Energiewende

Alles steht und fällt mit dem Stromnetzausbau

Der Offshore-Windpark Butendiek, aufgenommen am 15.08.2016 etwa 30 Kilometer vor der Insel Sylt (Schleswig-Holstein) in der Nordsee. Die Stromproduktion der Windparks in der Nordsee hat sich im ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt.
Offshore-Windpark in der Nordsee: Wie kommt die grüne Energie von Nord- nach Süddeutschland? © dpa/Daniel Reinhardt
Von Oranus Mahmoodi · 24.07.2018
In Norddeutschland wird bereits viel Windenergie erzeugt: Um diese zu nutzen, braucht es aber Leitungen und die fehlen - denn der Stromnetzausbau stockt. In Hamburg und Schleswig-Holstein fühlt man sich von der Bundesregierung im Stich gelassen.
"Wir sind hier bei den Stadtwerken in Norderstedt, wo die NEW 4.0 Roadshow Station macht, die NEW 4.0 Roadshow ist ein Projekt, eine Wanderaustellung kann man sagen, die den Menschen die Energiewende näher bringen will.
Wir kommen mit einem großen Exponat hierher, aber wir haben auch eine VR-Brille im Gepäck, mit dieser VR-Brille kann man sich in schwindelnde Höhen begeben, auf einer Offshore-Energieanlage und kann dann bei Möwengeschrei ziemlich tief in die Tiefe gucken und auch ein bisschen Schwindelgefühle dabei bekommen..."
Die Energiewende – ein Mega-Projekt. Deutschland will weg vom Atomstrom, weg von der Kohlekraft, hin zu Erneuerbaren Energien. NEW heißt norddeutsche Energiewende. Es ist eins von fünf Projekten, das vom Wirtschaftsministerium gefördert wird. 60 Partner aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik unterstützen das Projekt.
Die Sprecherin Sandra Annika Meyer ist auch für die Akzeptanzförderung zuständig:
"Wir haben auch eine Akzeptanzstudie gemacht, die gezeigt hat, dass die Menschen Klimaschutz wahnsinnig wichtig finden, auch alle hinter der Energiewende stehen, aber bei den technologischen Details einfach aussteigen und sich wenig dahinter vorstellen können."
Es geht um gewaltige Trassen von Nord nach Süd, also um Stromnetze, die große Energiemengen von den Windparks in Nord- nach Süddeutschland transportieren müssen. Denn die Windkraftanlagen auf See und an Land produzieren den Großteil der grünen Energie.

Strom aus dem Norden muss in Industriezentren des Südens

Der Strom aus dem Norden, aus Ostfriesland, aus Brunsbüttel muss in die Industriezentren in Bayern und Baden-Württemberg transportiert werden. Erst dann kann sich Deutschland von konventionellen Kraftwerken verabschieden. Dann klappt es auch mit der Energiewende.
Dass der Bau der Stromautobahnen nicht über Nacht geht, leuchtet jedem in der Erneuerbaren Energie-Branche ein. Trotzdem herrscht Unmut.
"Man wusste schon vor zehn Jahren, dass wir die Netze ausbauen müssen, es ist aber relativ wenig passiert. Die ganz großen Trassen von Norddeutschland nach Süddeutschland – das fangen wir jetzt erst wirklich mit an. Und man muss demensprechend sagen: Wir haben fünf bis zehn Jahre verloren. Und deshalb sind wir heute in der Situation, dass wir sagen müssen, die drei großen Nord-Süd-Trassen werden erst in 2025 fertig sein", sagt Jan Rispens.
Er ist der Geschäftsführer der Cluster-Agentur "Erneuerbare Energien Hamburg", einem Verbund von etwa 200 Unternehmen, die 25.000 Arbeitsplätzen in der Region schaffen. Im Cluster sind auch Universitäten beteiligt, es wird von der Stadt Hamburg unterstützt.
Jan Rispens: "Gemeinsam schaffen Hamburg und Schleswig-Holstein ungefähr 60 Prozent der Stromversorgung aus Erneuerbaren Energien – damit ist Hamburg/Schleswig-Holstein als Region deutlich weiter als der Rest des Landes. Und insofern haben wir natürlich schon einen hohen Druck im Norden, wir wollen, dass diese Entwicklung weiter vorangeht, weil wir sehr viele Unternehmen haben, die Windparks fertigen, die Windanlagen fertigen, die davon leben. Deswegen ist die Politik hier in Hamburg, aber auch in Schleswig-Holstein und Niedersachsen generell sehr stark dafür, dass die Energiewende jetzt zügig umgesetzt wird."
Norddeutschland sei den anderen Regionen um zehn Jahre voraus.

Braunkohlestrom verstopft in Deutschlands Mitte die Netze

Der Netzausbau ist wichtig für die Erneuerbaren, aber in den deutschen Trassen könnte jetzt schon wesentlich mehr grüne Energie fließen. Das Problem: Der Strom aus Braunkohlekraftwerken in Deutschlands Mitte verstopft die Netze. Es gibt einen Verdrängungswettbewerb.
Jan Rispens: "Das, was wir an Braunkohleenergie dort einspeisen, können wir von Erneuerbaren nicht vom Norden nach Süden transportieren, deswegen haben wir da auf jeden Fall eine Konkurrenzsituation, das würde die Erneuerbaren natürlich voranbringen, wenn da eine gewisse Braunkohleleistung vom Netz gehen würde."
Große Kapazitäten an Erneuerbaren Energien aus Windkraft müssen zeitweise abgeriegelt werden, damit es auf den Stromautobahnen nicht zum Kollaps kommt. Windenergie wird vergeudet, geht verloren.
Jens Kerstan (Bündnis 90/ Die Grünen), Umweltsenator von Hamburg, spricht am 31.5.2018 während einer Pressekonferenz zum Diesel-Fahrverbot in Hamburg.
Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan kritisiert die Versäumnisse der Bundesregierung.© picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Die Stadt Hamburg würde diese überschüssige Energie gerne in ihr Industrie-Areal leiten, dann müssten die Windräder nicht abgestellt werden.
"Im Moment ist der begrenzende Faktor gar nicht die Technologie – die haben wir. Es sind auch nicht die Unternehmen, die Unternehmen haben wir auch, es ist auch nicht das Geld. Wir könnten hier sofort um die 100 Millionen investieren, aber wir können es nicht, weil die Bundesregierung es unterlässt, die notwendige gesetzliche Regulierung den neuen Marktanforderungen anzupassen. Und das ist sehr ärgerlich", sagt der grüne Umweltsenator der Stadt, Jens Hinrich Kerstan. Den Hemmschuh der Energiewende trage die Bundesregierung.

Mehr Erdverkabelung und weniger Freiland-Leitungen geplant

Im Koalitionsvertrag hat die Regierung beschlossen, den Anteil der Erneuerbaren von den jetzigen 38 Prozent bis 2030 auf 65 Prozent zu steigern. Mit ihrer Energieeffizienz-Strategie will die Große Koalition den Energieverbrauch bis 2050 halbieren. Der Netzausbau soll über mehr Erdverkabelung und weniger über Freiland-Leitungen verstärkt werden.
Jens Hinrich Kerstan: "Man hat schon den Eindruck, dass jetzt doch die Lobby-Interessen der alten Welt, der alten Industrien, Oberhand gewinnen bei der Bundesregierung gegenüber den Interessen zukünftiger Generationen und neuen Industrien, und die Bundesregierung überall auf die Bremse drückt, anstatt die nächsten Schritte voranzugehen, zu ermöglichen, um die Energiewende erfolgreich zu machen. Das sind ja alles Projekte, die erneuerbaren Strom auch günstiger machen.
Und man merkt aber ganz einfach, dass die Bundesregierung den Ausbau der Erneuerbaren bremsen will und im Grunde genommen die vorhandenen Begrenzungen der Netze dazu nutzt als Ausrede, um jetzt einfach nichts mehr zu tun."
Deutschland war einst ganz weit vorne, ein Vorreiter im Umweltschutz. Nun stockt es bei einer wichtigen Stellschaube: dem Stromnetzausbau für die Erneuerbaren. An der Energiewende hängt auch die Verkehrswende: Ohne grünen Strom sind Elektroautos nicht umweltfreundlich.
Was fehle, sei der politische Wille, sagt der Hamburger Senator für Umwelt und Energie:
"Ich würde mir sehr wünschen, dass man den Ausbau der Erneuerbaren nicht deckelt und zurückfährt. ... Sondern dass die Bundesregierung ihre Hausaufgaben macht und endlich die Dinge in die Wege leitet, für die sie zuständig ist. Nämlich die notwendige Gesetzgebung zu veranlassen, damit wir ein System aus Erneuerbaren Energien bauen können, wo wir am Ende zu 100 Prozent klimafreundliche Energie produzieren."
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