Emma Cline: "The Girls"

Zur Gewalt verführt

Szene aus "Charles Manson: Summer of Hate - Das Musical" am Hamburger Thalia-Theater 2014 mit Alicia Aumüller (links), Jörg Pohl und Maja Schöne
Szene aus "Charles Manson: Summer of Hate - Das Musical" am Hamburger Thalia-Theater 2014 mit Alicia Aumüller (links), Jörg Pohl und Maja Schöne © dpa / picture alliance / Christian Charisius
Von Rainer Moritz · 17.09.2016
In ihrem Romandebüt "The Girls" zeigt Emma Cline, wie es einem charismatischen Anführer gelingen kann, labile junge Menschen in seinen Bann zu ziehen und deren moralische Vorstellungen außer Kraft zu setzen. Sie bezieht sich dabei auf eine Mordserie, die Kalifornien Ende der 1960er Jahre erschütterte.
Keine schlechten Vorschusslorbeeren: Einen "zutiefst überwältigenden" Roman nannte kein Geringerer als Richard Ford "The Girls", das Debüt der 1989 geborenen Emma Cline, und ihr deutscher Verlag sprach umgehend von "der literarischen Sensation aus Amerika".
Dass Clines Erfolg in Deutschland wesentlich bescheidener als in ihrer Heimat ausfiel und der Sturm auf die Bestsellerliste ausblieb, hat offenbar viel damit zu tun, dass die von Clines Roman evozierte "wahre Geschichte" – die von der Hippie-Gruppe um Charles Manson begangenen Taten Ende der 60er-Jahre in Kalifornien – in den USA anders als hierzulande wenig von ihrer Sogwirkung verloren hat.
Obwohl vor allem die sogenannten Tate-Morde, deren Anstifter Manson war, im August 1969 medial bereits unzählige Male verarbeitet wurden, weckt Cline insbesondere bei ihren amerikanischen Lesern raffiniert Erwartungen – ein Mechanismus, der dort, wo der Name Manson verblasst ist, nicht mehr reibungslos funktioniert.

Hippie-Gruppe um einen gesetzlosen Musiker

An Evie Boyd, eine Frau in den Vierzigern, demonstriert Emma Cline, wie es einem charismatischen Anführer gelingen kann, labile junge Menschen in seinen Bann zu ziehen und ihre moralischen Vorstellungen außer Kraft zu setzen. Evie hütet vorübergehend das Haus eines Ex-Freundes, als dessen Sohn plötzlich auftaucht und sich daran erinnert, dass die ihm fremde Frau damals "bei dieser Sekte" war.
Vor diesem Hintergrund beginnt Evie davon zu erzählen, wie sie als Vierzehnjährige 1969 in den Kreis einer sich um die Gesetze nicht kümmernden Hippie-Gruppe um den glücklosen Musiker Russell geriet, die von einer besseren, konsumlosen Welt schwärmte, sich Drogen hingab und Sex offen auslebte.
Die in soliden Verhältnissen Aufgewachsene, deren Eltern sich getrennt haben, zeigt sich fasziniert, als sie die fünf Jahre ältere Suzanne kennenlernt, ein unkonventionelles Mädchen aus dem Russell-Clan. Nach und nach entflieht Evie aus ihrem alten, als öde empfundenen Familienzusammenhang, träumt von einer "neuen Lebensweise", die sie im "Dienst einer tieferen Liebe" erfahren will, erliegt Russells schamlosen Verführungen und kettet sich an die bewunderte Suzanne, die Evie eher als Spielball betrachtet.

Brutaler Rachefeldzug

Emma Cline erzählt das auf souverän amerikanische, mitunter sprachlich leicht überdrehte Weise, mit gutem Gespür dafür, einen packenden Plot zu entwickeln, Charaktere markant zu gestalten und einen Showdown hinzulegen, der einiges an Brutalität zu bieten hat. Russell will es seinem Freund Mitch, einem erfolgreichen Musiker, heimzahlen und erteilt Suzanne den Auftrag, in Mitchs Haus ein Fanal zu setzen. Mehrere Menschen, darunter ein Kind, werden bei diesem Rachefeldzug brutal ermordet, und nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass Evie nicht zur Mittäterin wird.
"The Girls" ist kein Charles-Manson-Roman. Emma Cline zeigt auf – und das schafft eine verblüffende Aktualität –, wie Verführung zu greifen beginnt und wie schnell sich der Wille zur Gewalt einstellt. Im Rückblick wundert sich Evie, "wie leicht ich in alles hineingeriet". Ja, selbst der Hass, der Suzanne antreibt, erscheint ihr nicht unvertraut, und so vermag sie die quälende Frage nicht abzuschütteln, ob sie selbst vor Morden zurückgeschreckt wäre. So wird Evie – das spiegelt die knappe Rahmenhandlung – nie im bürgerlich gefestigten Leben ankommen, denn damals wie heute spürt sie eine "beängstigende Kluft zwischen dem Leben, das sie führte, und der Art, wie sie über dieses Leben dachte".
Davon erzählt Emma Cline durchaus gekonnt, und selbst wer den Namen Charles Manson nie gehört hat, wird von der Lektüre profitieren. Eine "literarische Sensation" ist das sicher nicht, ein vielversprechender Debütroman jedoch allemal.

Emma Cline: The Girls
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag, München 2016
349 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema