"Jede Generation muss ihre eigenen Fragen stellen"

Ulrike Jureit im Gespräch mit Ulrike Timm · 29.07.2010
Es gebe die Tendenz, Formen des opfer-identifizierten Erinnerns auch für künftige Generationen festschreiben zu wollen. Dies sei der falsche Weg, sagt Ulrike Jureit, Historikerin und Autorin des Buches "Gefühlte Opfer". Sie hält eine stärkere Auseinandersetzung mit den "Mustern von Täterschaft und Tat" für sinnvoll.
Ulrike Timm: Die historische Schuld, die in der Erinnerung wohl für immer am stärksten auf den Deutschen lasten wird, das ist der Holocaust. Insbesondere in den Nuller- und Fünfer-Jahren bemüht man sich, der damit verbundenen historischen Verantwortung gerecht zu werden. In diesem Jahr gab es zum Beispiel viele Gedenkveranstaltungen zur Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten. Und es gibt Meilensteine in dieser Gedenkkultur, etwa die Rede, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 hielt. Er sagte da unter anderem:

Richard Weizsäcker: Es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb, von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte. Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

Timm: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung, damit zitierte Richard von Weizsäcker ein jüdisches Sprichwort. Wie sich Schuld, Verantwortung, Erinnerung mit unserer Gegenwart verklammern – darüber hat die Historikerin Ulrike Jureit geforscht. "Gefühlte Opfer", so heißt ihr gerade erschienenes Buch. Frau Jureit, ich grüße Sie!

Ulrike Jureit: Guten Tag!

Timm: Wäre das überhaupt wünschenswert, dass wir das könnten – die Vergangenheit aufarbeiten und mit dem Holocaust durch sein, ihn aufgearbeitet haben? Also mir gruselt es ehrlich gesagt dabei.

Jureit: Nein, darum kann es natürlich gar nicht gehen. Es geht nicht darum, danach zu fragen, wann sind wir endlich fertig damit, sondern es geht erst mal darum, danach zu fragen, wie sind wir da hingekommen, wo wir jetzt sind? Und da lassen sich doch bestimmte Entwicklungen ausmachen. Wir haben heute ein grundlegendes Erinnerungsmuster, das sich darauf konzentriert, dass wir den Opfern gedenken, dass wir uns auch zu einem erheblichen Teil mit den Geschichten, mit den Leidenserfahrungen der Opfer identifizieren. Das ist ein Muster, dass sich seit den 1960er-, 70er-Jahren in Deutschland entwickelt hat, und es stellt sich mittlerweile ja schon die Frage, inwiefern solche Erinnerungsmuster 40 Jahre später, also jetzt, aktuell, tatsächlich noch adäquat sind, angemessen sind, denn wir müssen ja bedenken, dass sich unsere Gesellschaft in diesen letzten 50 Jahren doch ja auch sehr stark verändert hat.

Timm: Wenn es Stationen, Veränderungen in der Erinnerung gibt, dann war eine Station sicher diese Rede, in der Weizsäcker von Befreiung auch für die Deutschen durch die bedingungslose Kapitulation der Nazis sprach. Das war ja damals zum Beispiel gar nicht unumstritten.

Jureit: Sicherlich, das war ja sogar sehr umstritten. Er hat mit dieser Rede ohne Zweifel eine wirklich starke Zäsur gesetzt. Das ist ja auch in der Rezeption hinterher sehr stark anerkannt worden, aber er hat eben auch mit dem Zitat dieses Sprichwortes oder dieser jüdischen Tradition, ja, zumindest, denke ich, zu einem gewissen Missverständnis beigetragen, nämlich, dass es immer mehr Erinnerung bedarf, damit man sich so einem Zustand wie Erlösung annähern kann. Und ich denke, wir müssen heute doch feststellen, dass wir ja in Deutschland in den letzten sagen wir mal 20, 30 Jahren doch ein sehr starkes Engagement sowohl staatlicherseits als auch zivilgesellschaftlicherseits für die Erinnerung des Holocaust aufgebracht haben, und das verquickt sich doch ein bisschen auch mit diesem Zitat, das Weizsäcker vorgebracht hat, denn mittlerweile hat man doch das Gefühl, ja, wir sind da doch irgendwie in eine Sackgasse geraten. Da entsteht ein Unbehagen, dass wir eventuell doch erwarten, durch immer mehr Erinnerungsprojekte, durch immer mehr Gedenken diese Schuld irgendwie loswerden zu können, und das ist natürlich letztlich, wenn man es mal distanziert betrachtet, abwegig.

Timm: Ist das aus deutscher Sicht nicht entschieden zu viel verlangt, dass die Erinnerung erlösen soll? Das ist ja eine religiöse Kategorie. Mit welchem Recht?

Jureit: Das ist schon ganz richtig, das stammt ja aus dem religiösen, jüdischen Kontext, und wir haben das in unsere Zivilgesellschaft sozusagen transferiert und haben das in Anspruch genommen. Und natürlich ist es abwegig, zu glauben, dass es so etwas wie Erlösung geben kann. Wir haben ja auch eine völlig andere generationelle, ja, Situation momentan. Ein wachsender Anteil der Bevölkerung hat gar keinen familiären Bezug zu dieser Geschichte oder doch nur einen sehr entfernten, und wir müssen uns schon fragen: Was sind das für Herausforderungen und werden wir diesen Herausforderungen eigentlich gerecht, wenn wir immer wieder doch sehr stark uns auf diese opferidentifizierte Erinnern fokussieren?

Timm: Aber wie könnten wir ihm denn gerecht werden? Sie sprachen vom Gedächtnistheater im Zusammenhang zum Beispiel mit dem Holocaust-Mahnmal – sicher eine Inszenierung, aber wenn man diese Inszenierung nicht mehr hat, dann verliert man auch die Form und dann wird natürlich schnell vergessen. Was wäre denn die Alternative?

Jureit: Es geht uns nicht um einzelne Projekte, zu sagen, also das ist jetzt der falsche Weg, das ist die falsche Form, sondern die Frage ist: Aus welchem grundsätzlichen Muster heraus betrachten wir eigentlich die Geschichte und besonders die Geschichte des Holocaust? Und da sind wir zu dem Ergebnis gekommen: Das ist ziemlich stark von opferidentifizierten Mustern geprägt, und es wäre doch wünschenswert, gar nicht diese Formen aufzugeben, darum geht es gar nicht, sondern sie zu erweitern und zu sagen: Ja, das Feld ist weiter, es gibt auch Erinnerungen, die dazu quer liegen, es gibt auch die Frage viel stärker nach dem Täter, nach dem, wie ist eine Gesellschaft eigentlich in die Lage ... oder hat sich selber in die Lage versetzt, diese Massenmorde zu verüben? Also nicht so sehr den ... nicht mehr nur den Opfern sozusagen zu gedenken, sondern sich stärker auch mit diesen, ja, gerade aus deutscher Perspektive ja höchst signifikanten Mustern von Täterschaft und Tat auseinanderzusetzen. Und das ist – um noch mal auf das Beispiel mit dem Mahnmal einzugehen –, das kommt doch dort sehr kurz. Und das ist ja auch bei der Einweihung unter anderem von Paul Spiegel ja auch kritisch bemerkt worden, dass das Mahnmal der Opfer gedenkt, aber eigentlich die spezifisch deutsche Frage, nämlich nach der Tat und nach den Tätern, dem letztlich ausweicht.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton": Wie kann, wie sollte man sich erinnern? Darüber hat die Historikerin Ulrike Jureit nachgedacht. Frau Jureit, vor Kurzem ist nach jahrelangem Hin und Her so ein Täterort als Ausstellungsort eröffnet worden, nämlich die "Topografie des Terrors" in Berlin, ein Informationsort über die Täter, viel Material dazu, wie der Holocaust penibel vom Schreibtisch aus geplant wurde. Warum meinen Sie, hat es so lange gedauert, bis sich eine Ausstellung mit den Tätern beschäftigt?

Jureit: Ja, das liegt daran, dass die Auseinandersetzung mit den Tätern ein Thema ist, was in Deutschland sehr lange in den Hintergrund getreten ist. Und es geht auch gar nicht darum, zu sagen: Das ist der falsche Weg gewesen. Ich glaube, dass diese zunächst, also seit den 60er-, 70er-Jahren, die starke Beschäftigung mit den Opfern notwendig war, um sozusagen die Verbrechen auch als Verbrechen zu erkennen. Aber was dadurch tatsächlich in den Hintergrund getreten ist, ist die Auseinandersetzung mit Tat und Tätern, und das ist natürlich auch ein schmerzlicher Prozess, weil es geht natürlich auch darum, sich mit denjenigen, die – bis vor Kurzem ja oder ... nur noch sehr wenige zwar, aber bis vor Kurzem – auch in unserer Gesellschaft weitergelebt haben, mit denjenigen, die dafür verantwortlich waren, die das mitgetragen haben, die zugeschaut haben oder die sich zumindest vielleicht auch indifferent dazu verhalten haben. Und das sind ja Menschen, zu denen wir alle enge Kontakte hatten, familiäre Bindungen hatten, und das ist ein sehr schwieriger Prozess.

Timm: Das heißt, ich spitze jetzt ein bisschen zu: Die jahrzehntelange Erinnerung ausschließlich an die Qualen der Opfer war für die Täternachfolgegeneration sage ich mal in Deutschland auch ein bisschen bequem, weil man sich nicht damit auseinandersetzen musste, wie ist es dazu gekommen?

Jureit: Bequem würde ich nicht sagen, es war erst mal auch eine Form von Schutz, weil es ist natürlich, also wenn man sozusagen die Nähe anschaut, die die sogenannte zweite Generation dazu hatte, dann waren es deren Eltern, ob im konkreten oder im übertragenen Sinne, dann waren es deren Eltern, die zumindest sich zu diesen Fragen der Verantwortung – und zwar der direkten Verantwortung – verhalten mussten.

Timm: Das ist eigentlich auch logisch, weil es dazu keine Alternative gab. Es war eine solche Schuld, die sich da eine Generation aufgeladen hatte, die musste man sich erst mal vergegenwärtigen.

Jureit: Aber wir haben jetzt 40, 30, 40 Jahre später, nach sogenanntem 68, andere Herausforderungen. Wir haben eine ganz andere Erinnerungskultur, ganz andere ... eine ganz andere nationale und auch internationale Erinnerungslandschaft. Wir haben eine wachsende Anzahl von Bevölkerungsgruppen, die ganz andere kulturelle, ganz andere nationale Hintergründe hatten, ganz andere Familientragödien, ganz andere Familienkatastrophen, und wir müssen uns ja auch fragen: Wie wird 60, 70, 80 Jahre nach dem Holocaust daran zu erinnern sein? Und wir versuchen mit dem Buch, diese Fragen zu stellen und verstehen es auch als einen Impuls über zukünftige Formen von Erinnern, auch von der Möglichkeit historischer Trauer, sich miteinander auseinanderzusetzen.

Timm: Dann schauen wir uns das mal konkret an, schauen wir mal auf die Generation unserer Kinder, die jetzt 10, 11, 12 sind, die das im Geschichtsunterricht hoffentlich noch in aller Ausführlichkeit lernen. Welche Erinnerungsformen wären dann für Sie angemessen in 20, 30 Jahren?

Jureit: Die richtige Form wäre sicherlich, auch danach zu fragen, also wie ist ihr familiärer Kontext, was hat ihre Familie in dieser Zeit gemacht, getan, gedacht? Das ist natürlich der sehr persönliche Zugang, aber es geht auch darum, zu fragen, also – wie entstehen solche Taten? Was sind das für gesellschaftliche Kräfte, wie kann man selber sozusagen politisch auch aktiv werden? Sozusagen gesellschaftliches Engagement zu zeigen, das würde ich mir zumindest wünschen. Ich würde mir auch wünschen, dass es eine weniger stark normative Vorgabe gibt. Wir sehen ja heute auch in unserer Gesellschaft: Es gibt die Tendenz, diese Formen, diese Formen auch des opferidentifizierten Erinnerns, festschreiben zu wollen, auch für zukünftige Generationen festschreiben zu wollen, und ich glaube, das ist der falsche Weg. Jede Generation muss ihre eigenen Fragen stellen und da darf man auch keine Angst vor haben, weil man das Gefühl hat oder die Befürchtung hat, da werden vielleicht bestimmte moralische, ja, Selbstverständlichkeiten, die sich in Deutschland entwickelt haben, vielleicht auch infrage gestellt oder zumindest noch mal hinterfragt. Das kann doch auch sehr produktiv sein.

Timm: Erinnerungen an den Holocaust bleibt eine Generationenaufgabe, auch noch viele Jahrzehnte danach. Ulrike Jureit hat darüber geforscht, ihr Buch "Gefühlte Opfer – Illusionen der Vergangenheitsbewältigung" ist gerade erschienen. Vielen Dank fürs Gespräch!
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