Inflation in der Türkei
Gebrauchtwarenhändler in Ankara: Die Inflation in der Türkei macht das Leben der Bevölkerung schwer. © picture alliance / Anadolu / Metin Aktas
Steigende Armut, Scham und menschlichen Tragödien

33,5 Prozent Inflation im Juli: Das galt in der Türkei kürzlich als gute Nachricht, denn es war der niedrigste Wert seit fast vier Jahren. Schon lange lässt die Entwertung der Lira viele Türken verzweifeln, inzwischen kommt es sogar zu Suiziden.
Zu meinen Kindheitserinnerungen im Ruhrgebiet der 80er-Jahre gehört es, dass wir bei Reisen zu unserer Familie nach Istanbul unsere Koffer voll mit der Aldi Nussknacker-Schokolade, Nutella und Nescafé vollgestopft haben. Das waren begehrte Produkte, die sich in der Türkei nur wenige Menschen leisten konnten. Unsere Verwandten, die dort zur Mittelschicht zählten, freuten sich lebhaft über solche Mitbringsel.
Das sind längst vergangene Zeiten, so könnte man heute denken. Doch weit gefehlt!
Vergangene Woche erzählte mir meine Tante, dass eine Freundin aus Ankara beim Besuch im Ruhrgebiet erstaunt war, wie günstig Deutschland sei. Sie füllte darum ihren Koffer mit Lebensmitteln, weil sie sich in der Türkei immer weniger leisten kann.
Preise so hoch wie in der Schweiz
Ein Bekannter, der für die türkische Regierung arbeitet, äußerte sich kürzlich ähnlich: Die Preise in der Türkei seien inzwischen vergleichsweise so hoch wie in der Schweiz, ächzte er. Dabei beträgt der staatlich vorgeschriebene Mindestlohn rund 22.000 türkische Lira– umgerechnet etwa 465 Euro.
Während die türkische Regierung außenpolitische Erfolge verbuchen kann und dafür international zurecht gelobt wird, leidet die eigene Bevölkerung unter den ökonomischen Verwerfungen.
Die teils hausgemachte Krise manifestiert sich überall: Die offizielle Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 16,2 Prozent. In Istanbul sind die Mieten innerhalb von fünf Jahren teils um 800 Prozent gestiegen, und ein Sesamkringel – Simit, ein Nationalgebäck - kostet heute 20 türkische Lira, statt einer Lira wie vor einem Jahrzehnt.
Babynahrung: gesichert gegen Diebstahl
In Restaurants werden Speisekarten inzwischen nicht neu gedruckt, sondern nur noch überklebt, weil Preiserhöhungen zum Alltag gehören. Supermärkte müssen Würste und Babynahrung vor Diebstahl sichern.
In den staatlich gelenkten Medien – dazu gehören laut Schätzungen 90 Prozent der Medien – wird das Wort "Preiserhöhung" meist gemieden, stattdessen ist von "Anpassung" die Rede.
Aber solch eine Wortwahl kann nicht verschleiern: Die größte Tragödie ist die menschliche, denn der ökonomische Druck ist in manchen Fällen tödlich. Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2018 steigt Jahr für Jahr die Zahl der Freitode. Im vergangenen Jahr erreichte die Zahl der gemeldeten Suizide in der Türkei 4460. Ein trauriger Rekordwert. Laut türkischem Statistikamt nahmen sich 402 Personen wegen Existenzsorgen das Leben. Ganze Familien setzen gemeinsam aus Scham und Verzweiflung ihrem Leben ein Ende.
Warnung vor dem sozialen Zusammenbruch
Darüber berichten können nur meist jene Medien, welche die Regierung noch nicht verboten hat. Allenfalls weisen Oppositionspolitiker:innen darauf hin. Die stellvertretende Chefin der CHP, Gamze Taşcıer, präsentierte im Juli einen Bericht mit Zahlen zu den steigenden Suizidraten und sagte: „Selbstmorddaten enthüllen die soziale Zerstörung durch die AKP."
Angesichts der Zahlen warnt sie: "Wir erleben einen sozialen Zusammenbruch." Solche Aussagen sind gefährlich. Mehr als zehn Parteigenossen von Taşcıer stecken derzeit in Gefängnissen und stehen vor Gericht. Oftmals handelt es sich um politisch motivierte Verfahren.
Derweil schrumpft die Mittelschicht, und die Arbeiterklasse rutscht zusehends in die Armut ab. Wer dennoch dagegen aufbegehrt, bekommt Druck aus Ankara. Nachdem Bergarbeiter in der zentralanatolischen Stadt Eskişehir gegen eine zu geringe Lohnerhöhung protestierten, wurde der Streik von der Regierung – die in diesem Fall zugleich Arbeitgeber ist – faktisch verboten. Wagt es wer, dagegen zu verstossen, verliert er seinen Job.
Wer nicht satt wird, packt die Koffer
Verständlich also, dass einige Menschen angesichts der politischen Repressionen und fehlenden Aussichten für eine sattere Zukunft ihre Koffer für immer packen wollen. Allein in diesem Jahr stellten bis einschließlich Juni 6438 Personen aus der Türkei ein Asylgesuch in Deutschland – damit ist die Türkei das drittwichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in Deutschland, nach Syrien und Afghanistan.