Enttäuschte Liebe

Rezensiert von Reinhard Mohr · 06.03.2011
Cora Stephans Buch über die Bundeskanzlerin ist eine Abrechnung: Wohl selten habe jemand so anspruchslos vor sich hin regiert, meint sie.
Es war einmal eine Frau "mit Verstand, Programm und klarer Sprache, ohne die vertrauten Reflexe" der in unzähligen Lagerwahlkämpfen "abgestumpften Politmatadore". Eine Frau, die erfrischend anders war als die präpotenten männlichen Alphatiere aus dem Westen: unideologisch und nüchtern, zuweilen geradezu staubtrocken, ohne Gedöns und Wichtigtuer-Gehabe, unbefangen, zäh und ausdauernd. Eine politische Quereinsteigerin aus dem Osten mit praktischer Revolutionserfahrung. Eine "Zeitenwende" bahnte sich an, ein "historischer Moment, die Chance auf einen Neuanfang." Kurz: "Ein Wunder". Der "Wind of Change" von 1989 schien noch einmal kräftig aufzufrischen.

Angie ante portas.

Als Angela Merkel im Herbst 2005 zur Kanzlerin der wieder vereinten Bundesrepublik wurde, zur ersten Regierungschefin in der deutschen Geschichte überhaupt, hofften Millionen Wähler nicht nur auf eine neue politische Kultur, sondern auch auf durchgreifende Reformen: "Durchregieren" war das Motto der Stunde, immer schön geradeaus und der Vernunft eine Gasse, ach was: eine breite Bahn! Das im Alltag längst verblasste Freiheitsversprechen des demokratischen Westens sollte wieder ernst genommen werden und in neuem Licht erstrahlen.

Zu den derart Hoffenden gehörte damals auch die Autorin Cora Stephan, eine klassische Wechselwählerin, die bis dato alles andere als christdemokratisch geprägt war. Im Gegenteil: Sie entstammt dem linken Biotop der Frankfurter Sponti-Szene um Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, damals in den Siebzigerjahren, als die "Träume noch auf der Straße lagen". Sie war Redakteurin der Zeitschrift "Pflasterstrand" und Teil jenes intellektuellen Milieus, das sich alsbald mit den eigenen ideologischen Irrtümern scharfsinnig und durchaus schmerzhaft auseinandersetzte.

Heute nun, Jahrzehnte später, gilt es, einen neuen, ganz anderen Irrtum einzugestehen: "Angela Merkel. Ein Irrtum" heißt Cora Stephans Abrechnung mit der Kanzlerin, die sich vom "funkensprühenden Rohdiamanten" zur "stumpfen Murmel" gewandelt habe: "Wohl selten hat jemand so anspruchslos vor sich hin regiert", resümiert die enttäuschte Wählerin, die selbst von "enttäuschter Liebe" spricht. Es wird sich irgendwie durchgewurstelt, bis Politik endgültig zum "alternativlosen" Geschäft geworden ist, das man am besten gleich "Mutti" überlässt. Um die Sache streitende Parteien braucht‘s dann auch nicht mehr, Argumente und offene Diskussion schon gar nicht.

"There is no alternative", kurz T.i.n.a. So lautet das Standardprogramm des organisierten politischen Stillstands. "Angie" ist zu Tina mutiert. Angie, die ewig Unterschätzte und oft Verspottete, war mutig und hat es allen gezeigt, vor allem der herrschenden Männerclique, dem "Andenpakt" in der CDU. Sie wollte ran an den überbordenden Sozialstaat, ran an die verkrusteten Steuergesetze, ran an den absurd hohen Schuldenberg.

Tina aber will davon nichts mehr wissen. Der Geist des Aufbruchs ist versandet, und der Rest ist "Weitermerkeln", bis selbst die ruhmreiche CDU von Konrad Adenauer und Helmut Kohl nur noch als Schemen im wahlkampfkompatiblen Phrasennebel erkennbar ist. Tina ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner der deutschen Seele, die Ruhe, Ordnung und Sicherheit deutlich mehr schätzt als unangenehme Wahrheiten und frostige Einsichten.
"Soziale Wärme", die politisch selbständige Gefühlseinheit des wohlmeinenden Mainstreams, ist wichtiger als die nackte Kälte von Zahlen und Statistiken. Sie könnten ja gefährliche Ängste schüren, sei es vor "Sozialabbau", Rentenkürzung oder einer insgesamt unsicheren Zukunft. Tina, die kluge Machtpolitikerin, hat das natürlich längst verstanden, und so will sie vor allem beruhigend wirken: Friede den Hütten, Globoli fürs Volk. Die Verschuldung steigt zwar ständig weiter, der Euro kriselt, die Europäische Union wird zur verfassungswidrigen Transferunion - aber irgendwie findet sich immer ein Phantastilliarden schwerer "Rettungsschirm", der die empfindlichen Gemüter fürs Erste beruhigt.

In fünf kurzen Kapiteln dekliniert Cora Stephan die Verfallsgeschichte der Merkel’schen Reformversprechen durch - von der Steuer- und Sozialpolitik bis zur Klimapolitik. Dabei geht sie über die Kritik an der Kanzlerin weit hinaus und nimmt den Zustand des ganzen Landes in den Blick, das immer wieder um seine "Identität" zu ringen scheint:

"Warum, zum Teufel, sollen andere vor einem Land Respekt haben, in dem die Menschen fürchten, als ausländerfeindlich und rassistisch zu gelten, wenn sie primär an die eigenen Wertvorstellungen und erst danach an den Ramadan denken? In dem niemand Grenzen zieht und überall der Kuschelfaktor dominiert? In dem "Leistungsträger" verachtet und "Leistungsempfänger" heiliggesprochen werden?"

Immer noch, so Stephan, existiere jene "deutsche Angst", das "windelweiche Selbstbewusstsein, der vom Meinungsmainstream gehätschelte Schuld- und Minderwertigkeitskomplex, der mangelnde Behauptungswille". Tinas, pardon: Angela Merkels ex-cathedra-Kommentar zu Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab", das sie zugegebenermaßen gar nicht gelesen hatte – es sei "überhaupt nicht hilfreich" – hat die Autorin ganz besonders "schockiert":

"Freiheitskämpferin Angie? Irrtum: Staatsratsvorsitzende Merkel. Und das war richtig peinlich."

Die größte Enttäuschung aber: "Die Frau, die einst den Mut zum Aufbruch so überzeugend verkündete, hat in Zeiten der Krise kein Projekt, keine Idee, die die Deutschen beflügeln könnte."

Gewiss, dass Deutschland "unter Niveau" regiert wird und es "besser könnte", werden nicht nur notorische "Wutbürger" bestätigen, und tatsächlich lässt nicht nur das schier endlose Gewürge um "Hartz IV" auch den bravsten Wahlbürger verzweifeln. Dennoch seien zwei Hinweise gestattet: Die Fallhöhe von Angie zu Tina, die Cora Stephan konstatiert, ist auch ein wenig konstruiert.

So strahlend war Angie nie, und Tina ist nicht so schlecht, wie sie nun, im Spiegel der schönen Träume, erscheint. Wichtiger noch: Wenn Politik schon immer das Bohren dicker Bretter war, so ähnelt sie in Zeiten von Globalisierung und europäischer Glühbirnenverordnung dem Kneten von Seifenblasen, die sich wie Schaumgummi anfühlen. Ein Blick in europäische Nachbarländer genügt: Politik ist mehr denn je zur Illusionsmaschine geworden.

Das ist keine Entschuldigung für Mut- und Ideenlosigkeit, aber vielleicht eine Erklärung für die quälende Springprozession, die uns Cora Stephan noch einmal pointiert, polemisch und voll politischer Leidenschaft vor Augen führt.

Schön, dass wenigstens sie an einer alten Sponti-Parole festhält:
Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!


Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum!
Knaus Verlag, München 2011
Cover: "Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum"
Cover: "Cora Stephan: Angela Merkel. Ein Irrtum"© Knaus Verlag