Emmanuel Carrère: "Julies Leben"

Leben am Abgrund

08:17 Minuten
Das Buchcover im schlichten grau von Emmanuel Carrère.
Aufrüttelnd: Emmanuel Carrères Sozialreportage über Julie Baird und ihre Fotografin Darcy Padilla. © Matthes & Seitz Berlin/ Deutschlandradio
Von Sarah Murrenhoff · 29.08.2020
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Viele Jahre lang begleitete die Fotografin Darcy Pardilla die drogensüchtige Julie Baird, die 2011 im Alter von 36 an Aids starb. Die wahre Geschichte dieser ungewöhnlichen Freundschaft erzählt Emmanuel Carrère in seinem Buch "Julies Leben".
Passt ein Leben in 60 Seiten? Das ist die allererste Frage, die sich stellt, wenn man "Julies Leben" von Emmanuel Carrère in den Händen hält. Auf 60 Seiten lässt sich natürlich kein Leben im Detail ausrollen. Darum geht es aber auch nicht. Der schmale Band ist im Prinzip eine Sozialreportage. Für den französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère steht "Julies Leben" exemplarisch für so viele Geschichten aus den Armenvierteln der USA. Es ist eine Geschichte über Armut, Gewalt, Drogen und Sozialdeterminismus.
Was das Ungewöhnliche für Carrère ist: dass sich überhaupt jemand dieses Lebens annimmt und diese Geschichte vom äußersten Rand der US-amerikanischen Gesellschaft erzählt. Das ist in erster Linie nicht Carrère selbst, sondern die Fotografin Darcy Padilla, die zur Chronistin von Julie Bairds schwierigem, chancenarmen Leben wird. Darcy Padilla lernte Julie Baird 1993 kennen, als Julie 18 war. Fortan begleitete sie sie als Fotografin – weitere 18 Jahre lang, bis Julie 2011 im Alter von 36 Jahren an Aids verstarb.

Sucht, Entzüge, Gewalt

Darcy lernte Julie in der Lobby eines Hotels im Armenviertel Tenderloin, San Francisco kennen. Julie war gerade 18, Darcy 10 Jahre älter und wollte eine Reportage über Armut in den USA fotografieren. Es war ein kalter Februarmorgen, Julie stand barfuß da und hatte ein Neugeborenes auf dem Arm. Sie wohnte in dem Hotel, das Sozialamt bezahlte für Julie das flohverseuchte Zimmer, wo sie zwischen Drogenabhängigen, Aidskranken und Wohnungslosen untergebracht war. Im Vergleich ging es Julie sogar gut: Sie und ihr Freund waren zwar HIV-positiv, hatten aber kein Aids. Sie hatten sogar gerade ein Kind bekommen.
Darcy machte das allererste Foto von dem Kind und der jungen Familie, die nicht lange eine Familie bleiben sollte. Julie trennte sich von ihrem Freund, und ihr Leben pendelte zwischen Sucht, Entzügen und gewalttätigen Partnern. Mit unterschiedlichen Männern würde sie im Laufe der Jahre sechs Kinder bekommen, von denen ihr fünf weggenommen und teilweise gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurden.

Freundschaft zweier ungleicher Frauen

Ihre einzige Konstante über 18 Jahre sollte "ihre Fotografin" bleiben, Darcy, die an Julie etwas entdeckt hatte, weswegen sie ihre ursprüngliche Reportage-Idee über Bord warf und anfing, das Leben von Julie zu begleiten. Wenn es etwas Beglückendes an dieser Geschichte gibt, die Carrère aufschreibt, dann ist es, Zeugin dessen zu werden, wie sich eine – natürlich nicht unkomplizierte, aber aufrichtige – Freundschaft entwickelt zwischen zwei so ungleichen Frauen.
Man könnte einwenden, dass es eine Freundschaft mit einer Nutznießerschaft ist. Schießlich hat Darcy Padilla für ihr Langzeit-Fotoprojekt "The Julie Project" einige renommierte Preise und Stipendien erhalten, nicht zuletzt drei Preise bei der World Press Photo Competition. Carrère wirft auch die Frage nach dem Ruhm auf, der sich auf dem Elend anderer gründet. Im Fall Darcy Padillas kann dieser Vorwurf jedoch beiseite geräumt werden. Sie nähert sich Julie, ihren Kindern und wechselnden Partnern mit viel Respekt, immer auf Augenhöhe und ohne sich selbst zu vergessen oder den großen Unterschied zu verleugnen, der zwischen ihnen besteht.

Kein Voyeurismus, sondern Anteilnahme

Darcys Motivation ist nicht Voyeurismus, sondern ein Drang zu verstehen, ein ernst gemeintes Interesse an den Personen und Anteilnahme. Darcy ist diejenige, bei der nachts das Telefon klingelt, wenn Julie ein Problem hat. Die Nähe, die sie aufbauen, geht sogar so weit, dass Darcy erwägt, nach Julies Tod deren sechstes Kind zu adoptieren. Eine Frage scheint Darcy anzutreiben: Wie wird man, wenn man als Kind auf diese Welt geworfen wird, zu Julie Baird? Ihre Aufgabe sieht Darcy darin, Zeugnis abzulegen – ein sehr intimes Zeugnis. So betrachtet sie sich selbst auch eher als Fotojournalistin denn als Künstlerin, auch wenn ihre Fotos sehr kunstvoll sind.
Einige ihrer Fotos haben Eingang gefunden in den schmalen Band von Matthes & Seitz. Es sind schonungslos direkte Schwarz-Weiß-Bilder. Sie zeigen kleine Kinder, die ihre Milch in versifften Hotelzimmern trinken, neben der zugedröhnten Mutter, vollen Aschenbechern, Müll und Brandlöchern im Bettlaken von vergessenen Kippen. Es sind Bilder der Verzweiflung, aber auch hilflose oder zärtliche, familiäre Situationen oder überwältigende Momente wie Geburten. Das vielleicht eindrücklichste Bild ist das letzte: Julie liegt im Sterben, mit offenem Mund, eingefallenen Wangen, die Augen ohne Blick – und ihr sechstes Kind patscht seiner sterbenden Mutter ins Gesicht, um mit ihr zu spielen, weil es nicht begreift, was passiert.
Was aber kann die Rolle Emmanuel Carrères in dieser Geschichte sein? Die Fotos sind so eindrücklich, die Geschichte so mitreißend, dass der nüchterne, trockene Erzählstil, den Emmanuel Carrère die meiste Zeit nutzt, absolut gereicht hätte. Leider belässt er es aber nicht dabei. Gerade die Momente, in denen Carrère zu präsent wird, sind die Momente, in denen er die Erzählung zu stören scheint, in denen man sich wünscht, der Erzähler möge verschwinden, weniger "Ich" benutzen, weniger Wertung in den Text legen.

Bürgerlicher Blick auf das Andere

Emmanuel Carrères ehrliche Bewunderung für die Fotografin wird deutlich, teilweise kippt der Text nahezu in eine Laudatio auf die "schöne, willensstarke", anmutige Fotografin, als die er Darcy Padilla skizziert. Aber das Buch heißt nun mal "Julies Leben". Und leider gibt es zu viele Momente, in denen man beim Lesen den Eindruck gewinnt, dass Carrère zu Julie und ihrem Milieu nicht nur nicht dieselbe Nähe aufzubauen vermag, sondern dass er ihr auch nicht die gleiche Offenheit und Sensibilität entgegenbringt. Es bleibt beim bürgerlichen Blick auf das Andere, Fremde, Randständige, Entpersonalisierte.
In einer Passage erzählt er etwa davon, dass bei Julie nun endgültig Aids ausbricht und dass "Läsionen in Gaumen und Speiseröhre Julies Mund zu einem ständigen, derben, jähzornigen Kauen zwangen, an das selbst jemand in puncto weibliche Anmut so Unkompliziertes wie Jason [Julies Partner zu dem Zeitpunkt] gesteht, sich nur schwer gewöhnt zu haben". Dann drängt sich beim Lesen doch der Wunsch auf, genau das nicht aus seinem, sondern aus Darcy Padillas Mund zu erfahren, die – das ist eine Unterstellung – bestimmt keine Formulierung gewählt hätte wie "in puncto weibliche Anmut so Unkompliziertes".
"Julies Leben" ist ein Bericht über ein Leben am Abgrund und eine Freundschaft, die so un-erhört ist, dass es sich allein wegen des Sujets schon lohnt, sich mit Julies Leben und Darcys Anteilnahme daran zu beschäftigen. Der dritte Blick jedoch, die immer wieder durchscheinende bürgerliche Wertung von Emmanuel Carrère, wäre verzichtbar.

Emmanuel Carrère: "Julies Leben"
Matthes & Seitz, Berlin 2020
60 Seiten, 10 Euro

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