Energiewende in Polen

Keine Zukunft für die Kohle

22:24 Minuten
Tagebau für den Braunkohleabbau und das Kohlekraftwerk bei Bogatynia in Polen
Hat bisher für Unmut bei den deutschen und tschechischen Nachbarn im Dreiländereck gesorgt: der Braunkohleabbau im polnischen Bogatynia. © imago / photothek / Florian Gaertner
Von Ernst-Ludwig von Aster und Anja Schrum · 24.03.2021
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Polen ist der größte Förderer von Steinkohle in der EU. Doch vor einigen Monaten hat die Regierung ein Ende des Abbaus bis 2049 beschlossen, möchte stattdessen auf Atomkraft und Photovoltaik setzen. Für viele kam der Beschluss unerwartet.
In langen Reihen rattern die Kohlewaggons über die Gleise. Die Trasse zerschneidet die Floriana Straße in Kattowitz, im oberschlesischen Industrierevier. Jenseits der Gleise drängen sich Häuser mit rußigen Fassaden und bröckelndem Putz. Diesseits steht ein neuer, backsteinerner Bürokomplex. Auf einem Metallschild neben dem Eingang prangt der Solidarność-Schriftzug und der Zusatz: Region Schlesien.
Im ersten Stock eilt Dominik Kolorz Richtung Büro, vorbei an Václav Havel, Michail Gorbatschow und Lech Walesa. Das Trio blickt von einem Plakat an der Wand und erinnert den Gewerkschafter an die Macht des Widerstands und den Mut zum Neuanfang.

Atomkraft, ja bitte! Polen plant sein erstes AKW an der Ostsee, um den Kohleausstieg zu schaffen. Dafür sind nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch Umweltschützer, wie Florian Kellermann herausfand. Seinen Beitrag hören Sie am Ende dieser Weltzeit.

Kolorz ist der Solidarność-Chef hier, in der Woiwodschaft Schlesien, der traditionellen Kohle- und Stahlregion, dem industriellen Herzen Polens. Jahrzehnte hat der Gewerkschafter für den Fortbestand des Bergbaus gekämpft. Ende September 2020 aber besiegelte er mit seiner Unterschrift das Ende der polnischen Steinkohleförderung. Spätestens 2049 soll die letzte Zeche schließen. Rund 50.000 Arbeitsplätze könnten verloren gehen.
"Mein Herz blutet natürlich, aber ich glaube nicht, dass man ein anderes Ergebnis hätte verhandeln können, weil diese Übereinkunft uns eine langfristige Perspektive gibt. Fast 30 Jahre, um sich von der Kohle zu verabschieden und neue Arbeitsplätze zu schaffen."

Gewerkschaft Solidarność für Kohleausstieg

Als Solidarność-Boss im schlesischen Kohle-Revier hat Kolorz unzählige Streiks mitorganisiert. Jahrelang hat er – genau wie die regierende PiS – die polnische Kohleförderung verteidigt, die Unabhängigkeit vom russischen Gas beschworen und die EU-Klimaziele infrage gestellt. Dann kam der Spätsommer 2020. Und die überraschende Kehrwende der polnischen Regierung.
An einem Zaun hängt ein Banner, dass auf polnisch zum Streik aufruft
Spuren des Protests - auch Streikaufrufe konnten den Kohleausstieg nicht stoppen© Deutschlandradio / von Aster
"Da präsentierte uns der stellvertretende Ministerpräsident einen Plan", erinnert sich Kolorz. Danach sollten alle Zechen bis 2035 geschlossen werden. "Blitzkrieg", sagt der Mittfünfziger auf Deutsch und schüttelt den Kopf. Zehntausende Kumpel arbeiten noch unter Tage, fördern in mehr als 20 Zechen die Steinkohle. Völlig unakzeptabel befand die Gewerkschaft den Regierungsplan und rief zum Streik. Doch es war keiner dieser Streiks, wie sie die schlesische Kohle-Region früher erlebt hatte.
"2015 erhielten die protestierenden Bergleute sehr, sehr viel Unterstützung aus der lokalen Bevölkerung. Heute sieht es anders aus. Die Medien-Kampagne gegen Kohle und Bergbau zeigt Wirkung – und die Klimadiskussion natürlich auch. Es gibt einfach keine so große Unterstützung aus der Bevölkerung mehr."
Von den 100.000 Solidarność-Mitgliedern in Schlesien sind nur noch etwa ein Drittel Bergleute. Die anderen arbeiten in den boomenden Branchen der Region, im Automobilbau etwa oder im Technologiesektor. Der Arbeitsplatz unter Tage verliert an Bedeutung. Gleichzeitig sorgt die Kohleverfeuerung über Tage – ob zur Stromgewinnung oder als Heizung – für erheblichen Unmut in der Bevölkerung. Besonders im Winter ist die Luftverschmutzung unerträglich.

Luftreiniger gegen Smog

15 Kilometer entfernt, in der alten Bergbaustadt Bytom: Viergeschossige, schmutzig-graue Blocks reihen sich aneinander. In einem dieser Blocks wohnen im vierten Stock Kasia und Marcin mit der kleinen Hania. Im Wohnzimmer drängen sich Ess- und Schreibtisch, Klappcouch und Sessel. Dazwischen surrt ein silbrig glänzender Kasten, der Luftreiniger.
Das Gerät springe automatisch an, wenn die Umgebungsluft zu schlecht sei, erklärt, Marcin. Der Luftreiniger läuft den ganzen Herbst und Winter hindurch, bis hinein ins Frühjahr. Meist steht er im Schlafzimmer der jungen Familie.
"Als ich schwanger war, bin ich nur mit Atemschutzmaske zur Arbeit gegangen. Es gab Tage, an denen war die Luftverschmutzung fürchterlich hoch. Wenn die Luft zu schlecht ist, bleiben wir mit Hania den ganzen Tag zu Hause, egal wie nervig das ist. Wir machen uns große Sorgen wegen der Luftbelastung."
Manchmal kommt selbst unser Luftreiniger nicht dagegen an, dann ist die Luft hier drinnen nur 20 Prozent besser als draußen, erzählt Marcin. Gerne würde Kasia auch für ihre Tochter eine Atemschutzmaske kaufen, aber dafür ist sie noch zu klein.
Kasia und Marcin sind mit dem Smog groß geworden. Beide sind in Bytom aufgewachsen. Kasia hat in Kattowitz studiert, Marcin in Krakau gelebt und gearbeitet. Als sie sich entschlossen, eine Familie zu gründen und eine kleine Wohnung zu kaufen, fiel die Wahl auf Bytom – zwangsläufig.
"In Bytom, weil die Immobilienpreise die günstigsten im ganzen Land sind. Hier im Viertel ist es sogar noch billiger als in anderen Stadtteilen oder im Umland. Wir haben sogar Zuschüsse bekommen, weil wir hier eine Wohnung kaufen."
"Es ist günstig, weil die Menschen Angst haben vor der Stadt", ergänzt Kasia. Angst, weil die Kohleschächte unter dem Zentrum regelmäßig dafür sorgen, dass die Erde obendrüber in Bewegung gerät. Fast alle Gebäude weisen Bergschäden auf. Und weil von Herbst bis Frühjahr ein beißender Smog-Schleier über der Region hängt.
"Die Leute heizen mit Kohle, auch hier, im Block auf der anderen Straßenseite. Sie heizen mit Kohle. Ich bin aber nicht sicher, ob es überhaupt Kohle ist, weil die Farbe des Rauchs, der aus dem Schornstein kommt, anders aussieht."

Höchste Luftverschmutzung innerhalb der EU

In Sachen Luftverschmutzung liegen heute 33 der 50 dreckigsten europäischen Städte in Polen. Mit mehr als 44.000 zusätzlichen Todesfällen durch die Luftverschmutzung pro Jahr rechnet die Europäische Umweltagentur, allerdings auf der Daten-Basis von 2012. Aber nicht nur minderwertige Kohle landet in den Öfen, sondern auch alte Möbel oder Plastikmüll.
Blick auf einen Marktplatz, im Vordergrund ein Container mit Kohle
Kohle-Verkauf auf dem Markt in Walbrzych: Jeden Winter sorgt der Brennstoff für schlechte Luft.© Deutschlandradio / von Aster
Kasia und Marcin haben eine Gasheizung einbauen lassen, auch ein Anschluss ans Fernwärmenetz wäre möglich. Theoretisch. Dafür müssten aber alle Nachbarn zustimmen. Die beiden Eigentümerparteien im Parterre wollen aber nicht, sie heizen nach wie vor mit Kohle.
"Ich würde nicht sagen, dass alle Leute, die noch mit Kohle heizen, sich kein Gas leisten können", sagt Marcin. "Die Umwelt ist ihnen einfach egal, Kohle ist ihnen heilig", fügt er hinzu.
"Die letzten 30 Jahre hat der Staat 135 Milliarden Zloty dafür ausgegeben die Kohleindustrie zu unterstützen, ungefähr 30 Milliarden Euro. Und das ist ein Minusgeschäft. Die Kohleindustrie in Polen ist immer noch defizitär und wird sich auch nicht lohnen."
Andrzej Ancygier schüttelt missbilligend den Kopf. Als Energie- und Klimaexperte des Thinktanks "Climate Analytics" analysiert der 39-Jährige laufend die polnische Energie- und Klimapolitik. Mehr als 70 Prozent des Stroms wird heute noch in Polen in Kohlekraftwerken produziert, seit Jahren ein Zuschussgeschäft auf Kosten des Klimas.
Blick auf eine Kohlehalde mit Förderband
Millionen Tonnen unverkäuflicher Kohle liegen in Polen auf Halde.© Deutschlandradio / von Aster
Heute liegen Millionen Tonnen polnischer Kohle auf Halde. Aufgekauft vom Staat, da sie den Energieunternehmen zu teuer ist. Die verheizen lieber russische Kohle. Die meisten Zechen sind heute in staatlichem Besitz. Private Investoren zeigten kein Interesse. So wurde der polnische Staat zum größten Bergwerksunternehmen Europas. In dem Konzern PGG hat er mehr als 20 Zechen zusammengeschlossen.
Den Ausstiegsbeschluss interpretiert Andrzej Ancygier dann vor allem auch als Signal in Richtung Brüssel. Für 2050 strebt die EU die Klimaneutralität an. Bisher verweigerte Polen als einziges Land die Zustimmung.

Polen hofft auf sechs Milliarden Euro aus der EU

"Das Datum 2049 zeigt, dass Polen diesem Klimaneutralitätsziel bis 2050 zustimmen wird. Und das ist auch wichtig, weil da auch das Geld aus der Europäischen Union fließt. Ohne sich zu bekennen, bekommt Polen nur die Hälfte des Geldes."
Erst mit der Verpflichtung auf das Klimaneutralitätsziel 2050 haben EU-Mitglieder die vollen Ansprüche auf eine Förderung aus dem "Just Transition Fund". Hier warten insgesamt 17 Milliarden Euro, um in der EU eine klimafreundlichere Wirtschaft voranzubringen. Polen macht sich Hoffnungen auf rund sechs Milliarden Euro.
"Wenn wir jetzt an diese Milliarden denken, die aus der EU fließen werden, das kann die polnische Energiewirtschaft total revolutionieren innerhalb der nächsten Jahre."
In Kattowitz schlendert Tomek die Mariacka entlang, eine Fußgänger- und Kneipenzone im Zentrum der schlesischen Metropole. Es ist Spätherbst, kurz vor dem polnischen Lockdown.
Tomek heißt nicht wirklich Tomek. Aber er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Denn er ist Bergmann und will keinen Ärger mit seinen Kollegen. Viele sehen es nicht gerne, wenn einer mit Journalisten spricht, schon gar nicht mit deutschen. "Die sind doch sowieso gegen unsere Kohle", heißt es. Der Mittdreißiger steuert ein Cafe mit Wintergarten an, sucht einen Platz ganz hinten, in der Ecke, bestellt einen Tee.
"Es gab in letzter Zeit viel Druck auf unsere Zeche. Es hieß, die Zeche sollte geschlossen werden, weil dort die wenigsten Bergleute arbeiten. Aber jetzt ist es das rentabelste Bergwerk der PGG, weil wir so motiviert sind."

Polnische Bergleute überrascht vom Kohleausstieg

Etwas mehr als 1500 Kumpel arbeiten in seiner Zeche. Auch für sie kam der Ausstiegsbeschluss überraschend. Zurzeit verhandelt die Gewerkschaft mit der Regierung noch über einen Sozialplan für alle betroffenen Bergwerke. 2028 soll seine Zeche dichtmachen, hat Tomek gehört. Dann ist er gerade einmal 38.
"Einerseits sagen sie, sie garantieren Arbeit bis zur Rente. Aber niemand kennt die Details. Nehmen wir mein Beispiel: Ich arbeite hier gleich um die Ecke. Die könnten mich dann in eine Zeche hinter Rybnik versetzen. Die ist viel weiter weg, da müsste ich eine Stunde länger fahren. Und wenn ich dann Nein sage, dann sagen sie vielleicht: Wir haben dir Arbeit garantiert, wenn du sie nicht annimmst, ist das dein Problem."
Umgerechnet 800 Euro verdient Tomek im Monat. Zu wenig, um mit Frau und Kind über die Runden zu kommen. Darum ist der Bergmann auch fast jedes Wochenende unterwegs. Er kachelt und fliest Badezimmer. Damit verdient er mittlerweile mehr als im Bergwerk. Das wäre doch eine Geschäftsidee für die Zukunft, sagt er lachend.
"Irgendwann muss ich entscheiden, wie es für mich weitergeht. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass meine kleine Tochter, wenn sie mal einen Förderturm sieht, nicht wissen wird, was das ist."

Photovoltaik in Polen auf dem Vormarsch

Einige Kilometer weiter blickt Patryk Bialas in den Himmel. Die Wintersonne schimmert nur matt durch den grauen Dunst.
"Die Farbe vom Himmel heute ist ein bisschen anders. Das heißt, heute haben wir sehr viel Smog."
Der 41-Jährige schlägt den Mantelkragen hoch, eilt über einen Parkplatz, zwischen großen Hallen hindurch. Früher stand hier eine Farb- und Chemiefabrik. Heute wirbt an dieser Stelle der Wissenschafts- und Technologiepark Euro-Centrum um Investoren. 35.000 Quadratmeter Fläche, drei energieeffiziente Bürogebäude, ein Passivhaus, etliche Produktionshallen.
"Das ist ein Beispiel, dass man auch in Schlesien die grünen Technologien ohne Problem benutzen kann. Die Leute gucken es sich an, und wir machen sehr viel Werbung."
Drei große Solarpaneele recken sich gen Himmel, am Passivhaus funkeln futuristisch anmutende Photovoltaikelemente, Luft- und Wärmetauscher sorgen für besseres Klima. Private Investoren haben den Technologiepark mit EU-Unterstützung errichtet, um vor allem mit technischen Angeboten Geld zu verdienen.
"Ein Labor, die sogenannte künstliche Sonne, um die Photovoltaik- und Solarzellen zu testen, wir haben auch sechs Klimakammern."
Bialas bittet ins Schulungsgebäude. Mittlerweile sprechen sich 67 Prozent der Polen für einen Ausbau der regenerativen Energien aus, sagt er. Darum belegen auch immer mehr Handwerker Kurse im Schulungszentrum des Parks.
"Das ist unser Schulungszentrum hier, wir haben hier verschiedenen Technologien, zwei Arten von Wärmepumpen, Wasser, Wasser und Luftwasser, drei Arten von Solarkollektoren und auch drei Arten von Photovoltaik."
Vor allem die Photovoltaik hat in Polen Konjunktur – bei der Bevölkerung. "Mein Strom" heißt das Programm, das die Regierung 2019 auflegte. 5000 Zloty, umgerechnet knapp 1200 Euro, Zuschuss bekamen alle Haushalte, die sich eine Photovoltaik-Anlage auf das Dach setzten.
Blick in einen Schulungsraum mit Stühlen und Solarpanels
Lernen für die Energiewende: der Schulungsraum im Euro-Zentrum.© Deutschlandradio / von Aster
Innerhalb eines Jahres wurden 200.000 Solaranlagen installiert. Sie speisen den Solarstrom direkt ins Netz ein. 80 Prozent der Strommenge bekommen die Haushalte dann gutgeschrieben und können ihn ihrerseits jederzeit verbrauchen. Bei den hohen polnischen Strompreisen rechnet sich so eine Solaranlage meist in zehn bis elf Jahren.
"Die Hauptidee ist, dass wir zuerst eine gute Energiepolitik für Polen brauchen, dann brauchen wir einen Plan für die Energiewende und danach brauchen wir sehr mutige Politiker."
Ob das auf die Regierungspolitiker der national-konservativen PiS-Partei zutrifft, bezweifelt Patrik Bialas. Anfang Februar hat die Regierung ihre Energiestrategie bis zum Jahr 2040 verabschiedet. Bis 2030 will sie den Anteil der erneuerbaren Energien auf mindestens 23 Prozent ausbauen und in die Atomkraft einsteigen.
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