Bergleute ohne Kohle

Die Lausitz muss sich auch selbst retten

26:30 Minuten
Ein Stoppschild zeichnet sich in der Abenddämmerung vor dem Kohlekraftwerk Boxberg ab.
Laut Fahrplan der Bundesregierung zum Kohleausstieg soll der letzte Block des Kraftwerks Boxberg zum Ende des Jahres 2038 abgeschaltet werden. © Imago / Florian Gärtner
Von Mirko Heinemann · 02.06.2020
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Über Generationen prägte der Kohlebergbau die Lausitz. Nach 1990 kam für die Menschen die erste Zäsur, jetzt muss die Region mit dem Kohleausstieg klarkommen. Für einen erfolgreichen Wandel braucht es aber wohl mehr als nur schönen Naturtourismus.
Am Rand des Lausitzer Städtchens Großräschen steht ein quadratisches Backsteinhaus. Drinnen im Konferenzraum sitzt ein Dutzend Menschen an Schreibtischen. Die Tische sind zu einem U zusammengestellt. Die Männer und Frauen absolvieren eine Weiterbildung zum Gästeführer. Sie lernen, worauf es ankommt, wenn man eine Touristengruppe organisiert. Wie man einen Finanzplan aufstellt. Welche Sehenswürdigkeiten es in der Lausitz gibt.
"Wir sehen ja selber, wie mühsam, aber auch wie schön sich das alles entwickelt. Auf der einen Seite die aktiven Tagebaue, die noch da sind. Und wenn man zwei, drei Kilometer weiterfährt, sieht man schon das neue Seenland, wie es hier entstanden ist."
Jürgen Kower hat 38 Jahre lang im Tagebau gearbeitet. Jetzt ist er Rentner. Und stolz darauf, was die Kohleindustrie aus der Lausitz gemacht hat.
"Der Bergbau nimmt nicht nur Landschaft, sondern er gestaltet auch Landschaft."
Seine Nachbarin ist in Großräschen aufgewachsen.
"Ich kann mich entsinnen: Wir konnten damals die Wäsche nicht raushängen zum Trocknen, weil sie schwarz wurde, weil immer Staub, Kohle war. Und jetzt haben wir hier eine Urlaubsregion. Das ist fantastisch."
Die ehemaligen Tagebaugruben der Lausitz werden mit Wasser gefüllt. 20 Seen sollen in den nächsten Jahren vollgelaufen sein. Dann soll hier das größte künstliche Seengebiet Europas entstehen. Das Lausitzer Seenland.
Alles eitel Sonnenschein? Mitnichten.
"Strukturwandel geht nicht innerhalb von ein paar Jahren. Strukturwandel geht über Jahrzehnte."
Der das sagt, heißt Timon Wehnert. Experte für den Strukturwandel von Kohleregionen beim Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.

180.000 Arbeitsplätze gingen verloren

Die Lausitz, eine der ältesten Bergbauregionen Deutschlands, macht einen tiefgreifenden Umbruch durch. 180.000 Arbeitsplätze sind in dem Grenzgebiet zwischen Brandenburg und Sachsen seit der Wende weggefallen. Neue Arbeitsplätze sind nur wenige entstanden. Bis zum Kohleausstieg 2038 werden auch die letzten 8000 Industriearbeiter entlassen. Man könnte sagen: Die Lausitz blutet aus.
"In den 50er-, 60er-, 70er-Jahren war das ja die Boom-Region in der DDR. Das war ja das energetische Herz der DDR."
Strukturwandel braucht: Ein Vorbild.
Als Blaupause für den Strukturwandel von Kohleregionen sieht Timon Wehnert das Ruhrgebiet. Einst lag zwischen Dortmund und Duisburg das größte Kohlerevier Deutschlands. Eine dreiviertel Million Menschen arbeiteten nach dem Zweiten Weltkrieg im "Kohlenpott". Der Niedergang begann in den 1950er-Jahren.
"Man hat einfach weniger Leute gebraucht, weil man mechanisiert hat. Man hat auf andere Energieträger umgewechselt, also Erdgas. Zentralheizung ist einfach netter, als mit Kohle zu heizen. Und im Ruhrgebiet war das so, – oder für die Steinkohle generell war das so, – dass die deutsche Steinkohle immer unwirtschaftlicher war und durch Importkohle ersetzt wurde."
Heute wird in Deutschland keine Steinkohle mehr abgebaut. Die letzte Zeche schloss 2018. Trotz massiver sozialer Probleme gilt die Transformation als gelungen. Das Ruhrgebiet kämpft noch immer mit dem riesigen Verlust an Wertschöpfung. Doch langsam schält sich eine neue Industrie, ein neuer Mittelstand, heraus.

In der Lausitz kam es anders. Schneller. Vor der Wende arbeiteten fast 100.000 Menschen in der Lausitzer Kohleindustrie, in den Tagebauen, Braunkohlefabriken und Kraftwerken. Weil es in der DDR kaum Steinkohle gab, setzte man voll auf die Braunkohleförderung in offenen Gruben, über Tage, mit riesigen Schaufelradbaggern.
Für die Tagebaue wurden viele Dörfer abgerissen. Die Grundstücke wurden weggebaggert und verschwanden im Tagebau. Mehr als 80.000 Menschen mussten umsiedeln. Die Braunkohle wurde in Kraftwerken zu Strom umgewandelt, zu Briketts gepresst, aus ihr wurde Stadtgas gemacht. Sogar die Hochöfen in den Stahlgießereien wurden mit Koks aus Braunkohle beheizt. Dann kam die Wiedervereinigung.
"Innerhalb von fünf Jahren sind 60-, 70.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Das steckt der Lausitz einfach in den Knochen."
Ein Schaufelradbagger fördert Braunkohle im Braunkohletagebau Jänschwalde.
Weil es in der DDR kaum Steinkohle gab, setzte man voll auf die Braunkohleförderung in offenen Gruben mit Schaufelradbaggern.© Picture Alliance / dpa / Patrick Pleul

Strukturwandel braucht Erinnerung

"Also das waren gewaltige Dinge, die da passiert sind."
Im Seehotel von Großräschen speist Helmut Franz zu Mittag. Das Hotel liegt nur ein paar Meter entfernt vom Großräschener See. Einst war dies der Tagebau Meuro, und das Seehotel hieß Ledigenheim. Hier wohnten die Bergarbeiter.
"Wir waren, was den Bergbaubereich anbetrifft, über 70.000 Leute. Und im Jahre 94 etwa war das schon heruntergeschmolzen auf 24.000."
Franz stammt aus einer Bergbaudynastie. Sein Vater und sein Großvater haben in der Braunkohle gearbeitet. Inzwischen ist er Mitte 60 und Rentner. Er war zu Wendezeiten Betriebsrat im Tagebau Welzow-Süd.
"Durch die Unternehmen beziehungsweise Betriebsräte musste das ja begleitet werden. Da war eine Maßnahme der betriebliche Vorruhestand, wo wir versucht haben, möglichst gute Konditionen für unser Kollegen herauszuverhandeln. Damit sie nicht ins Bergfreie fallen, so wie das hieß. Sondern damit sie mit ihrem Einkommen einigermaßen hinkommen."
Franz, der sein ganzes Leben in der Lausitz verbracht hat, musste seinen Kollegen raten:
"Regionalpolitisch ist es falsch, wenn ihr weggeht, aber euch bleibt gar keine Chance. Guckt euch um und gestaltet euer Leben. Ihr müsst nicht hier ausharren, sondern ihr müsst für euer Fortkommen sorgen. Junge, auch ältere Facharbeiter sind zum Teil bis nach Holland, und ein Teil pendelt heute noch. Aber ein Teil hat auch den Wohnsitz verlagert."

Sein ältester Sohn hat die Tradition seiner Familie fortgeführt. Er ist Bergbauingenieur geworden, in der Lausitz, und er hat Glück gehabt. Er wurde weiterbeschäftigt. Er ist jetzt Mitte 40. 2038 kann er mit den letzten deutschen Bergleuten in Rente gehen. Beruhigt das den Vater?
"Es ist ‘ne egoistische Betrachtung, genau: Was kommt danach? Was machen Jüngere? Und deswegen vermeide ich es zu sagen, er kommt vielleicht noch durch und andere nicht mehr. Das ist genau das Problem."
Helmut Franz singt mit Dietmar Woidke und Andreas Friedrich das Steigerlied auf dem Bergmannstag.
Helmut Franz (Mitte) stammt aus einer Bergbaufamilie. Zu DDR-Zeiten war er Betriebsrat im Tagebau Welzow-Süd.© Picture Alliance / dpa / Andreas Franke

Junge Menschen gehen weg

Heute wird in der Lausitz in vier Gruben noch Braunkohle gefördert. 60 Millionen Tonnen pro Jahr, die Wertschöpfung wird auf 1,4 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. Indirekt sollen immer noch über 20.000 Arbeitsplätze von der Kohle abhängen.
"Zwei Drittel der Beschäftigten in der Kohle sind über 45. Wenn man sagt, in 20 Jahren da würden viele in Rente gehen: Das ist eine relativ kleine Zahl, um die es geht. Aber die Herausforderung für die Region, für die Lausitz, liegt einfach darin, dass es eine strukturschwache Region ist. Und weil es obendrauf ist auf die ganzen Probleme, die die Region historisch einfach hat. Das ist potenziell – wie die meisten ländlichen Regionen – eine Region, die schrumpft, wo es weniger Einwohner geben wird, als es jetzt sind."
"Meine Tochter ist in Berlin, mein Sohn ist in der Eifel. Der Sohn meiner Nachbarin, der eine in München, der andere in Berlin. Der dritte Sohn auch in Berlin, bei Vattenfall. Der nächste ist auf dem Abflug. Die Tochter des Nachbarn ist jetzt in Dresden. Also hier, in Ermangelung von Arbeit im Bergbau, sind die alle abgewandert dorthin, wo es gut bezahlte Jobs gibt."

Heinz Müller ist in der Lausitz aufgewachsen. Er hat sein Leben lang im Tagebau gearbeitet. Jetzt, im Ruhestand, organisiert er Fahrradtouren durch die Lausitz. Es geht vorbei an Industrie-Ruinen und stillgelegten Backsteinfabriken.
"Hier gab es ein Spielzeugwerk für Kinderspielzeuge. Hier gab es ein Gleichrichterwerk für Germanium-Gleichrichter. Hier gab es ein riesengroßes Klinkerwerk, das die ganze Republik mit hartgebrannten Klinkern für ihre Schornsteine versorgt hatte. Hier gab es drei Brikettfabriken. Hier gab es ein Leichtbaukombinat. Hier gab es eine Glashütte. Sind wir gerade vorbeigefahren..."
Es gab nicht nur Kohleindustrie in der Lausitz, sondern auch Textilfabriken, Maschinenbau, Landwirtschaft. Insgesamt sollen hier seit der Wiedervereinigung 180.000 Jobs verlorengegangen sein. Und jetzt soll auch noch die letzte verlässliche Industrie dichtmachen?
"Wir haben hier Glassandvorkommen. Wir könnten die ganze Republik mit der dritten Glasscheibe versorgen. Kohle haben wir noch für die nächsten 200 Jahre. Und wenn man die neueste Technik für die Verwertung der Rohstoffe anwendet, dann hat man Zukunft."
Die Ruine des ehemaligen Glaswerks Haidemühl aus der Vogelperspektive aufgenommen.
Früher gab es nicht nur Braunkohle in der Lausitz, sondern etwa auch Textilfabriken, Maschinenbau, Landwirtschaft.© Picture Alliance / Andreas Franke

Kohleausstieg in Deutschland, in anderen Ländern nicht

Richtig ist: Die Entscheidung, aus der Kohleverstromung auszusteigen, ist eine politisch motivierte Entscheidung. Die Bundesregierung will auf diese Weise die Pariser Klimaschutzziele erreichen.
"Wenn man sich so äußert, ist man sofort ein Klimaleugner oder ein Klimaverweigerer. Man hat keine Chance in dieser aufgeheizten Atmosphäre seine Argumente... Man will die ja gar nicht hören."
Zugleich wird anderswo auf der Welt die Kohleförderung ausgebaut. Etwa in Polen. In Tschechien. Und in Mosambik.
Zu DDR-Zeiten pflegte Heinz Müller enge Kontakte zu dem westafrikanischen Land. Er war selbst einige Monate dort. Aufbauhilfe leisten. Im sozialistischen Bruderstaat, wie es damals hieß.
"Ein Konsortium der Chinesen, der Inder und der Brasilianer hat in kürzester Zeit die Steinkohlevorkommen erschlossen. Die Chinesen haben eine 1000 Kilometer lange Eisenbahnverbindung gebaut von der Steinkohleförderung bis zum Indischen Ozean. Die letzte Nachricht war, dass sie 16 Millionen Tonnen Steinkohle pro Jahr fördern. Ziel sind 20 Millionen."
"Wenn man das vergleicht, wo die Lausitz heute steht, dann muss man sagen: Da wird die Region nicht mehr hinkommen", sagt Timon Wehnert vom Wuppertal Institut. "Weil der große Rahmen sich gewandelt hat. Weil diese Bedeutung, nämlich da gibt es Braunkohle, und das ist wichtig für ein ganzes Land – diese Bedeutung wird sie absehbar für die Bundesrepublik nicht mehr haben. Wenn man hofft, dahin wieder zurückzukommen, dann ist man natürlich immer enttäuscht."

Ein Aufbruch ins Unbekannte

Im Ruhrgebiet zeigten sich schon früh die hausgemachten Probleme einer Bergbauregion.
"Über Generationen sind gerade Bergbauregionen – Kohleregionen – großindustrielle Regionen… Die haben ein Verhältnis von industriellen Arbeitgebern und Angestellten. Im Ruhrgebiet gab es bis in die 60er-Jahre keine Universität. Man hat quasi von bestimmten Stellen aus bewusst die Menschen in Abhängigkeit gebracht. Das hieß, es gab keine Universität lange Zeit, das hieß aber auch: Die Kohlebergbaufirmen haben ihre Flächen nicht an andere freigegeben, obwohl sie sie gar nicht benutzt haben. Es gab die Bodensperre, wo sie strategisch gesagt haben: Wir behalten unsere Flächen, weil, wenn sich andere Firmen ansiedeln, dann bieten sie vielleicht lukrativere Jobs an. Und wir haben Schwierigkeiten, Kohlekumpels zu bekommen."
Unternehmerisches Denken war in der Bevölkerung eher schwach ausgeprägt. Das war in der kollektiven Planwirtschaft der DDR ganz ähnlich.
"Genau das, was wir in Regionen haben wie Baden-Württemberg, wo es lang tradierte Familienunternehmen gibt, die aber auch einen guten Kapitalstock haben. Denen gehört ein Stück Land, denen gehört eine Firma. Das können die Kinder übernehmen. In Ostdeutschland gibt es das viel weniger. Und in der Lausitz gibt es das zweimal nicht. Und das ist natürlich auch viel schwieriger, da eine gute Gründerszene oder neue Firmen aufzubauen, die von unten wachsen."
"Früher hat der Bergmann einfach dafür gesorgt, dass wir alle eine warme Wohnung hatten und dass es Licht gab. Es gab schon immer diesen Spruch: Ich bin Bergmann, wer ist mehr?"

Kathrin Winkler, gelernte Vermessungsingenieurin, war bis kurz nach der Wiedervereinigung im Bergbau tätig. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie in der Grube Meuro stand, die heute ein See ist. Nach der Wende studierte sie Marketing. Heute sitzt sie in einem Büro am Hafen der Kreisstadt Senftenberg und ist für die touristische Vermarktung des Lausitzer Seenlands zuständig. Sie erzählt von den Sandstränden und den Fahrradwegen, von Yachthäfen und schwimmenden Häusern.
"Ich persönlich habe das Gefühl, das hat so ein bisschen was wie Goldgräberstimmung. Also es ist wirklich so, dass die Region möchte, dass ganz viele Partner der Überzeugung sind, dass hier was passiert. Vom Einheimischen, vom Investor…, dass man sich vorwärtsbewegt."
Und sie erzählt von den Schwierigkeiten, aus dem Tagebaurevier eine Touristenregion zu machen.
"Also das ist eine der größten Herausforderungen, diese Willkommenskultur in der Region auch anzusiedeln."
Die schlägt sich in Wahlergebnissen nieder. Bei der Landtagswahl 2019 kam die AfD im Wahlkreis Oberspreewald-Lausitz II, in dem Senftenberg liegt, auf knapp 30 Prozent der Stimmen. Fast jeder Dritte hat rechtsradikal gewählt.
"Dieses Zeichen von der AfD ist ein ganz wichtiges Achtungszeichen, um zu sagen: Wir müssen hier viel stärker noch mit der einheimischen Bevölkerung reden. Wir müssen sie in dem gesamten Prozess mitnehmen. Ja, an der Stelle, denke ich mal, sind wir alle gefordert."

"Unsere Zimmer sind alle unterschiedlich. Die haben alle einen Blick auf den See? Ja. Und alles in diesem maritimen Stil. Wir sind ja so Wasserkinder, wir fahren Boot, wir sind gern am Wasser..."
Heike Struthoff führt durch ihr Hotel am Ufer des Geierswalder Sees, das nach dem Corona-Lockdown jetzt wieder für Gäste geöffnet ist. Der See, wie fast alle Seen hier, war auch er früher ein Tagebau, wirkt endlos – wie ein Binnenmeer. Vom Hotel aus blickt man auf eine Steganlage für Boote, entlang des Ufers schließen sich Ferienhäuschen an. Der Blickfang des Ensembles ist ein rot-weiß gestreifter Leuchtturm.
"Wir wollten klar darstellen: Wir sind jetzt im Tourismus angekommen. Der Bergbau ist vorbei. Und wollten diesen Leuchtturm als Symbol, als Landmarke, für diesen Neuanfang bauen."
Heike Struthoff ist eine Unternehmerin, wie sie in der Lausitz dringend gebraucht wird. Ihr Vater hatte eine Minol-Tankstelle, nach der Wende wurde daraus ein Autohaus. Struthoff lebte kurzzeitig in Berlin, wo sie eine Ausbildung in der Gastronomie machte. Sie kehrte zurück und übernahm das Autohaus. 2004 entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Mann die Pläne für das Hotel.
"Die Liebe zur Gastro ließ uns halt nie los. So dass wir im Wassersportverein gelandet sind, hier unten, direkt bei uns vor der Tür. Damals war es keine Steganlage, es war wirklich nur der blanke Sand. Und dann haben wir da mit unserer Decke, unserem Kaffee, unserem Kuchen überlegt: Was können wir denn hier machen?"
Ein Jahr später wurde der erste Gebäudeteil eröffnet. Heute stecken acht Millionen Euro in dem Komplex. 34 Arbeitsplätze hat Struthoff geschaffen, drei Ausbildungsplätze. Bis zur Coronakrise lief das Geschäft wie am Schnürchen. Jetzt hofft die Unternehmerin, dass der Betrieb schnell wieder anläuft. Die grundsätzlichen Probleme liegen in der Infrastruktur. Im langsamen Internet. Den schwachen Kapazitäten des Stromnetzes. Und in der Abhängigkeit der Branche von den Jahreszeiten. Struthoff hat beschlossen, ihre Mitarbeiter das ganze Jahr lang zu beschäftigen. Dazu hat sie Arbeitszeitkonten eingeführt.
"Die Mitarbeiter wissen das. Das kriegen sie bei ihrer Einstellung auch gleich gesagt, dass wir im Sommer alle ranmüssen. Wir müssen uns den Speck im Sommer anfressen, damit wir ihn im Winter wieder abtrainieren."
Arbeiter und Arbeiterinnen stehen neben einem Förderband auf dem Betriebsgelände des VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe.
Schon früher existierte in der Lausitz der Spruch: "Ich bin Bergmann, wer ist mehr?"© akg-images / Picture Alliance / Erich Schutt
Seebrücke und Weinhänge am Großraeschener See.
Die Flutung des Grossraeschener Sees (Ilse-See) ist fast abgeschlossen - sie läuft seit dem Jahr 2007.© Picture Alliance / Andreas Franke

Strukturwandel ist ein Spagat

"Vor diesem Hintergrund finde ich diese Versprechung: ´Ja, jeden Job, den wir da hatten, werden wir ersetzen` – vielleicht auch noch ´in der Industrie ersetzen` – finde ich eine sehr schwierige Versprechung. Gerade wenn man die Lausitz in einem engen Sinn nimmt", meint Timon Wehnert. "Wenn man das bisschen breiter nimmt und sagt, wir nehmen den Berliner Speckgürtel dazu, wo sich Tesla angesiedelt hat, dann kann man das schaffen. Im engeren Sinne, also gerade in den Landkreisen, wo wirklich die Kohlejobs aktuell sind, wird das sehr schwierig werden. Ich glaube, dem muss man realistisch ins Auge schauen."
Zum einen soll in der Lausitz Tourismus entstehen. Zum anderen will man die "Energiekompetenz in der Region halten". Denn auch Vorboten einer neuen Industrie gibt es. Das Braunkohle-Unternehmen LEAG errichtet Windräder und baut an einem großen Batteriespeicher, der Stromschwankungen auffangen soll. Der Chemiekonzern BASF will Batterien für Elektroautos in der Lausitz bauen. Die Fabrik des Elektroautoherstellers Tesla hingegen entsteht am Stadtrand von Berlin – weit weg von der Lausitz.
Der Aufbau einer neuen Industrie wird nicht leicht. Experte Timon Wehnert:
"Wenn ich ein Investor bin, ist natürlich schon die Frage: Warum soll ich in die Lausitz gehen? Warum gehe ich nicht zumindest nach Bitterfeld oder nach Leipzig? Oder dann Leverkusen oder Ludwigsburg? Ich glaube, das ist ein globaler Trend gerade in der Großindustrie, Grundstoffindustrie, dass es zu Konzentrationseffekten kommt. Die kleinen Standorte werden es einfach schwer haben, sich zu halten."

Entwicklung braucht vor allem auch – Geld

Wer weiß, was noch alles nachkommt in der so genannten Bergbaufolgelandschaft? Für die Sanierung von Tagebauen in der Lausitz und in Mitteldeutschland hat die staatliche Gesellschaft LMBV schon mehr als elf Milliarden Euro ausgegeben. Und die Arbeit ist längst nicht beendet.
Draußen auf dem Großräschener See, zieht ein Schiff seine Bahnen. Es zieht einen weißen Schleier hinter sich her. Was hat es damit auf sich? Uwe Steinhuber von der LMBV.
"Und immer dann, wenn sehr viel Wasser in den Flüssen ist, also im Herbst, Winter, Frühjahr, greifen wir zu, nehmen Überschusswasser ab und leiten es in diese Bergbaufolgeseen ein. Aber wir haben einen mineralischen Zustrom aus dem Gebirge ringsrum, der Eisenbestandteile, Schwefelbestandteil mit sich bringt und zu einer leichten Versauerung dieser Gewässer führt. Das heißt, es ist ein sehr saures Milieu. Dem kann man entgegenwirken, indem man sehr gezielt mit einem Bekalkungsschiff immer wieder dosiert nachneutralisieren muss, um eine gute Wasserqualität dieser künstlichen Gewässer zu erreichen. An die setzt sich wiederum eine Nachsorgephase an, und das kann durchaus ein Prozess von 25 Jahren sein, die hier in der Lausitz diese künstlichen, von Menschenhand hergestellten Gewässer bedürfen."
Auch Baggerschiffe sind unterwegs, um an den Ufern und Inseln im See zu arbeiten. Im Juli 2008 geriet in Nachterstedt (*) das Ufer eines Tagebau-Sees ins Rutschen und zog mehrere Häuser in die Tiefe. Drei Menschen kamen ums Leben.
Die rauchenden Schornsteine des Braunkohlekraftwerks Schwarze Pumpe mit Langzeitbelichtung fotografiert.
Nur noch vier Tagebaue sind derzeit in der Lausitz aktiv.© Picture Alliance / Andreas Franke
Sobald die vier letzten aktiven Tagebaue in der Lausitz geschlossen werden, muss das zuständige Bergbauunternehmen LEAG die Renaturierung und Nachsorge übernehmen. Der dahinterstehende tschechische Konzern EPH will dafür 770 Millionen Euro Rückstellungen bilden.
"Was heißt denn Rückstellungen? Das ist ja nicht Geld in Euros, die sie auf die Bank legen, und die liegen da. Sondern der Gegenwert, sind Dinge, die zur Firma gehören. Zum Beispiel Kraftwerke. Aber wenn jetzt die Kraftwerke weniger wert sind, weil man Kohlestrom perspektivisch nicht mehr verkaufen kann und diese Kraftwerke zumachen muss, dann sind natürlich diese Rückstellungen auch weniger wert. Das heißt, das Risiko besteht, dass die Bergbaufirmen die Bergbaufolgekosten nicht oder nur teilweise bezahlen können."
Dann wird der Staat einspringen müssen. In Deutschland gibt es dafür klare Regelungen, so Wehnert. Anders als etwa in den USA. Er erzählt von einer stillgelegten Mine dort, aus der giftiger Schlamm entweicht. Das Bergbauunternehmen gibt es nicht mehr. Nun kämpft eine Bürgerinitiative aus der nahe gelegenen Kleinstadt um staatliche Hilfe, um den verseuchten Fluss zu sanieren.
Im Ruhrgebiet wurden dereinst alle Bergbauunternehmen fusioniert und in eine Stiftung umgewandelt. Der RAG-Stiftung gehören Unternehmensbeteiligungen, Grundstücke, Immobilien. Aus deren Fonds werden die so genannten Ewigkeitskosten beglichen.
"Das Ruhrgebiet hat sich ja durch den Bergbau teilweise bis zu 20 Meter abgesenkt. Das heißt, wenn man da nicht pumpen würde, würde das ganze Ruhrgebiet volllaufen. Man hätte da eine Sumpflandschaft. Und das muss auf immer und ewig, so lange wie wir Menschen da leben lassen wollen, muss das weiter abgepumpt werden."

Geld vom Bund aber noch kein richtiges Konzept

Zusätzlich, als Hilfe für den Strukturwandel, sollen die Kohleregionen Hilfen in Höhe von 40 Milliarden Euro vom Bund bekommen. Die Lausitz rechnet mit 17 Milliarden Euro. Was soll mit dem Geld passieren? Ein Konzept aus einem Guss gibt es nicht. Nur Wunschlisten. Der öffentliche Nahverkehr zwischen Brandenburg und Sachsen soll ausgebaut werden.
Die Großstädte Dresden und Berlin sollen per Zug besser erreichbar sein. Die Autobahn soll eine weitere Spur bekommen. Die Technische Universität Cottbus soll um eine medizinische Fakultät erweitert werden. Ein Fraunhofer-Institut wurde bereits eröffnet. Dort sollen 40 bis 50 Arbeitsplätze entstehen. Ein Amerikaner würde wohl sagen: Peanuts.
"Da geht es auch um mehr als um Wirtschaftsförderung, sondern da geht es darum, dass man die Region insgesamt gut aufbaut. Da geht es darum: Ist es da schön zu wohnen? Hab ich da eine gute Kita? Hab ich da eine gute Verkehrsanbindung? Gibt es einen schnellen Zug? Gibt es gutes Internet? Gibt es Freizeitmöglichkeiten, gibt es eine gute Kulturszene? Und ähnliche Sachen. Weil das, glaube ich, ist für junge Leute, die eine Ausbildung gemacht haben und überlegen, ob sie dableiben oder gehen, neben dem Job natürlich eine wichtige Frage."

Mit etwas Gelassenheit die Zukunft bestreiten

"Es geht um dein Leben. Das Leben ist hart. Da musst du durch..."
Im Stadttheater von Senftenberg probt Franziska Golk mit einem Dutzend Jugendlichen ein Theaterstück ein. Es ist eine der letzten Proben, bevor das Theater wegen Corona geschlossen wird. Im Stück geht es um Zukunft. Nicht um die der Lausitz, sondern um ihre ganz persönliche Zukunft.
"Okay. Es gibt nichts. Gar nichts."
Die Regisseurin Franziska Golk ist in Großräschen aufgewachsen. In ihrer Jugend hat sie selbst eine Theatergruppe ins Leben gerufen – mit großem Erfolg. Im sächsischen Merseburg hat sie dann Medienpädagogik studiert. Von dort aus ist sie aber nicht weitergezogen, nach Dresden, Leipzig oder Berlin. Sie ist in die Lausitz zurückgekehrt.
"Irgendwie war ich hier sozial sehr eingebunden und auch künstlerisch sehr eingebunden. Und mir hat das gefallen, mich ganz frei zu entfalten. Das ist mir nirgendwo anders so gelungen wie hier. Und deshalb bin ich zurückgekommen."
Freie Entfaltung? Mit diesem Begriff hat man die Lausitz bislang nicht zusammengebracht.
"Erstaunlicherweise sind die Menschen, mit denen ich Theater gemacht habe, fast alle hiergeblieben. Sie waren durch die Bank weg beim Studium und kamen dann wieder zurück. Was daran liegt, dass wir eine Plattform gebildet haben, damit sie sich hier kulturell betätigen können und ausleben können."
Auch die zehn jungen Schauspielerinnen wollen fast durchweg hierbleiben. Höchstens zum Studium wollen sie wegziehen, aber danach zurück in die Heimat, wo sie ihre Nachbarn kennen und schätzen.
Um keinen Preis möchte Franziska Golk hier weg. Sie liebt das Leben auf dem Land und in dem Bauernhaus, das sie mit gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und mit Freunden bewohnt.
"Was ich wirklich hoffe, ist, dass die Menschen, die hier leben, auch irgendwann diesen Wandel mitgehen. Sie verstehen, dass etwas passiert, aber gehen nicht mit und sehen das Positive noch nicht ausreichend daran. Das wäre sehr schön, wenn das passiert, denn dann können wir alle gemeinsam ein bisschen mehr schaffen."
*An dieser Stelle haben wir eine Ortsangabe korrigiert.

Autor: Mirko Heinemann
Sprecherin und Sprecher: Inka Löwendorf und Jan Uplegger
Regie: Frank Merfort
Redaktion: Carsten Burtke

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