt seit fast zwei Jahrzehnten um die 60 Kilogramm pro Kopf und Jahr in Deutschland. Immerhin: Das Industriehähnchen und Billig-Schnitzel sind in Verruf geraten.
Das bemerken auch die konventionellen Supermärkte. Mehr als drei Viertel der Deutschen greifen zu Bioprodukten, 25 Prozent davon häufig, 50 Prozent gelegentlich. Die Bioabteilungen werden größer, Waren werden unverpackt angeboten und "regional" gilt als Werbelabel.

Die Deutschen entdecken die Essenskultur

Anders als etwa die Franzosen standen die Deutschen dem Essen lange eher gleichmütig gegenüber. Doch inzwischen hat sich das Fachsimpeln über Zutaten und Garmethoden breitgemacht, die Kochbücher- und Ernährungsratgeberindustrie brummt.
Kochen, Ernährung, Esskultur haben sich seit Jahren zu Megatrends verdichtet. Jeden Tag finden zumindest in deutschen Großstädten irgendwo Kochworkshops, Tastings, Streetfood Märkte und Food-Festivals statt. Berlin gilt inzwischen als Hauptstadt für Foodies. Keine andere Stadt in Deutschland hat soviel Sternerestaurants, keine andere eine so lebendige Restaurant- und Craftmovement-Szene: Hier experimentieren Bäcker wieder mit selbstangesetzten Sauerteigen, Metzger mit Warmschlachten und Mikrobrauereien setzten sich mit Pale Ale und gehopften IPA vom Mainstream ab.

Regionales und Ursprüngliches wiederentdecken

Berlin Gleisdreieck: Angesagte Architekten haben hier vor einigen Jahren ausrangierte Transportcontainer aufeinandergesetzt und daraus ein ultramodernes Brauhaus zusammengeschweißt, das BRLO Brwhouse. Doch im Gegensatz zur typischen Braugaststätte gibt es handwerklich gebraute Craft-Biere. Und statt Schweinshaxe und Schnitzel steht vorwiegend eine Gemüseküche auf der Karte, für die Ben Pommer verantwortlich ist.

Küchenchef Pommer ist heute Gastgeber eines speziellen Dinnerabends: Fünf Gänge von fünf Spitzenköchen, jeder begleitet von einem Bier-Pairing. Zur wiederentdeckten Berliner Weiße, eigentlich ein eigener Braustil für säuerliches Weizenbier, das in der Geschichte aber durch Sirup verunglimpft wurde, hat er einen Gang mit Rosenkohl, Birne und einer Miso-Toffee-Note kreiert. Irgendwann wechselt er ins Englische, weil heute die American Brewers Association zu Gast ist. Deren Chefkoch hat Chilis vom eigenen Garten mitgebracht, die er mit geschmorten Bohnen serviert. Unter den Gästen sitzt Stefan Elfenbein, Food-Journalist beim Magazin "Feinschmecker", der viel in Amerika unterwegs ist. Für ihn kommen Bewegung und neu entdeckte Liebe zum Essen klar aus den USA.
Verschiedene frisch gezapfte Sorten Craft Beer
Selber brauen, selber Gemüse anbauen, selber Käse machen: Überall brauen Kleinstunternehmen und Hobbybrauer ihr eigenes Craft Beer.© dpa / Franziska Gabbert
"Keimzellen sind New York und San Francisco. Alice Waters war die erste, die in den 70er-Jahren gesagt hat: Wir müssen die Sachen zurück auf den Teller bringen, die verloren gehen. Die USA hatte die größte Vielfalt an Produkten in der Welt, weil Emigranten von überall her es mitgebracht haben. Doch in den 70er-Jahren war das, was in den Städten ankam, so ausgedünnt, weil die Großkonzerne entstanden waren, dass es das gar nicht mehr gab. Man hat verstanden, dass Essen das ist, was uns bewegt und was wir auch irgend sind."

Gegentrend zur Gleichmacherei der Lebensmittelindustrie

Die Bewegung ist für ihn mehr als Lifestyle. Sie ist Lebensqualität und eine Gegenentwicklung zur Nahrungsindustrie und ihrer Gleichmacherei von Lebensmitteln.

Von hier ist sie nach Deutschland geschwappt, wo sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Essen wie andere schöne Künste auch zur Kultur zählt. Doch wo andere Künste bei der Auseinandersetzung mit dem entscheidenden Thema unserer Zeit, der Ökologie, versagen, hat die Esskultur eine Antwort gefunden. Auch deshalb taugt sie als Keimzelle einer neuen Lebensweise.
Kürbisse, Pastinaken, Romanesco und Wirsing an einem Messestand auf der Fruit Logistica, Berlin
Alte heimische Gemüsesorten wie Kürbisse, Pastinaken oder Wirsing werden wiederentdeckt.© picture alliance / imageBroker / Björn Kietzmann
Bauern, Köche und Konsumenten haben hierzulande wieder die Ursorten entdeckt, vor allem beim Wurzelgemüse, ebenso die alten Methoden wie Fermentieren und Einwecken. Nach Schwarzwurzeln, Pastinaken, Topinambur und Teltower Rübchen sind nun die uralten Bohnensorten dran, ist sich Elfenbein sicher.
"Der Trend Bohnen ist hier noch nicht angekommen. Doch es ist eine der Basissachen, die in den USA quer durch alle Städte da ist – und zwar erst seit zwei Jahren, seit Trump da ist. Die jungen Leute suchten irgendwas, was für ein gutes Amerika steht, auf dem Teller. Und es war das, was die Siedler gebracht haben, was man quasi hatte, die Oma in irgendeiner Hütte gekocht hat. Man will was Gutes tun, und das tut Trump natürlich nicht."
Vielen ist die Botschaft, die in unserem Essen steckt, vermutlich gar nicht bewusst. Was die Leute spüren, sagt Elfenbein auch, sei eine Sehnsucht nach greifbaren Dingen, weil die Welt immer unübersichtlicher wird.
"Das steckt wirklich dahinter. Es ist in einer Welt, die scheinbar aus dem Lot gekommen ist – auch was Umwelt angeht – wirklich das Gefühl, sich zu erden. Das macht Essen aus."
Hinzu kommt: Unser Leben spielt sich mehr und mehr vor dem Computer im Digitalen ab. Freundschaften werden auf Facebook geführt, Liebe online gelebt. Essen ist eine der letzten Bastionen, die nicht virtuell funktioniert und uns echte, reale Erlebnisse beschert. Vielleicht ist es uns auch deshalb immer wichtiger geworden.

Autorin: Tina Hüttl
Sprecherin und Sprecher: Annika Mauer, Alexander Moritz, Ulrich Lipka
Regie: Frank Merfort
Ton: Inge Görgner
Redaktion: Martin Mair

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