Deutschland und die Energiewende

Vom Klima-Musterschüler zum Bremser?

Wasserdampfschwaden steigen aus den Kühltürmen des Braunkohlekraftwerkes Jänschwalde
Noch lange nicht von gestern: Braunkohlekraft in Deutschland © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Gäste: Eicke Weber, Fraunhofer-Institut und Thilo Schaefer, Institut der deutschen Wirtschaft Köln · 19.11.2016
Einst war Deutschland Vorbild beim Umweltschutz. Vorbei. Der Klimaschutzplan der Bundesregierung ist eine Schande, sagt Solarexperte Eicke Weber. Thilo Schaefer vom Institut der deutschen Wirtschaft meint, Kohleausstieg ja – aber erst, wenn wir ihn uns leisten können.
Ist das Weltklima noch zu retten – und wenn ja, wie? Darum ging es erneut beim 22. UN-Klimagipfel in Marrakesch. Verhandelt wurde die konkrete Umsetzung des Pariser Abkommens, auf das sich 195 Länder im vergangenen Jahr geeinigt hatten und das am 4. November in Kraft getreten ist. Mitunterzeichner des Abkommens ist auch Deutschland, das lange als Vorreiter und Vorbild für die Energiewende gefeiert wurde. Doch das Musterschüler-Image hat längst Kratzer bekommen. Spätestens seitdem Bundesumweltministerin Barbara Hendricks mit einem deutlich abgespeckten und entschärften Klimaschutzplan nach Marrakesch reisen musste, fragen sich viele, ob sich Deutschland nicht langsam zum Bremser der Energiewende entwickelt.

"Jeder erhaltene Braunkohlejob gefährdet zwei erneuerbare"

"Bis 2014 waren wir Vorreiter, aber jetzt sind wir deutlich mit im Bremserhäuschen", sagt Eicke Weber, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg. "In dem Moment, in dem uns die Welt bei der Energiewende folgt, treten wir in Deutschland auf die Bremse, weil man noch ein paar Jahrzehnte heimische Braunkohle nutzen will." An dem Klimaschutzplan der Bundesregierung lässt der Wissenschaftler kein gutes Haar: "Das was übrig geblieben ist, ist eine Schande. Es ist sehr, sehr traurig. Jeder Arbeitsplatz, der in der Braunkohleindustrie erhalten wird, gefährdet zwei bei den Erneuerbaren."
Weber, der auch Vizepräsident der International Solar Energy Society (ISES) ist, geht in Sachen Erneuerbare mit gutem Beispiel voran: Er fährt ein Brennstoffzellen-Fahrzeug mit Wasserstofftank, das an der institutseigenen solaren Wasserstoff-Tankstelle betankt wird. Ihm liegt an einer dezentralen Versorgung mit erneuerbarer Energien, bei der möglichst viele Bürger beteiligt werden – auch, um dem wachsenden Protest gegen Windräder und Stromtrassen entgegenzutreten: "Solar- und Windanlagen kann man dort aufstellen, wo der Strom benötigt wird. Also, bitte mehr Windräder nach Bayern und mehr Solaranlagen nach Baden-Württemberg, dann brauchen wir die ungeliebten Stromtrassen nicht."

"Die Techniken treten nicht in den Wettbewerb"

"Bei den erneuerbaren Energien sind wir sicherlich Vorreiter beim Ausbau, auch in der Effektivität sind wir sehr gut", sagt Thilo Schaefer. Er leitet das Kompetenzfeld Umwelt, Energie, Infrastruktur am Institut der deutschen Wirtschaft Köln. "Ob wir vorbildlich sind, ist eine andere Frage. Das, was wir machen, ist zu teuer. Weil wir vorgeben, welche Technologie wie gefördert wird. Die Techniken treten nicht in den Wettbewerb – und es wird nicht dort gebaut, wo es besser wäre. Wir schleppen 20 Jahre Förderung mit uns herum, dabei ist die Solarenergie besonders kostenintensiv."
Dass in dem Klimaschutzplan kein konkreter Ausstiegstermin für die Kohle steht, hält er für sinnvoll. Es sei zwar klar, dass die Kohle zurückgefahren werde, aber dies müsse passieren, "wenn wir es uns leisten können."
Bei einem festgelegten Ausstiegstermin müssten die Erneuerbaren verlässlich liefern, es gebe jedoch immer noch große Unsicherheiten beim Netzausbau und der Speicherkapazität. Sein Fazit: "Wir brauchen Kohle und Gas, um solche Ausfälle zu kompensieren."
Vom Vorreiter zum Bremser? Deutschland und die Energiewende
Darüber diskutiert Matthias Hanselmann von 9:05 Uhr bis 11 Uhr mit Eicke Weber und Thilo Schaefer. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandradiokultur.de – und auf Facebook und Twitter.
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