Historischer Frieden sorgt für Aufbruch
Nach Jahrzehnten der Feindschaft unterzeichneten Eritrea und Äthiopien im Juli einen historischen Friedensvertrag. Seit September sind die Grenzen wieder geöffnet. Der Handel blüht auf, es gibt Hoffnung auf ein Ende der massenhaften Abwanderung.
Ein leerer Pferdekarren schiebt sich mitten durch das Gewühl. Hunderte Menschen drängen sich zwischen hoch beladenen Lkw. Auf bunten Plastikplanen sind getrocknete Chilis ausgebreitet, Säcke mit Mehl, Kartons voller Kekse und Nudeln.
Kibrom schüttet Hirse auf eine altmodische Waage und packt die Körner für seinen Kunden ein, gleich daneben wartet schon der nächste. "Die Leute hier in Asmara sind sehr daran interessiert, von mir zu kaufen", sagt er.
Kibrom stammt aus dem Norden Äthiopiens. Zwei Tage zuvor hat er einen Truck mit Kichererbsen, Bohnen und Hirse beladen und ist über die Grenze nach Eritrea gefahren – zum Verkauf in der Hauptstadt: "Das sind alles Grundnahrungsmittel. Die Nachfrage danach ist riesig in Eritrea."
Meron Grmai ist auf den Markt gekommen, um Teff zu kaufen. Aus der Hirseart wird Injera gemacht – das Nationalgericht sowohl in Äthiopien als auch in Eritrea. Teff gibt es auch anderswo in Asmara, sagt er, aber:
"Hier ist es billiger, weil das Angebot größer ist. 100 Kilo haben sonst 5000 Nakfa gekostet. Jetzt sind es nur noch 2500."
Knapp 145 Euro, halb so viel wie früher. Da war der geschäftige Marktplatz mit den vielen Lkw aus Äthiopien nur eine leere Wiese. Bis Mitte September die Regierungschefs der beiden Nachbarländer ihre Landgrenzen wiedereröffnet haben.
Seit 1960 nur sieben Jahre Frieden
"Unsere Streitkräfte werden sich ab heute von der Grenze zurückziehen und die angespannte Kriegssituation dort deeskalieren. Sie werden in ihre Camps zurückkehren, sich erholen und trainieren. Das Gleiche wird auch auf der eritreischen Seite geschehen."
So der äthiopische Premierminister damals. Abyi Ahmed hatte nach seinem Amtsantritt im April überraschend einen internationalen Schiedsspruch über den Grenzverlauf zwischen Äthiopien und Eritrea anerkannt und damit das Ende von 20 Jahren Krieg möglich gemacht.
"Die Unterzeichnung des Friedensvertrages ist in der Tat ein historisches Ereignis. Wir haben gesehen, wie ein jahrzehntealter Konflikt zu Ende gegangen ist. Und in einer Welt, in der sich Konflikte unglücklicherweise vervielfältigen und viele ewig anhalten, hat das eine große Bedeutung", lobte UN-Generalsekretär Antonio Guterres enthusiastisch.
Für das kleine Eritrea, das 30 Jahre lang für seine Unabhängigkeit von Äthiopien gekämpft hat, ist der Friedensvertrag noch wichtiger, erklärt Informationsminister Yemane Ghebremeskel:
"Ich glaube nicht, dass ich die Worte finden kann, um auszudrücken, was das für uns bedeutet. Seit 1960 gab es nur sieben Jahre Frieden in Eritrea. Wir haben viel verloren in wirtschaftlicher Hinsicht, an Menschenleben, an Chancen. Eritrea ist ein kleines Land und kann nur in einem friedlichen Umfeld überleben."
Das große Geschäft machen Händler aus Äthiopien
Auf dem Markt in Asmara quetscht sich ein frisch eingetroffener Laster aus Äthiopien in eine schmale Parklücke. In Windeseile entlädt der Fahrer ein paar große Säcke mit Nudeln und preist lautstark seine Ware an. Teke stöbert interessiert durch die Kartons. Der Händler hat einen kleinen Lebensmittelladen in der Innenstadt und sucht nach Vorräten.
"Ich kann hier günstiger einkaufen und deshalb auch billiger verkaufen", erklärt er. Nudeln zum Beispiel kosten bei ihm neuerdings nur noch ein Drittel ihres alten Preises.
"Deshalb ist der Frieden wichtig. Die Menschen können friedlich leben und Handel treiben. Der Lebensstandard in Eritrea wird steigen, weil alles so billig ist."
Eine große Hoffnung in einem Land, in dem geschätzt nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung einen - oft schlecht - bezahlten Job hat. Der neue Markt bietet die Chance auf ein paar Nakfa extra.
Sandwiches, Sandwiches, ruft ein kleiner Junge. Auf dem Kopf trägt er eine durchsichtige Plastikschüssel mit belegten Broten, die er der Menschenmenge zum Kauf anbietet.
Etwas abseits vom Gewühl hat Eyob eine Plane aufgespannt. In ihrem Schatten serviert er frisch gekochten Tee und lauwarme Limonade. Eigentlich arbeitet er im Gesundheitsministerium, aber heute hat er sich einen halben Tag freigenommen:
"Das Großartigste ist natürlich, dass zwei Völker jetzt wieder zusammenkommen. Aber unsere Regierung hat auch die Gelegenheit für die Leute geschaffen, kleine Geschäfte zu machen."
Das große Geschäft machen im Moment allerdings vor allem die Händler aus Äthiopien. Die Grenze ist offen, Kontrollen gibt es derzeit genauso wenig wie Zölle auf die Waren. Aber auf die Dauer wird sich das ausgleichen, sagt der Informationsminister:
"Wir haben Dienstleistungen anzubieten und Industrieprodukte. Der Handel wird nicht nur in eine Richtung gehen. Wenn die Wettbewerbsbedingungen fair sind, mache ich mir keine Sorgen. Wir werden von mehr Handel mit Äthiopien und von mehr Investitionen profitieren, und ich denke, Äthiopien auch."
An erster Stelle steht da der Zugang zum Roten Meer, der Äthiopien fehlt. Bisher mussten Überseeimporte für teure Gebühren über Djibuti herangeschafft werden. Jetzt hat Eritrea seine Häfen wieder für äthiopische Schiffe geöffnet.
Noch ist der Containerhafen in Eritrea leer
Träge schwappen die Wellen an die Kaimauer in Massawa. Ein paar Seevögel kreisen um die bewegungslosen Ladekräne. Im ganzen Containerhafen liegt kein einziges Schiff vor Anker.
Maaltug Shefiq sitzt im Schatten und schaut aufs Meer. Er ist Schweißer, aber im Moment ist nicht viel zu tun. Das wird sich bald ändern, hofft er:
"Wir erwarten nicht nur, dass mehr Schiffe herkommen, sondern auch Waren aus aller Welt. Wir sind voller Hoffnung. Wenn Frieden herrscht, ist alles möglich. Jetzt wollen wir, dass unsere Leute eine gute Bildung bekommen, dass unsere Wirtschaft wächst und floriert. Wir wollen alles."
Maaltug Shefiq hat für die Unabhängigkeit Eritreas gekämpft und weiß, was Krieg bedeutet. In Massawa war es besonders schlimm. In der verschlafenen Altstadt stehen immer noch zerschossene Gebäude und verkohlte Ruinen, die nie wieder aufgebaut wurden.
"Krieg bringt nur Zerstörung. Und wegen des langen Krieges ist hier nichts getan worden. Aber jetzt erwarten wir Entwicklung. Alles Gute kommt mit dem Frieden. Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln und das Land entwickeln."
Nicht nur der Hafen soll Wohlstand nach Massawa bringen. Die Menschen hoffen auch auf Touristen aus dem Ausland
Familien wachsen wieder zusammen
Mittagszeit im Dahlak-Hotel. Der palastartige Bau mit seiner historischen Architektur ist riesig, aber weitgehend leer. Im überdachten Freiluft-Restaurant direkt am weißen Strand von Massawa spielen drei kleine Mädchen Fangen um die Tische
Die meisten sind unbesetzt. Ein paar Nachbarn aus der Altstadt sind zum Essen gekommen und eine Touristin. Bemnat Fiseha lebt in Addis Abeba und entspannt sich drei Tage am Strand, bevor sie nach Asmara weiterreist:
"Ich muss meine Familie besuchen. Mein Vater wurde bei Asmara geboren. Ich will seine Mutter sehen und seine Schwestern. Und seine Familie kann später zu Besuch zu uns kommen. Das ist eine so große Chance für uns."
Bemnat Fiseha war zehn, als sie das letzte Mal im Heimatland ihres Vaters war und kann sich kaum noch daran erinnern. Aber jetzt ist sie so begeistert, dass sie bei ihren Freunden und Verwandten kräftig Werbung für Eritrea macht:
"Ich erzähle ihnen, wie schön Massawa ist und lade sie ein. Ich schicke ihnen ständig Bilder von hier und später von Asmara. Sie sind schon ganz neidisch."
Zayid Haileselasie träumt ebenfalls davon, ihre Brüder und Schwestern wiederzusehen – zum ersten Mal seit 27 Jahren. Die zierliche Frau mit dem grünen Kopftuch lebt als einzige aus ihrer Familie in Eritrea. Jeder Kontakt nach Äthiopien war schwierig, Besuche unmöglich – bis zum Friedensvertrag:
"Ich hab mich großartig gefühlt. So glücklich wie noch nie. Denn Menschen brauchen Essen und Trinken, aber noch mehr brauchen sie Frieden. Alles andere bedeutet nichts ohne Frieden. Und jetzt können wir wieder gemeinsam an einem Tisch essen, nach über 20 Jahren."
Wie sie das Geld für die Reise nach Äthiopien aufbringen soll, weiß Zayid noch nicht. Als Zimmermädchen im Dahlak-Hotel verdient sie gerade genug für das Nötigste. Aber im November wird sie fahren, sagt sie, egal wie schwierig es sein mag.
Traditionelles Orakel: Es wird ein gutes Jahr für Eritrea
Frommer Gesang auf dem großen Versammlungsplatz in Asmara. Jugendliche in roten, blauen, grünen und gelben Umhängen – den eritreischen Landesfarben – singen andächtig zum Mesqel-Fest.
Es erinnert an die Wiederentdeckung des Kreuzes Christi und ist ein hoher Feiertag in der orthodoxen Kirche. Ein Familienfest wie anderswo Weihnachten. Und in diesem Jahr etwas ganz besonderes, sagt Samuel Habte:
"Mitglieder meiner Familie sind aus Äthiopien nach Asmara gekommen - nach 20 Jahren. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie glücklich ich bin. Ich fühle mich, als hätte ich Teile meines Körpers wiedergefunden, die amputiert waren."
In einer langen Prozession ziehen die Gläubigen auf den bunt geschmückten Platz: Kleine Kinder ganz in weiß schwenken farbige Luftballons. Frauen in traditionellen Gewändern tanzen zum Klang einer Trommel.
Tausende Zuschauer drängen sich auf einer riesigen Tribüne und hinter Absperrungen. Darunter auch Aberash Weldu, Samuels Cousine aus Äthiopien.
"Es war schwer zu glauben, ob der Frieden Wirklichkeit ist oder nicht. Erst jetzt, wo ich hier bin, ist mir klar, dass er real ist."
In der Mitte des Platzes geht ein hoher, mit weißem Tuch umwickelter Holzstoß in Flammen auf. Der Höhepunkt der Feier und eine Art Orakel, das davon abhängt, in welche Richtung der Stapel am Ende umfällt.
Das brennende Holz kippt auf die richtige Seite – es wird ein gutes Jahr für Eritrea. Daran glauben die meisten Menschen ohnehin schon fest – wie Ftsum Hasen:
"Das Beste ist, dass der Frieden gekommen ist. Wir haben Hoffnung. Ich erwarte eine Menge für mich und für die künftigen Generationen. Die Regierung plant schon viele Projekte – für die Bildung, das Gesundheitssystem, die Wasserversorgung."
Jeden Monat fliehen 4000 junge Eritreer ins Ausland
Viel mehr als Pläne ist das bisher nicht, befürchtet dagegen Thomas, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. Von Reformen in Eritrea hat er bisher nicht viel gesehen, sagt er:
"Die Regierung hat sich jetzt mit den Nachbarländern versöhnt, aber nie mit dem eigenen Volk. Viele Politiker wurden verhaftet. Die Leute haben Angst, öffentlich ihre Meinung zu sagen. Die Regierung ist sehr unnachgiebig. Diktatorisch."
Die Unterdrückung, die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen und vor allem der endlose Nationaldienst treiben nach UNHCR-Angaben jeden Monat etwa 4000 junge Menschen in die Flucht ins Ausland. Ob sich daran nach dem Friedensschluss etwas ändern wird, das lässt der Informationsminister im Vagen:
"Der Nationaldienst dauert laut Gesetz 18 Monate. Er wurde verlängert wegen des Krieges. Ich sage nicht, dass das keine Belastung für die Betroffenen bedeutet. Aber wenn es Frieden gibt, sind es 18 Monate. Wann das umgesetzt wird, hängt von den Umständen ab, aber das Gesetz ist unzweideutig und ganz klar."
Welche Umstände das sind, ob sie überhaupt etwas mit dem Frieden zu tun haben und wie lange eine mögliche Umstellung auf 18 Monate Nationaldienst dauern könnte, sagt Yemane Ghebremeskel nicht. Für ihn verlassen die meisten jungen Leute Eritrea ohnehin aus wirtschaftlichen Gründen. Aber das wird sich ändern:
"Ich bin sicher, dass sich mit dem Frieden auch die wirtschaftliche Situation stark verändern wird in den kommenden vier bis fünf Jahren. Der Arbeitsmarkt, die Einkommen werden sich verbessern und das reduziert den Anreiz, nach Übersee zu gehen."
Nach der Öffnung der Grenzen zu Äthiopien sind die Zahlen der Flüchtlinge erst einmal gestiegen. Aber falls die erhofften Veränderungen in Eritrea kommen, könnte das tatsächlich anders werden. Die 20-jährige Mesiam Kibrom zum Beispiel will Eritrea auf keinen Fall verlassen, obwohl bereits einige ihrer Verwandten im Ausland leben. Sie würde die Familie lieber vereint in Asmara sehen
"Niemand hat gedacht, dass es diesen Frieden geben würde, aber jetzt hat er den Leuten Hoffnung gegeben. Das ist doch die Veränderung, die wir alle wollten. Die Eritereer, die überall verstreut sind – ich wünsche mir, dass sie in ihr Land zurückkehren und ein neues Leben aufbauen mit ihren Verwandten, ihren Schwestern und Brüdern."