Kommentar zur Türkei

Erdogan eifert Putin nach - mit Folgen für Deutschland

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Der russische Präsident Wladimir Putin ist am 3. Juli bei Treffen in Astana in Kasachstan im Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan
Russlands Präsident Wladimir Putin ist seit langem Vorbild für Recep Tayyip Erdoğan (l.), meint Memet Kilic © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Gavriil Grigorov / Kremlin Pool
Ein Kommentar von Memet Kilic |
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In der Türkei regiert zunehmend Willkür. Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzt Gerichte als Waffe gegen die Opposition und versucht so, seine Macht zu sichern. Das wird Folgen haben - nicht nur für die Türkei, sondern auch für Deutschland und Europa.
In der Türkei rumort es derzeit kräftig. Sie mögen sich fragen, was das mit uns zu tun hat? Denn in Europa haben wir ja schon genug Probleme. Doch könnten diese in naher Zukunft noch größer werden, wenn uns erneut eine Flüchtlingswelle aus der Türkei erreicht.

Putin ist Erdoğans Vorbild

Erdoğan tut derzeit alles, um einen Ausnahmezustand herbeizuführen und seine Präsidentschaft auf Lebenszeit zu sichern. Seit Langem nimmt er sich dabei den russischen Präsidenten Putin zum Vorbild.
Erdoğan hat die freien Medien weitgehend ausgeschaltet, die Gewaltenteilung ausgehöhlt und politische Gegner mundtot gemacht: Zwei Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei DEM sitzen bereits im Gefängnis.
Als Erdoğan bemerkte, dass der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu in allen Umfragen zur Präsidentschaftswahl deutlich vor ihm lag, wurde dieser zwei Tage vor seiner offiziellen Nominierung in Untersuchungshaft genommen, wo er bis heute wegen angeblicher Korruption und Beleidigung von Amtsträgern einsitzt.
Erdoğans Justizapparat hat rechtsstaatliche Prinzipien über Bord geworfen und zündet mit insgesamt elf laufenden Verfahren gegen İmamoğlu juristische Streubomben – in der Hoffnung, dass der eine oder andere Splitter ihn trifft.

Türkei ist nur noch das Zerrbild eines Rechtsstaats

Was wir dort erleben, ist das Zerrbild eines Rechtsstaats, in dem die Justiz zu einem Instrument der Einschüchterung geworden ist: Zunächst fällt man hinter verschlossenen Türen ein Urteil, dann wird die Person in Haft genommen und anschließend produziert man „Beweismittel“ und „Zeugenaussagen“ gegen sie. Die Unschuldsvermutung hat in der Türkei ausgedient.
Der türkische Staat sieht sich nicht mal mehr in der Pflicht, Schuld nachzuweisen. Versucht sich der Beschuldigte zu verteidigen, macht der Apparat daraus weitere „Beleidigungsklagen“. Das Recht auf Verteidigung wird ausgehöhlt. İmamoğlus Anwalt sitzt seit zwei Monaten ebenfalls in Untersuchungshaft.

Europa schaut weg

Erdoğans Justiz lässt Oppositionspolitiker jahrelang grundlos in U-Haft schmoren. Zugleich setzt Erdoğan İmamoğlus Partei, die CHP, die größte sozialdemokratische Oppositionspartei der Türkei, auf breiter Front unter Druck. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Partei werden inhaftiert; einige werden mit Drohungen zum Austritt aus der CHP und zum Beitritt zu Erdoğans Partei AKP gezwungen.
Vollversammlungen der CHP werden untersagt. Die Gerichte scheren sich nicht einmal um die hierfür vorgesehenen gesetzlichen Verfahren. Die CHP hat ihrerseits erklärt, eine Zwangsverwaltung der Partei nicht zu akzeptieren und sich zur Wehr zu setzen. Entsprechend dürfte sich dieser Konflikt weiter verschärfen.
Urteile des Europäischen Gerichtshofs zugunsten politischer Gefangener in der Türkei werden ebenfalls ignoriert. Der Europarat, der eigentlich die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überwachen soll, schaut geflissentlich weg, um Erdogan nicht zu verärgern. Denn auch mit Blick auf den Konflikt mit Putin braucht man ja alle NATO-Länder.

Viele Menschen werden die Flucht ergreifen

Da Erdoğan die türkische Wirtschaft weitgehend ruiniert hat, würde ihm ein Ausnahmezustand im Inland gut passen - wie damals bei den Gezi-Protesten. Reicht das nicht, ist er bereit, in den Nachbarländern kleinere Militäreinsätze zu wagen.
Deutschland hat Ende Juli dieses Jahres die Lieferung neuer Eurofighter-Kampfflugzeuge an die Türkei ermöglicht. Europas Rüstungsindustrie mag zufrieden sein; Deutschland aber muss sich auf viele Menschen aus der türkischen Zivilgesellschaft gefasst machen, die vor Erdoğans Regime die Flucht ergreifen.
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