Erinnern an das Grauen

Die deutsche Erinnerungskultur gilt weltweit als vorbildlich. Ob diese auch künftig tragfähig sein kann, hinterfragen die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider in einem höchst lesenswerten Buch.
Stolpersteine, Mahnmale, Gedenkveranstaltungen: Das Erinnern an Opfer des Nationalsozialismus gestaltet sich in Deutschland vielfältig und – vergegenwärtigt man sich beispielsweise das Berliner Holocaust-Mahnmal – buchstäblich flächendeckend. Deutsche Erinnerungskultur gilt weltweit als vorbildliches Modell.

In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik wäre Dergleichen kaum möglich gewesen. Dass die Bedeutung des Erinnerns von Volksvertretern in Politik und Medien nahezu inflationär beschworen, öffentlich zelebriert und rituell angemahnt wird, löst allerdings auch Unbehagen aus. Ob diese Erinnerungskultur auch künftig tragfähig sein kann, hinterfragen nun in einem höchst lesenswerten Buch die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider.

Sie untersuchen die gängigen Praktiken des Erinnerns, ihnen zugrunde liegende psychologische und geistesgeschichtliche Muster, die Entwicklung des Begriffs der Trauerarbeit und alternative Ansätze, mit dem Geschehen des Holocaust umzugehen. Dabei fördern sie interessante Sachverhalte zutage, die unbedingt dazu auffordern, die Praxis derzeit üblicher Erinnerungskultur zu überdenken. Das Buch ist eine Anleitung zu einem gesamtgesellschaftlichen Projekt.

Maßgeblich für die Erinnerungspolitik in Deutschland erscheint den Autoren die Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, gehalten 1985 vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Erinnerung an die Opfer der Shoah bringt er darin in Zusammenhang mit dem theologischen Begriff der Erlösung. Daraus lasse sich ableiten, "wer nur aufrichtig und intensiv genug an die deutschen Massenverbrechen erinnert, der darf auf Versöhnung, ja auf Erlösung von der überlieferten Schuld hoffen" - für Jureit und Schneider eines der zentralen Missverständnisse deutscher Gedenkpraxis. Sie kritisieren den Kurzschluss zwischen einem religiösen Heilsversprechen und dem Prozess säkularer Vergangenheitsbearbeitung, die irrige Vorstellung ein monströses Verbrechen könne durch fleißiges Erinnern ungeschehen gemacht werden.

Desweiteren beschreiben sie ausführlich, wie es dazu kam, dass dieses Erinnern vor allem geprägt ist durch die Identifikation mit den Opfern – in den Augen der Autoren Folge einer anmaßenden Selbststilisierung der Kriegs-und Nachkriegskinder, Kennzeichen der sogenannten 68er, die sich derart von ihren Eltern, der Tätergeneration, distanzieren wollten. Auf die bizarren Folgen weisen sie am Beispiel des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer hin: Die Erfahrung von Auschwitz – die seine persönliche nur in der Projektion sein kann – machte er bei der Entscheidung zur NATO-Intervention im ehemaligen Jugoslawien "zur ethischen Begründung" des ersten deutschen Kriegseinsatzes nach 1945.

Die Autoren kritisieren, dass sich im Laufe der letzten Jahrzehnte kaum mehr hinterfragte Ver- und Gebote entwickelt haben. Die viel zitierte "Trauerarbeit", betont Christian Schneider, könne nur individuell geleistet werden, basiere auf einem Gefühl, nicht auf Moral. Überhaupt habe Trauer das Ziel, einen Verlust zu akzeptieren, nicht ihn ständig zu beklagen oder zu wünschen, es möge alles nicht gewesen sein. Den Autoren geht es um einen realistischen Blick der Deutschen auf ihre Vergangenheit. Darum, "anzuerkennen, dass es so gewesen ist, wie es war – samt dem Eingeständnis, dass dabei retrospektiv das Wünschen nicht helfen kann".

Ulrike Jureit und Christian Schneider argumentieren historisch und psychologisch überzeugend. Ihre Gedanken zu den "Illusionen der Vergangenheitsbewältigung", so der Untertitel ihres Buches widersetzen sich politischem Mainstream und moralischer Selbstgefälligkeit. Ihr Ziel ist nicht keine wie auch immer geartete Normalisierung historischer Verbrechen, sondern eine notwendige Aufklärung all derer, die sich mit der Erinnerung daran auseinandersetzen.

Besprochen von Carsten Hueck

Ulrike Jureit und Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung,
Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 253 Seiten, 21,95 Euro

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Interview mit Ulrike Jureit
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