Kommentar: Energiequelle Kernfusion

Wachstum ohne Reue?

04:29 Minuten
Ein Wissenschaftler steht als winzig erscheinende Figur auf dem Dach eines technisch komplex aufgebauten Fusionsreaktors.
Energie aus der Verschmelzung kleinster Teilchen: Noch ist die Kernfusion im Experimentierstadium. Könnte sie eine klimafreundliche Energiequelle der Zukunft werden? © Getty Images / Image Source / Monty Rakusen
Von Pauline Pieper · 18.12.2022
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US-Forschern ist ein Durchbruch bei der Kernfusion gelungen. Die Technologie soll die Produktion enormer Energiemengen ermöglichen – fast ohne schädliche Rückstände. Eröffnet sie einen sauberen Ausweg aus der Klimakrise? Pauline Pieper ist skeptisch.
Die Sonne auf Erden – das ist das Versprechen der Kernfusion. Was die Sonne schon seit Milliarden Jahren zum Glühen bringt, soll auch auf der Erde möglich sein: das Verschmelzen von Atomkernen und die Freisetzung gigantischer Energiemengen.
Zum ersten Mal ist es Forschenden offenbar gelungen, bei einem Fusionsexperiment mehr Energie zu erzeugen als zuvor aufgewandt wurde. Dieser Fortschritt hat lang gehegte Hoffnungen reaktiviert. Denn die Kernfusion scheint einen Ausweg aus der Klimakatastrophe zu weisen: Als sichere, unbegrenzte und nahezu emissionsfreie Energiequelle birgt sie das Potenzial, uns vor dem planetaren Hitzetod zu bewahren.

Erderwärmung ist nur das Symptom

Und trotzdem stellt sich die Frage: Wäre eine unbegrenzte Energiequelle überhaupt das Heilmittel für unseren überstrapazierten Planeten? Mal abgesehen davon, dass nach wie vor nicht abzusehen ist, wann Fusionskraftwerke tatsächlich in Betrieb genommen werden können.
Dass in der Kernfusion die Welten-Rettung liegt, ist zu bezweifeln. Denn allein die Verringerung von Emissionen wird die Bewohnbarkeit der Erde nicht sichern können. Die Erderwärmung ist nur das Symptom eines sehr viel tiefer liegenden Problems. Ausdruck findet es gerade in dem, was als Lösung präsentiert wird: im modernen westlichen Anspruch, sich die Welt unbegrenzt verfügbar zu machen.
Pauline Pieper steht in einem Park, im Hintergrund in der Unschärfe sind Bäume zu sehen, und schaut lächelt in die Kamera.
Selbst wenn uns unbegrenzt Energie zur Verfügung stünde, müssten wir lernen, mit den Grenzen von Mensch und Erde umzugehen, meint Pauline Pieper.© Birte Mensing
Ihren Ursprung findet diese Haltung schon in der griechischen Mythologie. Der Titan Prometheus stahl den Göttern das Feuer, um es den Menschen zu geben. Das Feuer, Symbol für die Technik, sollte es ihnen fortan erlauben, die Natur zu beherrschen. In der Welt der griechischen Mythen blieb diese Anmaßung freilich nicht ungestraft.

Drang nach grenzenlosem Wachstum

Die Götter fesselten Prometheus bekanntlich an einen Berg und verwiesen somit auch die Menschen in ihre Schranken. In der Moderne jedoch wurde Prometheus endgültig "entfesselt", – wie es der Philosoph Hans Jonas formulierte. Mit den Mitteln der Technik machte sich der moderne Mensch die Natur untertan und schwang sich selbst zum Herrscher auf. Grenzenloses Wachstum wurde zum dominierenden Paradigma.
Dass dieses Paradigma geradewegs in die Katastrophe führt, ist mittlerweile unübersehbar. Denn es gibt nun einmal Grenzen, die nicht überschritten werden sollten. Wir sind Teil eines sensiblen Ökosystems, das uns Nahrung, Wasser und Luft bietet. Doch mit unserem unersättlichen Expansionsdrang sind wir drauf und dran, eben diese Existenzgrundlagen zu zerstören.

Verlust der Artenvielfalt

Natürliche Lebensräume werden verwüstet, die Meere überfischt, Wälder gerodet, der Boden vergiftet. Die UN-Weltnaturkonferenz gemahnt uns dieser Tage: Es ist keineswegs nur der exorbitante CO2-Ausstoß, der die Erde unbewohnbar zu machen droht. Der Verlust der Biodiversität ist ebenso verhängnisvoll.
Aber nicht nur an den natürlichen Lebensgrundlagen stößt die Steigerungslogik an Grenzen. Auch unsere menschlichen Ressourcen sind limitiert. Phänomene wie Burn-out zeigen: Der Wachstumsimperativ trifft auf eine Belastungsgrenze der menschlichen Konstitution.

Anders leben, Grenzen respektieren

Immer mehr leisten zu müssen, immer mehr haben zu wollen, macht nicht nur krank, sondern auch nicht glücklich. So deuten Studien darauf hin, dass die Lebenszufriedenheit selbst dann, wenn der Wohlstand zunimmt, ab einem bestimmten Niveau nicht weiter steigt.
Eine unbegrenzte Energiequelle allein wird uns also nicht retten. Wir müssen unsere wachstumsgetriebene Lebensweise grundlegend ändern. Die Kernfusion als saubere und sichere Energiequelle wäre ohne Zweifel ein Gewinn. Aber selbst wenn uns unbegrenzt viel Energie zur Verfügung stünde, bräuchte es trotzdem ein Bewusstsein von den Grenzen des Wachstums, den Grenzen der planetaren und auch der menschlichen Ressourcen.
Diese Grenzen zu achten, hieße nicht, Prometheus wieder an den Felsen zu fesseln. Aber wenn wir eine Zukunft haben wollen, müssen wir ihn dringend an die Leine nehmen.

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