EncroChat-Hack

Ermittlungscoup oder gefährliche Massenüberwachung?

30:23 Minuten
Illustration: Staatliche Überwachung. Auge und Lupe über einem Mensch.
Allein in Deutschland konnten die Behörden mithilfe der Daten aus dem EncroChat-Hack rund 2700 Ermittlungsverfahren einleiten. © imago / Ikon Images / Nanette Hoogslag
Von Anna Loll · 14.02.2022
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EncroChat stellt abhörsichere Handys her. Viele Kriminelle haben darüber kommuniziert. Daher haben französische Behörden das Unternehmen gehackt. In Deutschland wäre das womöglich illegal gewesen, vor Gericht werden die Daten trotzdem verwendet. Mit Recht?
2. Juli 2020, Pressekonferenz in Den Haag, bei der EU-Behörde Eurojust. Sie koordiniert grenzüberschreitende Strafverfahren in Europa. Das Thema der Konferenz: „Zerschlagung eines verschlüsselten Kommunikationsnetzes, genutzt von Gruppen der organisierten Kriminalität“. Carole Etienne hat das Wort. Sie ist Staatsanwältin in Lille. 

„Guten Tag an alle! Seit etwa zwei Wochen kursieren in mehreren europäischen Medien ungenaue oder bruchstückhafte Informationen über Telefone, die das sichere Kommunikationsmittel EncroChat verwenden, nachdem in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 2020 eine Sicherheitswarnung an die Kunden verteilt wurde, in der darauf hingewiesen wurde, dass der verschlüsselte Dienst ‚Opfer‘ eines - ich zitiere – ‚Zugriffs durch Regierungsstellen‘ sei. Den KundInnen wurde geraten, ihr Gerät physisch zu entsorgen. Aus diesem Grund ist es heute unerlässlich, dass der Öffentlichkeit objektive Informationen zur Verfügung gestellt werden.“

Und zwar vor allem die Information, dass hier alles legal zugegangen sei: „Im Gegensatz zu den Behauptungen des EncroChat-Netzwerks, die von der internationalen Presse wiederholt wurden, war alles, was in Frankreich von den französischen Behörden unternommen wurde, völlig rechtmäßig und genehmigt.“

Der Hack

Die französische Gendarmerie stieß seit etwa 2017 vor allem im Drogenmilieu immer wieder auf verschlüsselte Mobiltelefone des Unternehmens EncroChat. Sie begann zu ermitteln, bald mit Hilfe von Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden. Die Ermittler ersuchten das Gericht in Lille, EncroChat hacken zu dürfen. Die Erlaubnis dafür bekamen sie Ende Januar 2020. Spätestens Ende März 2020 schien der Hack dann gelungen zu sein: Die Behörden fingen für rund zwei Monate die gesamte Kommunikation der EncroChat-Nutzer und -Nutzerinnen aus 122 Ländern ab. 

Die Sache mit der Rechtmäßigkeit ist dabei jedoch nicht so unstrittig, wie es die Staatsanwältin aus Lille in der Pressekonferenz vom Juli 2020 darstellt. Wie viele Menschen genau den verschlüsselten Dienst nutzten, darüber gibt es unterschiedliche Angaben: Manche Dokumente nennen die Zahl 32.000, andere Berichte 60.000 oder 70.000. Nach Schätzungen der Gerichte und der Polizei sind viele von ihnen kriminell, etwa 70 bis 90 Prozent. Aber eben nicht alle. 

KritikerInnen meinen, bei dem Hack und der Überwachung von EncroChat-NutzerInnen handele es sich um eine „Schleppnetzfahndung“, ein massenhaftes Abhören ohne konkreten Tatverdacht. Das wäre ein Dammbruch für eine übergriffige Strafverfolgung, eine Verletzung von Grundrechten.  

Ermittlungsdetails sind Militärgeheimnis

Überprüfen lassen sich die Details der Ermittlungen nur schwer. Frankreich hat sie zum Militärgeheimnis erklärt. Bekannt ist aus deutschen Gerichtsdokumenten, dass Frankreich mit Hilfe der Niederlande auf dem Server von EncroChat im nordfranzösischen Roubaix eine Schadsoftware installiert hat, ein simuliertes Update, das aber in Wahrheit eine Trojaner-Software war. Damit konnten die Behörden in die Mobiltelefone eindringen. Der Trojaner leitete dann ab Anfang April 2020 die Daten an einen Server des Cybercrime-Zentrums der französischen Gendarmerie und von dort an einen Europol-Server weiter.

Man muss sich ja EncroChat vorstellen wie Social Media im Endeffekt für Leute, die Vergehen und Verbrechen begangen haben, indem sie Chat-Nachrichten ausgetauscht haben. Ein bisschen wie Whatsapp für Kriminelle, Whatsapp für Gangster.

Alexander Malinowski, Kriminaloberrat und Leiter der EncroChat-Abteilung

Der Rechtsweg wurde dabei offenbar eingehalten. RichterInnen haben den EncroChat-Hack geprüft und genehmigt. Und klar ist auch: Die EncroChat-Ermittlungen sind ein großer Erfolg für die europäische Strafverfolgung. Allein in Deutschland konnten die Behörden mithilfe der Daten rund 2700 Ermittlungsverfahren einleiten. Ins Gefängnis gehen zum Teil Schwerkriminelle; Männer und Frauen, die laut Anklage mit Drogen gehandelt haben, mit Waffen, mit Menschen. Über 1000 Haftbefehle ergingen bisher. Und es werden immer mehr.

Großer Ermittlungserfolg

Alexander Malinowski ist Kriminaloberrat beim Landeskriminalamt in Berlin. Er leitet hier die EncroChat-Abteilung. Die hat die Europol-Daten vom BKA bekommen und wertet sie aus. Aktuell bearbeitet allein die Polizei in Berlin 728 EncroChat-Verfahren. 

"Man muss sich ja EncroChat vorstellen wie Social Media im Endeffekt für Leute, die Vergehen und Verbrechen begangen haben, indem sie Chat-Nachrichten ausgetauscht haben. Ein bisschen wie Whatsapp für Kriminelle, Whatsapp für Gangster.“

Oder wie eine Art Ebay, sagt Alexander Malinowski.

"Meistens waren es Textnachrichten und Bilddateien, die ausgetauscht worden sind. Man ist davon ausgegangen, dass das Ganze nicht infiltriert werden kann, nicht abgehört werden kann und man hat sich da sehr, sehr sicher verhalten und aufgrund dessen auch sehr freizügig verhalten, indem man offensiv Bilder ausgetauscht hat mit beispielsweise Drogen, mit Waffen, mit Kriegswaffen und die teilweise wie auf dem Basar dann auch angepriesen hat zum Verkauf, zum Handel.“

Neue Einblicke in organisierte Kriminalität

Der EncroChat-Hack ermöglicht der Polizei einen neuen Einblick in die organisierte Kriminalität. 

„Uns war vorher so die Spitze des Eisberges, um in Bildern zu sprechen, gewahr. Und was uns jetzt zur Verfügung gestellt worden ist, sage ich mal, das ist mindestens der Blick auch ein bisschen unter die Wasseroberfläche, was das Personenklientel anbelangt. Also es tauchen eine ganze Menge Leute auch auf, die wir bis dahin gar nicht auf dem Schirm, auf dem Radar hatten. Ich denke, da spricht man locker von 80 bis 85 Prozent.“

Die Daten seien sehr wichtig. Sie lieferten neue Erkenntnisse auch für die Gefahrenabwehr, also um zukünftige Straftaten zu verhindern - weil die Polizei jetzt die Struktur der organisierten Kriminalität plötzlich viel besser kenne. 
Kriminelle, sagt der LKA-Beamte Alexander Malinowski, „verhalten sich ja zu nahezu 100 Prozent konspirativ. Und sie verschleiern ihre Handlungen, sie benutzen, wenn sie denn noch Handys benutzen, sie zumindest nicht zur Verabredung ihrer jeweiligen Geschäfte oder was die Herren und Damen sonst so umtreibt. Dafür benutzen sie das Medium nicht mehr. Also es werden Dinge Vis-à-Vis besprochen, so dass die Polizei keine Möglichkeit mehr hat, mit einfachen Mitteln, zumindest wie es jetzt die Telekommunikationsüberwachung wäre, aus meiner Sicht, Daten abzugreifen oder zumindest Inhalte zu erlangen, um dann das Strafverfahren weiter voranzutreiben.“

Das ist mit Hilfe der EncroChat-Daten jetzt sehr viel einfacher - wäre da nicht der Streit vor den Gerichten um deren Verwertbarkeit als Beweismittel: also die Frage, ob die EncroChat-Daten als Beleg für Straftaten verwendet werden dürfen. 

Ins Blaue ermittelt?

Landgericht Berlin, Mitte Dezember 2021. Draußen auf den Gehwegen taut der erste Schnee, drinnen kontrolliert der Sicherheitsdienst des Gerichtes den Impfstatus. Im großen Saal gegenüber der majestätischen Treppe des Foyers drängen sich die JournalistInnen. Dort tagt der Bushido-Prozess. Doch im rechten Seitenflügel, in einem sehr viel kleineren holzgetäfelten Verhandlungsraum mit hohen Decken, ist es ruhig. 

Angeklagt ist W., ein kräftiger Mann im grauen Hemd mit zurückgestrichenen Haaren und tätowierter Hand, Anfang 30, aus Berlin. Vorgeworfen wird ihm Drogenhandel: mit Marihuana, Kokain, Amphetamin, Tabletten - im Kilobereich. Wichtige Beweise der Strafverfolgung: W.s Nachrichten bei EncroChat.
Der Angeklagte sagt nichts, überlässt seinem Anwalt das Reden. Und der redet viel: Die Franzosen hätten bei EncroChat „ins Blaue“ ermittelt. Es habe keinen konkreten Anfangsverdacht für die Überwachung seines Mandanten gegeben. Der EncroChat-Hack verstoße gegen die Rechtsstaatlichkeit, gegen die Grundrechte von W. Die Integrität der Daten sei fragwürdig und die Übermittlung an Deutschland ebenso. Der Strafverteidiger fordert ein Beweismittelverwertungsverbot und die Aufhebung der U-Haft seines Mandanten. Diesem Ansinnen geben die RichterInnen nicht nach. Nach rund drei Stunden Anklageverlesung und Plädoyer, Kommentaren und Fragen vertagen sie die Sache. 

Streit um das Beweisverwertungsverbot

Der Prozess gegen W. ist deshalb relevant, weil die Verteidigung mit ihrer Argumentation zwischenzeitlich durchgekommen ist: Die Polizei nahm W. am 16. Januar 2021 fest. Am 17. Januar kam er in U-Haft. Doch schon am 21. Juli war er wieder frei. 

Lisa Jani ist Richterin und Sprecherin der Berliner Strafgerichte. „Berlin ist sozusagen bekannt geworden mit einer besonderen Entscheidung zu einem EncroChat-Verfahren, nämlich im Juli 2021 hat eine Kammer des Landgerichts Berlin einen sogenannten Nichteröffnungsbeschluss verfasst. Es ging in der Anklage, die die Staatsanwaltschaft erhoben hatte, um BTM-Handel...“

BTM ist die Abkürzung für Betäubungsmittel: Der Handel mit Drogen.

„... und das einzige Beweismittel waren Kommunikationsdaten mit dem verschlüsselten System des niederländischen Anbieters EncroChat. Die 25. Strafkammer hat gesagt, diese Daten seien nicht verwertbar in einem deutschen Strafverfahren, weil sie nicht rechtmäßig erhoben worden seien. Zum einen sei da gegen eine europäische Richtlinie verstoßen worden und zum anderen sei der Grundrechtseingriff so groß, dass das auch nicht geheilt werden könnte, weil die deutschen, strengeren Vorschriften nicht eingehalten worden seien“, sagt Richterin Jani.

Gerichte uneins

Es ist das Verfahren gegen W. Die 25. Strafkammer erlies ein Verwertungsverbot der EncroChat-Daten vor Gericht, denn, Zitat aus dem Beschluss vom 1. Juli 2021: „Zum Zeitpunkt der Anordnung und Durchführung gab es keinen Tatverdacht gegen die Nutzer der Endgeräte, der die Überwachung gerechtfertigt hätte.“

Doch die Berliner Staatsanwaltschaft ging in Revision und hatte Erfolg. Das angerufene Kammergericht hob den Beschluss der 25. Kammer des Landgerichtes auf. Am 31. August nahm die Polizei W. erneut fest. Seit 1. September ist er wieder in U-Haft. 

„Das Kammergericht hat argumentiert, dass vor allem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union hier maßgebend sei und dass in Frankreich die Daten eben rechtmäßig erlangt worden seien, weil nämlich französische Richter sich damit befasst hatten und das Ganze auch genehmigt hatten“, erläutert Lisa Jani.

Länderfreundschaft und Zufallsfunde

Mit anderen Worten: Frankreich ist Deutschlands befreundeter Staat, ein Staat, in dem genauso die Rechtsstaatlichkeit gilt wie bei uns. Deshalb sind die Chats als Beweise auch als rechtsstaatlich anzusehen und vor Gericht bei uns zu verwenden – und zwar, das sagt das Kammergericht, als „Zufallsfund“, sagt Lisa Jani.

Zufallsfunde, das sagt ja schon der Name, sind grundsätzlich etwas, was man sozusagen zufällig gefunden hat. Sagen wir mal, man ermittelt gegen jemanden wegen des Verdachts des Drogenhandels und findet dann in seiner Wohnung Kinderpornografie. Ja, dann könnte das zum Beispiel ein Zufallsfund sein. Und die Frage ist dann eben: Kann man das dann verwerten?“

Mit dieser oder einer ähnlichen rechtlichen Interpretation lassen aktuell in Deutschland überall die Gerichte die EncroChat-Daten als Beweismittel zu. Dabei ist das Vorgehen bei den Ermittlungen gegen die NutzerInnen des verschlüsselten Dienstes EncroChat nicht ganz unstrittig, wie Richterin Lisa Jani erklärt. 

„Hier ist es eben so, dass ja gegen die beschuldigten Angeklagten schon zu einem Zeitpunkt Daten erhoben wurden, wo in Deutschland noch gar kein Ermittlungsverfahren gegen diese konkreten Personen anhängig war, sondern man hat diese Daten erst gewonnen und dann später eben übergeben und dann auch erst konkrete Ermittlungsverfahren eingeleitet.“

Das sei nach deutschem Recht aber so nicht möglich. 

Es muss schon einen konkreten Verdacht vorher gegeben haben. Und hier ist es sozusagen andersherum. Deswegen stellt uns das vor große Herausforderungen.“

Leben als „Fulltime Bandit“

Das ist selbst dann der Fall, wenn die Angeklagten ihren Lebensstil öffentlich zur Schau stellen - wie „Dealer44“, ein Rapper aus Frankfurt Oder, in seinem Song „Fulltime Bandit“:

„Ihr wollt wissen, was mein Kopf so gefickt hat
Draußen auf der Straße laufen Heuchler und Zinker
Kriminelle Gedanken, seit ich ein Kind war
Liebe für Geld, aber keine Liebe für Richter!
Dieses Gefühl, wenn Du nichts in den Taschen hast,
doch am nächsten Tag Profit durch Haschisch machst. 
Ich geb‘ einen Fick auf die Staatsgewalt
Und setz ein Kopfgeld auf den Hurensohn von Staatsanwalt!“

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Musiker Drogenhandel vor, im großen Stil. Belege dafür auch hier: seine EncroChat-Nachrichten.

Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie schreiben mit Ihrer Freundin und beleidigen Ihre Freundin zum Spaß. Also es ist, salopp gesagt, irgendwie beleidigend. Und diese Daten werden abgefangen. Wissen Sie, was Sie in diesem Moment sind, nachdem das gelesen wird? Beschuldigte!

Dagmar Ewa Kabirski, Anwältin von „Dealer44“

Dagmar Ewa Kabirski ist im Landgericht Berlin wegen des Bushido-Prozesses. Sie vertritt jedoch nicht nur den bekannten Rapper, sondern auch seinen Kollegen „Dealer44“.

„Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie schreiben mit Ihrer Freundin und beleidigen Ihre Freundin zum Spaß. Also es ist, salopp gesagt, irgendwie beleidigend. Und diese Daten werden abgefangen. Wissen Sie, was Sie in diesem Moment sind, nachdem das gelesen wird? Beschuldigte! Gegen Sie wird ein Strafverfahren eingeleitet. Sind Sie es denn tatsächlich? Sind Sie nicht! Sie haben noch nicht mal die Intention in diesem Zusammenhang gemacht. Aber das wird aus Ihnen gemacht.“

Was Dagmar Ewa Kabirski damit meint: Wort ist nicht gleich Tat. Wie der Anwalt von W. behauptet sie, die EncroChat-Daten taugten nicht zum Beweis. Außerdem seien die Ermittlungen, der Hack, das Abhören grundrechtswidrig erfolgt. Kabirski beruft sich auf die Strafprozessordnung – kurz StPO:  

Wenn Sie die Juristen fragen, wird Ihnen jeder Jurist sagen: Naja, die StPO begründet das einfach nicht. Weder ist das eine TKÜ-Maßnahme, noch ist das irgendwie geartet, tatsächlich getragen von der StPO. Wir fragen uns ernstzunehmend: Welche Rechtsgrundlage bietet denn die StPO zur Herbeiziehung schon allein dieser EncroChat-Dateien? Wir wissen es nicht. Und so gesehen gibt uns auch keines dieser gerichtlichen Entscheidungen, keines der Gerichte eine Antwort darauf. Wir kriegen sie einfach nicht.“

Personalien nachträglich festgestellt

TKÜ steht für Telekommunikationsüberwachung. Diese ist ein Mittel der Wahl für die Überwachung von verdächtigen Personen. Doch muss sie mit einem konkreten Verdacht begründet sein, warum genau eine oder mehrere Personen abgehört werden sollen. Das war bei EncroChat ja aber eben nicht so. In den meisten Fällen ist erst abgehört worden, dann haben die Behörden die Chats ausgewertet und nachträglich die Personalien festgestellt.

Unsere Rechtsordnung besagt: Man muss einen konkreten Tatverdacht gegen eine konkrete Person haben. Erst dann darf man ein Ermittlungsverfahren einleiten und nicht erst etwas konstruieren, um Ermittlungsverfahren einleiten zu können. Also man pervertiert so gesehen tatsächlich die Strafprozessordnung hier. Man versucht sie zu verdrehen, zu etwas, was es so gesehen gar nicht gibt. Warum? Klar, menschlich, weil es ein Durchbruch wäre für die Ermittlungsbehörden. Weil es was Neues ist. Weil man so gesehen so viele Kriminelle eigentlich ertappt hätte.“

Fehlende rechtliche Grundlagen?

Frank Zindler ist Fachanwalt für Strafrecht in Berlin. Auch er verteidigt, gemeinsam mit seinem Hamburger Kollegen Daniel Scheibner, Angeklagte in EncroChat-Verfahren – über zehn sind es aktuell.

„Dass die Gerichte mit diesen Daten in einer für die Verteidigung sehr laxen Art und Weise umgehen, liegt, denke ich, unter anderem daran, dass die vorliegenden Tabellen, die ja nur eine Zusammenstellung und Auswertung der Daten darstellen, auf den ersten Eindruck schlüssige Ermittlungsergebnisse darstellen. Und das hat auch mal ein Richter gesagt in der Verhandlung, wieso die Verteidigung denn immer auf der Problematik der Beweisführung, der Authentizität, der Integrität und Vollständigkeit herumreiten würde. Er würde doch lesen können, was passiert ist, und dann sei das doch so auch!“, sagt Frank Zindler.

Diese Haltung des Richters verkenne jedoch die fehlende rechtliche Grundlage der Ermittlungen in Deutschland.  

„Wir sprechen hier über Rechtsstaatsgrundsätze. Strafverfolgungsbehörden sind dem deutschen Recht unterworfen und müssen sich selber rechtmäßig verhalten und das Auslagern von Ermittlungshandlungen, sogenanntes Befugnis-Shopping in andere europäische Länder, um auf diesem Wege an Daten zu kommen, die man hier so nicht erlangen könnte, ist natürlich nicht hinnehmbar, wenn man das Grundgesetz tatsächlich ernst nimmt.“

In anderen Worten: Was in Frankreich möglicherweise rechtmäßig ist, ist es in Deutschland nicht automatisch auch. Hinzukämen noch andere Probleme, meint der Strafverteidiger. 

„Das Problem ist, dass die Tabellen, die uns in den Verfahren vorgelegt werden, also in der Regel Excel-Tabellen sind. Das entspricht ganz offensichtlich nicht dem Format der Daten, wie sie von den Endgeräten gewonnen worden sind. Was wir wissen, ist, dass keines der Endgeräte eine vollständige Kommunikation gespeichert hat. Jedes Endgerät hat immer nur 'nen Teil der Kommunikation gespeichert. Das bedeutet, dass sicher ist, dass die uns vorliegenden Tabellen erst durch eine spätere Zusammenführung zu sogenannten Gesprächen vorgenommen worden sind.“

In Zweifel für den Angeklagten?

Die Beweise, die vor Gericht vorgelegt worden sind, sind also bearbeitet worden. Die Polizei begründet das mit der besseren Lesbarkeit. Das sei notwendig gewesen zum Verständnis der Chats. KritikerInnen meinen hingegen: Das sei eine Manipulation der Daten. Überprüfen lässt sich der Wahrheitsgehalt der vor Gericht vorgelegten Chats jedenfalls schwer. ExpertInnen könnten dies tun, durch einen Vergleich mit den von April bis Mitte Juni 2020 abgefangenen Rohdaten. Die gibt es aber offenbar nur in Frankreich - durch das Militärstaatsgeheimnis als geheim gesperrt – und scheinbar auch nicht alle entschlüsselt.  

„Im Rahmen einer Hauptverhandlung hat uns ein Beamter des Bundeskriminalamtes mitgeteilt, dass nicht sämtliche Dateien haben entschlüsselt werden können. Das Ganze verband er mit der weiteren Bemerkung, dass daraus aber nicht zu folgern sei, dass sich hierin entlastende Umstände befänden. Diese Aussage zeigt das gesamte Dilemma. Denn ob dort entlastende Umstände aufzufinden wären oder nicht, kann ja gerade nicht geprüft werden.“

Frank Zindler hält das Argument des Beamten für sehr problematisch.     

Die eigentliche Frage, die sich in diesen Verfahren stellt: Zu welchen Lasten gehen diese ganzen Unsicherheiten? Vor dem Hintergrund des Grundsatzes ‚in dubio pro reo‘, im Zweifel für den Angeklagten, können diese Umstände nicht zulasten der Angeklagten gehen. In der Realität tun sie das aber.“

Und so häufen sich Vorwürfe, offene Fragen und Unklarheiten bei den EncroChat-Verfahren. Das Ganze wird noch durch die Aktenlage erschwert. Die Rohdaten sind nicht die einzigen Dokumente, die den Gerichten und VerteidigerInnen fehlen. 

Geheime Aktenteile in Frankfurt am Main

2020, am Anfang der Ermittlungen in Deutschland, war als erstes die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main mit EncroChat betraut - in Zusammenarbeit mit dem BKA. Sie eröffnete das erste Verfahren, Ende März 2020, mit einer sogenannten UJS-Akte: Ermittlungen gegen Unbekannt. Diese Akte nun wollen die Gerichte und StrafverteidigerInnen einsehen. Doch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main gibt sie nicht im Ganzen raus.
Staatsanwalt Sebastian Zwiebel ist deren Pressesprecher und erklärt warum: „Eine Versagung von Akteneinsicht kann erfolgen, ist sogar zwingend, wenn bei Gewährung der Akteneinsicht der Untersuchungszweck und zwar in weiteren Verfahren, die in keinem Zusammenhang mit dem eigentlichen Vorgang stehen, gefährdet wäre.“ 

Also laufende Ermittlungen gegen weitere Beschuldigte oder Details über die Ermittlungen, die ja oft verdeckt geführt werden.„Das heißt, wenn jetzt jemand sagt: Ja, Moment mal, wenn Sie die Akte nicht rausgeben, dann können wir ja gar nicht klären, ob die Daten überhaupt verwertet werden können. Da kann ich Ihnen versichern, das prüfen wir auch und haben wir jeweils geprüft und kamen zum Ergebnis: Die Akten-Bestandteile dieses Ursprungsverfahrens, die wir nicht herausgeben, die sind für die Beurteilung der Frage der Verwertbarkeit irrelevant.“

Offizielle Genehmigung erfolgte 

Müssen die Gerichte sich darauf verlassen? Eigentlich entscheiden RichterInnen über die Relevanz von Beweisen. Die Geheimhaltung im Zusammenhang mit den EncroChat-Ermittlungen ist jedenfalls groß.
Sebastian Zwiebel kann immerhin ein paar Details berichten, wie die Daten nach Deutschland gekommen sind. Ein Vorgang, betont der Staatsanwalt, der alles andere als ungewöhnlich sei – und vollkommen rechtmäßig.
„Das BKA hatte Erkenntnisse, dass es im Bereich der organisierten Kriminalität zu dieser Nutzung speziell modifizierter Krypto-Handys gekommen ist, und das führte dann intern dazu, dass wir Ermittlungen eingeleitet haben. Zunächst gegen Unbekannt. Das war ja gar nicht klar, um welche Personen es da geht. Und dann sind uns im Wege des polizeilichen Spontanaustausches durch die französischen Behörden Daten übermittelt worden, die von den Franzosen parallel erhoben wurden. Und dann ist es so gekommen, dass wir entschieden haben: Um die zu verwenden, brauchen wir eine offizielle Genehmigung der französischen Behörden.“

Dafür stellte die Generalstaatsanwaltschaft eine europäische Ermittlungsanordnung an Frankreich, Anfang Juni 2020. Nachdem diese im Juli 2020 genehmigt wurde, konnte die Strafverfolgung gegen konkrete NutzerInnen beginnen.
Mit anlassloser Massenüberwachung oder Ähnlichem habe das nichts zu tun, sagt Staatsanwalt Sebastian Zwiebel: „Es ist ein relativ gewöhnlicher Vorgang, dass oftmals zu Beginn von Ermittlungen die Identität der oder des Beschuldigten noch nicht bekannt ist, sich im weiteren Verlauf durch Auswertung von vorhandenen Daten jedoch ein konkreter Tatverdacht entwickelt. Und das, was hier passiert ist, ist genauso wie es in vielen anderen Verfahren auch läuft: Durch den Verlauf der Ermittlungen konnten die Beschuldigten identifiziert werden. Es erfolgten Abtrennung aus dem ursprünglichen Verfahren gegen Unbekannt und es wurden neue Verfahren, nämlich dann sogenannte JS-Verfahren, also Verfahren gegen bekannte Beschuldigte eingeleitet.“

Das sähen ja auch die Oberlandesgerichte bis jetzt alle so. „Es gibt noch keine Entscheidung von Bundesgerichten über entsprechende Verfahren. Allerdings bestätigt die Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte uns in dieser Auffassung. Ich glaube, es gibt mittlerweile 14 Oberlandesgerichtsentscheidungen, die alle von einer Verwertbarkeit der EncroChat-Daten als Beweismittel ausgehen. Und auch denen ist natürlich bekannt, wie die EncroChat-Daten nach Deutschland gekommen sind.“

Kein großer Diskussionsbedarf, sagt OLG-Richter

Einige der ersten Gerichte, die sich mit einer Anklage im Zusammenhang mit dem EncroChat-Hack beschäftigten, waren die in Bremen. Das Hanseatische OLG, das Oberlandesgericht, beschied bereits im Dezember 2020: Die Nachrichten aus dem EncroChat-Hack dürfen als Beweise verwendet werden.

„Grundsätzlich kann und muss ein Gericht gewonnene Beweise verwerten“, sagt Peter Lüttringhaus, er ist Vorsitzender Richter am OLG Bremen und dessen Pressesprecher. „Davon gibt es natürlich Ausnahmen. Also wenn Sie zum Beispiel jetzt ganz drastisch den Fall sehen: Daten, die durch Folter gewonnen worden sind, das ist ein Verwertungsverbot.“

Das sei nun bei EncroChat jedoch offensichtlich nicht der Fall. Hinzu kommt in Europa der Vertrauensgrundsatz in die Strafverfolgungsbehörden der anderen EU-Staaten. 

„In dem Verfahren, was wir hier in Bremen hatten, gab es also nicht den Vorwurf, dass es sich um Zufallsfunde im Rahmen von Terrorismus-Ermittlungen oder sowas gehandelt haben könnte. Sondern es war ganz klar, dass es eine Ermittlung in Frankreich gegeben hat wegen Drogenhandels. Dass diese Personen oder dass einige der Personen, gegen die dort ermittelt worden waren, sich im deutschen Hoheitsgebiet befanden. Und dann hat man von französischer Seite aus die zuständigen deutschen Behörden darüber informiert, dass man diese Erkenntnisse gewonnen hat. Und es gibt dafür Rechtshilfeverfahren, die sind eingehalten worden. Und deswegen konnten unsere Gerichte und dann natürlich auch der erste Senat, der das entschieden hat, die Ergebnisse seiner Entscheidung zugrunde liegen.“

Peter Lüttringhaus sieht hier eigentlich keinen großen Diskussionsbedarf. Dass es europäische Rechtshilfe gebe, sei „ein alter Hut“.

„Hier ist es eben so, dass es den Betroffenen sehr schwer fällt, jetzt ihre Verteidigung zu organisieren. Und dass die natürlich, das wird man wohl sagen können, nach jedem Strohhalm greifen, um sich den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.“ 

Wie die rechtliche Bewertung der Verwertbarkeit letztlich ausfalle, das werde allerdings wohl der Bundesgerichtshof entscheiden müssen, betont der Bremer Richter. „Und erst dann hat man natürlich die nötige Rechtsklarheit, um zu sagen: So, jetzt ist definitiv ganz klar, dass man das durfte oder dass man es nicht durfte.“

Unverhältnismäßiger Eingriff?

Bisher wurde die grundsätzliche Frage nach dem Beweismittelverwertungsverbot vom BGH noch nicht verhandelt. Dass dies bald passieren wird, ist sehr wahrscheinlich. Auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich bereits in zwei Verfahren mit EncroChat, ebenso der europäische Gerichtshof für Menschenrechte. 

In Frankreich selbst gibt es ebenfalls Streit: Am 1. Februar 2022 hat der Kassationshof, das oberste französische Gericht für Zivil- und Strafsachen, den Erlass des Militärgeheimnisses für die EncroChat-Ermittlungen hinterfragt. Sollte die Entscheidung eine reine Ermessensentscheidung von der zuständigen Staatsanwaltschaft gewesen sein, könnte dies einen „ungerechtfertigten und unverhältnismäßigen Eingriff“ darstellen. Über eine Beschwerde soll jetzt der Verfassungsrat entscheiden. 

Möglicher Präzedenzfall

Ergeht am Ende das Beweismittelverwertungsverbot nicht, könnte das möglicherweise zu einem Präzedenzfall werden. Ende 2020 hackten die belgischen Behörden bereits ein anderes verschlüsseltes Netzwerk namens „Sky ECC“. Der Datenbestand des Verschlüsselungsdienstes von Sky ECC soll bis zu viermal so groß sein wie der EncroChat.

Und was bedeutet das für andere verschlüsselte Kommunikationsnetzwerke? Mehr als 50 Millionen Menschen nutzen weltweit den verschlüsselten Nachrichtendienst Whatsapp. Einige Kriminelle werden darunter sein. Würde da auch das zweifellos hehre Ziel ihrer Strafverfolgung einen Hack, das massenhafte Abhören und Auswerten aller Nutzerinnen und Nutzer, aller ihrer Fotos, Sprachnachrichten und Chats rechtfertigen? 

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Roman Neumann
Technik: Christoph Richter
Sprecherin: Anna Müller

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