Erbsenzähler im Pulverfass

In bürokratischem Stil schildert Siegfried Lautsch, Ex-Oberstleutnant der NVA, den Epochenwechsel in der Sowjet-Strategie vom Angriff auf den Westen zur Verteidigung im Kriegsfall. Für Militärhistoriker wohl interessant - doch eine Einbettung in die Zeitgeschichte fehlt.
Das Ziel war ehrgeizig. Das Ziel lautete: "Erreichen der deutsch-niederländischen Staatsgrenze innerhalb von fünf bis sieben Tagen und die Ein-nahme des Raumes Nordhorn - nördlich von Bocholt - Steinfurt." Erreichen sollten das 98.300 Soldaten, unter anderem mit 1111 Panzern. Vor allem Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA), unterstützt von einigen Tausend Rotarmisten.

Mitgeteilt wird uns das von einem Mann, der es wirklich wissen muss, weil er die Pläne für die Besetzung Norddeutschlands ausgearbeitet hat: Siegfried Lautsch, pensionierter Oberstleutnant der Bundeswehr und in den 80er-Jahren zunächst Leiter der Operativen Abteilung im Militärbezirk V (Neubrandenburg), dann Unterabteilungsleiter Ausbildung im Verteidigungsministerium der DDR.

Ein Zeitzeuge erster Güte also – und einer der wichtigsten. Die alten Planungsakten wurden nämlich nach dem Ende der DDR entweder vernichtet oder den Sowjets übergeben und lagern nun in Moskau. Sicher weggesperrte Dokumente aus der Zeit, in der sich die sowjetische Militärstrategie innerhalb weniger Jahre fast ins Gegenteil verkehrte: vom schwergewichtigen Angriff auf den Westen zur zaghaften Verteidigung im Kriegsfall. Lautsch schildert diesen Epochenwechsel am Beispiel seiner drei "operativen Planungen" von 1983, 1985 und 1988 für den Einsatz der 5. Armee seines Militärbezirkes – einer der beiden NVA-Armeen, die mit den Truppen des Warschauer Paktes gegen die NATO gekämpft hätten.

1983: Der Nato-Doppelbeschluss mit seinen atomwaffenfähigen Raketen in Westeuropa prägt noch vollkommen die Ost-Philosophie. Das heißt: Bei einer Nato-Attacke auf das Gebiet der DDR "günstige Bedingungen für den schnellen Übergang zum entschlossenen Angriff" durch den Warschauer Pakt schaffen. Erreichen der deutsch-niederländischen Staatsgrenze innerhalb von fünf bis sieben Tagen.

Militärischer Bericht von Moskau autorisiert
1985: Gorbatschow ist in Moskau der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Die Sowjets wissen, dass sie den Rüstungswettlauf gegen den Westen nicht gewinnen können. Und der NVA-Planer Lautsch weiß am besten, dass 90 Prozent seiner Panzer vor 1975 produziert wurden und völlig überaltert sind. Jetzt geht es in seinen Planungen "nach erfolgreicher Abwehr" eines Nato-Angriffs nur noch um "die Wiederherstellung des ‚Status quo ante‘ an der innerdeutschen Grenze".

1988: Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan haben sich mittlerweile auf die Vernichtung ihrer Nuklearraketen geeinigt. Auch Lautsch rüstet ab. Nun steht bei seiner Verteidigungsoperation der "Krieg mit konventionellen Mitteln im Mittelpunkt". Vorher musste er den östlichen Atomschlag immer mit einkalkulieren – und zwar "zuvorkommend, also unmittelbar vor einem Nukleareinsatz der Nato".

Siegfried Lautsch präsentiert uns Furcht einflößende Einblicke in ein Pulverfass. Aber er macht das in einem nüchternen militärbürokratischen Stil, der die Lektüre gelegentlich bis an die Schmerzgrenze treibt. Hier schreibt der Waffen-, Munitions- und Erbsenzähler mit einer Detailversessenheit in immer wieder denselben Formulierungen von "Kernwaffeneinsatzmitteln" und den "Aufklärungsschlagkomplexen des Gegners", "gezielten Schlägen der Jagdbomber-, Jagdflieger- und Kampfhubschrauberkräfte", dem "Einsatz der Streifzugsabteilungen im Bestand von verstärkten mot. Schützen-, Panzertruppenteilen und -einheiten", dem "Zusammenwirken mit Luftsturm-, Luftlandetruppen und -einheiten, den Armeefliegerkräften sowie mit Aufklärungsabteilungen und -gruppen". Das ist sprachlich nicht Vollkornbrot. Das ist sprachlich Kommissbrot.

Und leider fehlt eine auch nur minimale Einbettung in die Zeitgeschichte. Die Namen Reagan oder Gorbatschow sucht man hier vergebens. Dafür dürfte dieses Buch, in dem ein absoluter Insider die abrupten Änderungen in der Militärstrategie der Sowjets nachzeichnet, zur Pflichtlektüre für alle Militärhistoriker und Militärstrategen werden, die sich mit den (hoffentlich) letzten Jahren be-fassen, in dem ein globaler Atomkrieg in Niedersachsen seinen Ausgang hätte nehmen können.

Die offiziöse Autorisierung, dass Lautsch hier authentisch "das operativ-strategische Denken der politischen und militärischen Führung" des einstigen Ostblocks wiedergibt, kam von befugtem Ort. "Diese Studie leistet einen außerordentlichen Beitrag zur Diskussion über die Militär- und Sicherheitspolitik der Teilnehmerstaaten der Warschauer Vertragsorganisation im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges." Das schreibt der einstige Generalmajor Juri Tarassenko von der russischen Militärakademie des Generalstabes der Streitkräfte in seinem Geleitwort: liebe Grüße aus Moskau also.

Besprochen von Klaus Pokatzky

Siegfried Lautsch: Kriegsschauplatz Deutschland. Erfahrungen eines NVA-Offiziers
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 2013
220 Seiten, 29,80 Euro
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