Erika Fatland über ihr Buch "Die Grenze"

Eine Reise rund um das riesige Russland

11:27 Minuten
Porträt der norwegischen Autorin Erika Fatland, aufgenommen in Oslo am 17. Oktober 2017
Ein merkwürdiger Traum habe sie auf die Idee für ihr Buch gebracht, erzählt Erika Fatland. © picture alliance / NTB scanpix/ Berit Roald
Erika Fatland im Gespräch mit Andrea Gerk · 08.04.2019
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Rund 61.000 Kilometer misst die Grenze Russlands. Die norwegische Autorin Erika Fatland hat sie bereist und sich alle 14 Nachbarn des größten Staates der Erde näher angesehen. In dem Buch "Die Grenze" hat sie diese Länder porträtiert.
Andrea Gerk: 60.932 Kilometer und damit länger als der Erdumfang ist die russische Grenze, die entlang von 14 Staaten verläuft. Die 36-jährige norwegische Schriftstellerin und Journalistin Erika Fatland ist ihr von Nordkorea bis zur Nordostpassage gefolgt und hat mit den Nachbarn des flächenmäßig größten Landes der Welt gesprochen und gelebt. Was sie dabei erfahren hat, das kann man jetzt lesen: Ihr Buch "Die Grenze" ist soeben auf Deutsch erschienen. Wir sprechen jetzt mit Erika Fatland. Gerade noch haben wir Sie erwischt, denn in ein paar Tagen ziehen Sie schon wieder für Monate in die Welt hinaus, diesmal in den Himalaya. Dabei waren Sie gerade erst acht Monate oder länger an der russischen Grenze, davor auch viel gereist für Ihr Buch "Sowjetistan". Was zieht Sie denn da so hinaus, was bedeutet Ihnen das Reisen? Urlaub ist das ja nicht.

Idee im Traum geboren

Fatland: Nein, es ist kein Urlaub. Vor fünf Jahren hatte ich nachts einen merkwürdigen Traum: Ich bin dann auf einer riesigen Landkarte spazieren gegangen, von Land zu Land einer roten Grenzlinie entlang, aber nördlich um diese Grenze lag immer dasselbe große Land, und das war Russland. Dann bin ich aufgewacht und hatte die Idee: Erika, warum fährst du nicht der russischen Grenze entlang durch alle Nachbarländer des riesigen Russlands, um herauszufinden, was es eigentlich heißt, Russlands Nachbar zu sein?
Norwegen ist ja auch ein Nachbarland Russlands. Das hat in unserer Geschichte eine Rolle gespielt, aber welche Rolle hat dieselbe Nachbarschaft in der Geschichte von Nordkorea oder Georgien gespielt. Das wollte ich dann herausfinden.
Gerk: Gab es denn, obwohl diese Länder, die Sie bereist haben, wahnsinnig unterschiedlich sind – Norwegen kann man ja gar nicht mit Nordkorea oder China oder der Mongolei vergleichen –, gab es trotzdem etwas, was diese Nachbarn Russlands verbindet im Innern? Haben Sie da einen roten Faden gefunden?
Fatland: Das lässt sich nicht so leicht zusammenfassen, deswegen habe ich ja über 600 Seiten dazu geschrieben: Aber was ich wirklich gespürt habe, ist, wie klein und bedeutungslos der einzelne Mensch und sein Leben und Wohlergehen wird in Begegnung mit der großen Maschinerie der Machtpolitik.

Sehr bewegendes Kapitel zu Minsk

Gerk: Wie haben Sie das gemerkt? Wenn Sie mit den Leuten gesprochen haben?
Fatland: Ich hatte beispielsweise ein Interview in Minsk: Das war ganz interessant, wie ich diese Verabredungen gemacht habe, denn ich wollte gern in Minsk mit einem der Überlebenden des jüdischen Ghettos sprechen, das größte Ghetto der Welt. Vor dem Krieg war ja ungefähr ein Drittel der Bevölkerung von Minsk jüdischer Herkunft – und fast alle wurden vernichtet. Nur wenige sind entkommen und von denen leben heute in Minsk nur noch eine Hand voll, vielleicht.
Ich bin dann zum Holocaust-Zentrum von Minsk gegangen, und dort bin ich einer deutschen Dame begegnet, die ehrenamtlich dort arbeitete. Ich erzählte ihr von meinem Buch und von meinem Wunsch, und sie hat mir dann eine Telefonnummer gegeben. Und dann habe ich angerufen, und eine alte Dame hat geantwortet, Maja, sie war eine Überlebende des Minsker Ghettos. Dann hat sie gesagt, nein, gerade jetzt könne sie mir kein Interview geben, weil sie unterwegs sei, aber wie würde es in 20 Minuten passen.
So kam es dazu, dass das vielleicht bewegendste Kapitel im Buch entstand, denn die Maja, die damals noch ein Kind war, hatte eine unglaublich dramatische und tragische Geschichte zu erzählen: wie fast ihre ganze Familie vernichtet wurde und wie sie von ihrem etwas größeren Bruder und anderen Kindern gerettet wurde.
Nach dem Krieg hat sie sich dann übrigens zur Zirkusakrobatin ausgebildet und arbeitete jahrelang im weißrussischen Nationalzirkus. Aber erst nach Gorbatschow wurde es für die Überlebenden wie Maja dann möglich, frei und offen von ihren Erfahrungen zu erzählen. Es gibt so viele Geschichten wie Majas.

Russisch hilft in vielen Ländern

Gerk: Das stimmt. Wie wichtig ist es denn – um so in Kontakte zu kommen –, dass Sie so viele Sprachen sprechen? Wir zwei sprechen ja jetzt auch ganz selbstverständlich Deutsch miteinander. Sie können noch sieben andere Sprachen. Ist das wichtig für die Art, wie Sie reisen und wie Sie da diese Länder erforschen?
Fatland: Ja, das glaube ich schon. Also zum Beispiel: ich kann weder chinesisch oder koreanisch, und dann in diesen Ländern war es schwierig für mich, also mich direkt dann mit den Menschen zu unterhalten, aber in Nordkorea darf man sowieso nicht zu gewöhnlichen Menschen Kontakt aufnehmen. Das ist alles geregelt und organisiert im Voraus.
Aber ich spreche Russisch, und das heißt, dass ab Kasachstan bis nach Estland konnte ich mich gut mit den Menschen unterhalten, weil in diesen Ländern können ganze viele Menschen Russisch, weil viele von ihnen in der Sowjetzeit erwachsen wurden oder weil Russland dann in diesen Ländern immer noch für die Wirtschaft und Politik eine große Bedeutung hat.

Intellektuelle Recherchephase nach der Reise

Gerk: Sie erzählen ja in dem Buch sehr packend das, was Sie vor Ort tatsächlich erlebt haben, aber auch immer eingebettet in historische Zusammenhänge, in Geschichten aus der Geschichte. Wie bereiten Sie sich denn vor auf so eine Reise? Recherchieren Sie das alles schon vorher, oder machen Sie das erst, wenn Sie wieder zu Hause sind?
Fatland: Es gibt Dinge, die man logistisch planen muss. Also man muss Flugtickets kaufen, und für einige Länder ist ein Visum absolut notwendig, zum Beispiel Nordkorea oder China. Also in Nordkorea muss man in geraumer Zeit vorausplanen. Dann lese ich natürlich generelle Fakten über das Land, aber nicht enorme Mengen.
Ich warte dann eher, bis ich im Land bin oder wenn ich zurück zu Hause bin, weil ich mache bewusst nicht allzu detaillierte Recherchen zum einzelnen Land, weil ich diesem Land mit so einem offenen Sinn begegnen möchte.
Also bevor man nach China fährt, um zum Beispiel Port Arthur zu besuchen, muss man ja schon etwas über 1905 und den russisch-japanischen Krieg wissen, aber viele andere Einzelheiten lasse ich warten, bis ich wieder in Oslo zu Hause bin und an meinem Schreibtisch sitze. Dann beginnt sozusagen die geistige Reise, die intellektuelle Recherchephase.

Grenzerfahrungen mit der Gewalt

Gerk: Jetzt heißt Ihr Buch ja ganz schlicht "Die Grenze" auf Deutsch. Gab es denn während dieser Reise auch Situationen, bei denen Sie persönlich mal an Ihre Grenze gekommen sind?
Fatland: Ja. Das war, als ich vor fünf Jahren die Idee zum Buch bekommen habe, als ich diesen Traum gehabt habe. Damals hatte Russland noch nicht die Krimhalbinsel annektiert und der Krieg in der Ukraine hatte noch nicht angefangen. Aber bevor es soweit war, dass ich dort hinreisen sollte, war der Kriegszustand schon eine Tatsache und ist es immer noch.
Ich bin ja keine Kriegsreporterin, und ich mag es nicht so sehr, mich in gefährlichen Gegenden aufzuhalten, auch wenn ich es bei einigen Gelegenheiten getan habe. Vor dieser Reise in die Ukraine war ich also ziemlich nervös und empfand vieles, was ich dort im Kriegsgebiet erlebt habe, als sehr unangenehm und erschütternd. Dann eine andere mentale Grenze, auf die ich gestoßen bin, war also zum Beispiel das Verlangen in Nordkorea, dass man sich vor den Statuen Kims verbeugen sollte.
Gerk: Das haben Sie schön beschrieben.
Fatland: Das habe ich einfach nicht tun wollen, aber mein Nicht-Mitmachen hat ja für mich keine Folgen gehabt. Ich bin ja dann Ausländerin.

Aggressive Reaktionen

Gerk: Was haben Sie denn durch diese Erfahrung, so lange an der russischen Grenze sich aufzuhalten, für ein Bild von Russland bekommen und für die Zukunft des Landes? Sie haben in einem Interview gesagt, Russlands Grenze wird eher kleiner werden. Wie kommen Sie darauf?
Fatland: Ja, das habe ich gesagt. Und die Russen, die wurden dann wahnsinnig böse, weil dieser Artikel ist übersetzt worden. Man hat das auch auf Russisch gelesen. Ich habe so viele Mails von sehr aggressiven Russen bekommen. Wie kannst du sagen, dass Russland kleiner wird?
Man muss verstehen, dass Russland ein Imperium ist, und Russland ist immer größer gewesen, wenn man die Geschichte studiert. Es ist nur 1991, dass Russland kleiner gewesen ist. Das ist für ein Imperium einfach ein bisschen unnatürlich. Und deswegen glaube ich, dass Putin nach der Okkupation der Krim so populär geworden ist in Russland.

Neues Ziel Himalaya

Gerk: Und jetzt lassen Sie Russland erst mal hinter sich und reisen in Richtung Himalaya. Was haben Sie sich denn für diese Reise vorgenommen?
Fatland: Der Himalaya, das ist wirklich eine interessante Region, extrem variationsreich, also mit unglaublich vielen Kulturen und Völkern und Geschichten und Religionen, aber auch hier ist die Geopolitik ganz wichtig. Also hier stoßen die Einflusssphären von drei großen Mächten aneinander – also Russland, Indien und China. Jetzt – und das ist dann nicht so lustig in der Zeit des Klimawandels – ist der Himalaya auch hochbrisant, denn aus dem Himalaya und dem ewigen Schnee und Eis, aus diesem riesigen Bergmassiv, strömen die Trinkwässer von buchstäblich Milliarden von Menschen. Und wenn sich bald aber herausstellt, dass dieses Eis und Schnee doch nicht ewig sind, steht die Welt vor vielleicht einer Katastrophe, deren Umfang und Wirkungen wir uns kaum vorstellen können.
Gerk: Und wie lange wollen Sie unterwegs sein, Erika Fatland?
Fatland: Ich war schon im Herbst fünf Monate unterwegs. Und jetzt werde ich drei Monate da unterwegs sein in Nepal und Tibet.
Gerk: Dann gute Reise, und kommen Sie gesund wieder! Erika Fatland, vielen Dank für dieses Gespräch!
Fatland: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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