Ermittlerinnen im Kriminalroman

Miss Marple, Chastity Riley und Co.

29:57 Minuten
Margaret Rutherford schaut in ihrer Rolle der Miss Marple durch ein leicht geöffnetes Fenster.
Schrullig, asexuell, privat unterwegs - Miss Marple war lange Zeit der einzige Typ Ermittlerin, den die Kriminalliteratur zu bieten hatte. © imago images / Everett Collection
Von Sonja Hartl · 03.06.2022
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In den Anfangsjahren des Kriminalromans ermittelten hartgesottene Privatdetektive und allenfalls schrullige Amateurdetektivinnen. Inzwischen ermitteln statt häkelnder Damen knallharte Privatdetektivinnen und professionelle Superagentinnen.

Aber durch diese schäbigen Straßen muss ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste und keine Angst hat. Der Detektiv in dieser Art von Story muss so ein Mann sein.

aus Raymond Chandler: "Die simple Kunst des Mordens"

Raymond Chandlers Beschreibung des idealen Privatdetektivs aus dem Jahr 1950 wirkt sich bis heute auf die Kriminalliteratur aus – wer kennt sie nicht, die zahllosen einsamen Ermittler mit gescheitertem Privatleben, die nur ihrer Ehre und ihrem Gerechtigkeitssinn. Ermittlerinnen, sofern es sie überhaupt gab, waren indes in dieser Zeit von einem bestimmten Typ geprägt.

Schrullig und verschroben

Im Jahr 1930 hat Miss Marple in Agatha Christies „Mord im Pfarrhaus“ ihren ersten Auftritt in einem Roman und steigerte ihre Popularität noch durch die Verfilmungen in den 60er-Jahren.

Miss Marple sieht immer alles. Gartenarbeit ist gute Tarnung, und die Gewohnheit, Vögel durch starke Ferngläser zu beobachten, kann stets als Erklärung dienen.

aus Agatha Christie: „Mord im Pfarrhaus“

„'Miss Marple' hat definiert – oder für eine lange Zeit zumindest – wie eine Ermittlerin zu sein hat,“ sagt Thomas Wörtche, Krimi-Experte und Herausgeber einer Krimi-Reihe beim Suhrkamp-Verlag: „Sie ist privat tätig, leicht schrullig und verschroben, was beim Publikum für ein Schmunzeln sorgt, eines meiner Lieblingshasswörter. Das ist Miss Marple und Miss Marple hat dann sozusagen andere Ermittlerinnen generiert. Das tut sie bis auf den heutigen Tag.“
„Ich habe bei Miss Marple nie wahrgenommen, dass sie weibliche Lebenswelten für das Genre aufarbeitet, um sozusagen die große Erzählung des Genres zu ergänzen“, meint Else Laudan, die bei Argument Ariadne seit 1989 feministische Kriminalromane verlegt.

Professionelle Ermittlerinnen

Miss Marple ist wie die meisten Ermittlerinnen bis in die 60er-Jahre eine Amateur-Ermittlerin. Eine der ersten professionellen Ermittlerinnen ist die New Yorker Polizistin Christie Opera von der US-amerikanischen Autorin Dorothy Uhnak, die selbst als Polizistin gearbeitet hat.

Reardon erachtete es bereits für ein großes Kompliment, sie als einzige Frau in seine 17 Mann starke Abteilung aufgenommen zu haben. Es war das einzige Kompliment, zu dem er sich aufraffte.

aus Dorothy Uhnak: „Mädchenmord mit Voranmeldung“

Vier Jahre später erscheint von der britischen Autorin P.D. James der erste Band mit der Privatdetektivin Cordelia Gray, die nach dem Tod ihres Kollegen das Detektivbüro alleine weiterführt.

Sie werden sich wohl nach einer anderen Arbeit umsehen? Schließlich können Sie das Büro kaum auf eigene Faust weiterführen. Das ist doch kein Beruf für eine Frau.

aus: P.D. James: „Ein reizender Job für eine Frau“

Stereotype auf den Kopf gestellt

Mit Sara Paretsky, Sue Grafton und Liza Cody habe sich dann eigentlich alles verändert, sagt Else Laudan, „weil sie sich die absolute Männerdomäne innerhalb des Genres jenseits von britischem Landhaus und sonst was, nämlich den Mean-Streets-Hardboiled-Kosmos angeeignet haben und zwar mit taffen Frauen, die eine weibliche Realität in das Genre, einen weiblichen Alltag und weibliche Konflikte mit reinbringen.“
Eine dieser Figuren ist V.I. Warshawski von Sara Paretsky. „Im amerikanischen Noir ist eine Frau, die sexuell aktiv ist, fast immer der Bösewicht oder sie wird ermordet oder beides“, sagt die Autorin, die seit 1982 über 20 Kriminalromane mit der Chicagoer Privatdetektivin V.I. Warshawski vorgelegt hat.

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„Eine Frau, die kein Sexualleben hat, ist unschuldig, aber sie kann keine Probleme lösen, kann kaum ihre Schuhe ohne Aufsicht zubinden. Es war ein Affront, diese Stereotypen über Frauen zu haben – und ich wollte eine Figur schaffen, die diese Stereotypen auf den Kopf stellt.“
Eine Frau liegt auf einer Wiese und liest ein zerfleddertes Buch mit dem Porträt von Sue Grafton auf dem Umschlag.
Sue Grafton gehörte zu den ersten Autorinnen, die die kriminalliterarische Männerdomäne aufbrachen.© Getty Images / Corbis / Mark Peterson
Autorinnen wie Sara Paretsky oder Sue Grafton greifen mit ihren Detektivinnen die Stereotype an, nach denen Frauen im Kriminalroman Opfer oder Täterin zu sein hatten, allenfalls noch einem männlichen Helden assistieren durften.
Thomas Wörtche sagt: „Sie haben gezeigt, dass man die gleichen Kriminalromane schreiben kann mit Frauen als Protagonistinnen, also mit positiven Ermittlerfiguren, mit Privatdetektivinnen, ohne grundsätzlich an der Erzählkonvention Privatdetektivroman zu rütteln, mit allem, was da auch neuralgisch sein mag, also dass der Täter der gerechten Strafe zugeführt wird und ähnliches."

Taffe Frauen statt einsamer Wölfe

„Wer sind Sie nun eigentlich, verdammt noch mal?“
„Ich heiße V.I. Warshawski, bin Privatdetektivin und untersuche den Mord an Peter Thayer."
Ich überreichte ihm meine Visitenkarte.
„Sie? Sie sind doch genauso wenig Detektivin wie ich Ballettänzerin bin", rief er aus.
„Es müsste sehr reizvoll sein, Sie in Trikot und Tutu zu sehen“, konterte ich, während ich die Plastikhülle mit der Fotokopie meiner Zulassung als Privatdetektiv hervorzog.

aus Sara Paretsky: „Schadenersatz“

„Ich liebte immer schon diese Privatdetektive, diese hardboiled-Typen, die irgendwie nirgends dazugehören und immer außen vor sind“, sagt Else Laudan. "Als Frauen finde ich die noch stärker, zumal Frauen meistens eine andere Art von Nirgends-Dazugehören haben. Sie haben meistens ein stärkeres soziales Geflecht, zu dem sie gehören, viele Loyalitäten und sind nicht ganz so die einsamen Wölfe wie die Jungs.“
Anfangs wurden die Autorinnen und ihre taffen Figuren kaum ernst genommen. Sara Paretsky gründete deshalb 1986 „Sisters in Crime“, die erste Vereinigung von Krimi-Autorinnen.
Mittlerweile sind weder harte Ermittlerinnen noch engagierte Autorinnen wegzudenken aus der Kriminalliteratur. Zu ihnen gehört auch die Britin Liza Cody mit ihrer unvergleichlichen Eva Wylie. Sie ist Catcherin und lebt auf einem Schrottplatz.
„Eva Wylie ist so wunderbar rotzig“, findet Else Laudan: „Eva Wylie ist auf eine hinreißende Weise ein Stück weit die Stimme des Volkes, aber gleichzeitig die wehrhafte Frau. Und in dieser Kombination eine tolle Kunstfigur und auch unglaublich konsequent.“

"Ich fand Frauen interessanter"

In der deutschsprachigen Kriminalliteratur gibt es in den 80er- und 90er-Jahren eine ähnliche Entwicklung wie in den USA und in Großbritannien: Autorinnen konzipieren neue Figuren.
Bella Block hat 1988 ihren ersten Auftritt. „Als ich anfing, Krimi zu schreiben, wollte ich keinen Mann als Hauptfigur“, sagt Doris Gercke, die Schöpferin von Bella Block, die 1993 auch Heldin einer Fernsehserie wurde.

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Sie hat mit ihrer Ermittlerin sowohl im Fernsehen als auch in der Literatur einen anderen Frauentypus etabliert. „Die Frauen, die ich bis dahin in Kriminalromanen gelesen hatte, folgten immer dieser ganz einfachen Formel: Die waren alle blond, langbeinig und blöd. Dieses Frauenbild wollte ich verändern. Ich fand Frauen interessanter. Ich fand sie auch irgendwie unkonventioneller, nicht so festgelegt wie diese Männer in den Kriminalromanen.“
Im Still aus "Bella Block" steht Hannelore Hoger in einem schwarzen Mantel auf einem Steg, hinter ihr ist ein See zu sehen.
Doris Gercke fand Frauen interessanter, weniger festgelegt als die Männer in der Kriminalliteratur - und erdachte prompt die Figur der Bella Block.© picture alliance / dpa / ZDF / Hardy Brackmann
Die sogenannten „Frauenkrimis“ waren erfolgreich. Viele Verlage legten sich in den 80er- und 90er-Jahren eigene „Frauenkrimi“-Reihen zu. Schon bald entstanden Diskussionen über diese Bücher.
Doris Gercke sagt über ihre Bella Block: „Ich habe von Männern oft gehört, dass sie die brutal finden. Fand ich nicht. Ich fand, die hat sich je nach Situation verhalten und in einigen Situationen verhält man sich eben so, wie es nötig ist. Und wenn das brutal ist, dann ist es brutal. Fiel vielleicht auf, weil es eine Frau war.“

Gewalt und Sex - das alte Problem

„Ermittlerinnen können genauso gewalttätig sein wie Ermittler", ergänzt Thomas Wörtche. "Interessant ist, welcher Grad von Gewalt toleriert wird oder wo es dann heißt 'Frauen machen so was nicht'."
Gewalt ist andererseits ein Merkmal der Kriminalliteratur. Es sei diese Schizophrenie, die man oft habe, dass dasselbe Publikum, das begeistert Blutströme von Herrn Fitzek und Co konsumiere, dann plötzlich schreie: „Das ist mir zu gewalttätig“, wenn das Frauen sind, die die Gewalt ausüben. Gewalt gegen Frauen wird offenbar eher toleriert als Gewalt, die Frauen ausüben. Auch die sexuelle Autonomie von Bella Block wurde immer wieder kritisiert.

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Ähnliche Reaktionen kennt auch Simone Buchholz, die Schöpferin der Staatsanwältin Chastity Riley: „Die verhält sich ja wie ein Mann. Die trinkt ja wie ein Mann, die raucht ja wie ein Mann und die hat Sex wie ein Mann.“
Die Erwartung, dass sich Riley langfristig binden soll, kennt Simone Buchholz im Gegensatz zu Doris Gercke nicht, wie sie erzählt: „Ich glaube, da sieht man tatsächlich den Generationenunterschied zwischen Doris Gercke und mir, beziehungsweise zwischen Bella Block und Chastity Riley. Das traut sich keiner mehr, das läuft subtiler, etwa über: Muss die so viel rauchen und trinken? Kann die nicht lieber trockene Alkoholikerin sein und Sport machen? Wieso kämmt die sich nicht mal die Haare?“

Qualitäten, die ihre Kollegen nicht haben

Ein ganz anderer Typus als Riley ist die hochprofessionelle, blinde Elitepolizistin Jenny Aaron, eine Schöpfung von Andreas Pflüger.
„Die Entscheidung, ob ich eine Frau oder einen Mann als Hauptperson wähle, wird bei mir durch das Umfeld des Romans oder auch des Films entschieden. Bei Jenny Aaron war es ganz klar so, dass sie sich in so einer Testosteron-Sauna bewegt, lauter Machos um sie herum, diese Welt der Sicherheitsarchitektur, die extrem männergeprägt ist. Mich hat gereizt, diese Frau in diese Welt hineinzubringen, weil sie sich an dieser Welt reiben kann.“
Seit den Zeiten von V.I. Warshawski und Bella Block sind die Typen von Ermittlerinnen vielfältiger geworden: Sie sind Kämpferinnen und Rächerinnen, sie sind Polizistinnen, Privatdetektivinnen, Kampfmaschinen, sie sind Opfer, sie sind Täterin – und oftmals mehreres zugleich.
Es sind vor allem diese Figuren, die in der Kriminalliteratur Trends setzen: die harten Privatdetektivinnen der 80er-Jahre, die Rächerinnen der 00er-Jahre, die Polizistinnen und Staatsanwältinnen der Gegenwart. Inzwischen sind Ermittlerinnen sogar beliebter als Ermittler. Sie klären auf, rächen, töten und retten. Und sie haben Qualitäten, die ihre Kollegen nicht haben.
„Ermittlerinnen haben häufig eine sehr präzise Wahrnehmung von sozialen Verknüpfungen, von Hierarchien, von verschiedenem Auftreten, Sprachgestus und Sinn für Macht", sagt Else Laudan. "Männer haben die blinden Flecken der Poleposition, das heißt, sie sind einfach in Gesellschaft das Maß aller Dinge. Frauen sind das nicht, und infolgedessen nehmen sie andere Dinge wahr und hinterfragen andere Dinge.“
Und Simone Buchholz ergänzt: „Als Ermittlerin hat sie immer die Chance, mit einer gewissen Distanz drauf zu schauen. Das heißt, sie ist in der Lage, die Strukturen zu sehen, sie sieht sie aber als Frau. Und als Ermittlerin.“
(DW)

Mitwirkende: Eva Meckbach und Stephanie Eidt
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Dorothea Westphal

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