Emma Cline: "Daddy"

Zaungäste von Celebrity-Existenzen

05:55 Minuten
Cover zu Emma Clines "Daddy".
Die US-amerikanische Short Story, einst ein Hort der Männlichkeit, ist längst in weiblicher Hand. Zum Beispiel in der von Emma Cline. © Deutschlandradio / Hanser Literaturverlage
Von Meike Feßmann · 02.08.2021
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Opioidkrise, MeToo-Debatte, Auswirkungen des Klimawandels und der Digitalisierung: Das ist der Hintergrund der zehn Geschichten im Buch "Daddy" der US-Autorin Emma Cline. Oft geht es um Menschen, die kurzzeitig an einem Promileben teilhaben dürfen.
Energie ist das Wichtigste, ihr jagen sie alle hinterher, und wenn sich ein "Energieloch" auftut, wird es so schnell wie möglich mit Drogen zugeschüttet. Nahezu alle Figuren dieser zehn Geschichten sind versiert darin, auf ihre Stimmung zu achten. Die einen stehen mehr auf illegale Drogen, die anderen bevorzugen Psychopharmaka und sind gerade auf den Unterschied stolz.
So handhabt es Ben, der das Buch eines aus seinem Firmenimperium verjagten Digitalmilliardärs lektoriert und dem müden Ton der Ghostwriterin mehr Feuer einhauchen soll. Er plant genau, wann er seine Tabletten nimmt, um im richtigen Moment aufzudrehen und dennoch am Ende des Tages Schlaf zu finden. Der Plan ist gut, aber er geht nicht auf. Wie sollte er auch?

Figuren in Patchwork-Verhältnissen

Los Angeles und New York sind die beiden Eckpfeiler des Buches, das im US-Original 2020 erschienen ist. Nikolaus Stingl hat es souverän ins Deutsche gebracht. Die früheste Geschichte, "Marion", stammt aus dem Jahr 2013. Sie wirkt wie die Keimzelle zu Emma Clines erfolgreichem Debütroman "The Girls" von 2016, der die Geschehnisse um die Manson-Family im Sommer 1969 zum Hintergrund einer Pubertätsgeschichte macht. Die meisten Storys sind in angesehenen Zeitschriften erschienen, im "New Yorker", in "Granta", in der "Paris Review".
Die Spannung zwischen West- und Ostküste ist ebenso prägend für die Geschichten der 1989 geborenen Kalifornierin wie die enorme Spannung, der die Familien ausgesetzt sind. Die meisten Figuren leben in Patchwork-Verhältnissen. Manchmal kommt der Stress in der einen Familie gerade recht, um als Vorwand in der anderen zu dienen. So ist Richard eher froh, sich aus der feinfühligen Umklammerung einer Immobilienmaklerin in der ersten gemeinsamen Nacht lösen zu können, als er der Mutter seines Sohnes verspricht, sich um den Eklat zu kümmern, den Rowan im Internat ausgelöst hat.

Anzügliche Fotos und Sturz in Bedeutungslosigkeit

Oft geht es um die Zaungäste von Celebrity-Existenzen. Die 24-jährige Kayla, die eigentlich Kunstgeschichte studiert, darf als Kindermädchen und Geliebte kurz am Promileben eines Schauspielerpaars teilhaben. Nach dem Eklat stürzt sie nur umso tiefer in die Bedeutungslosigkeit, auch wenn nun ihr Name und anzügliche Fotos im Internet kursieren.
Was die US-amerikanische Essayistin Jia Tolentino als die Perspektivenverzerrung des "Trick-Mirrors" beschreibt, passiert auf Schritt und Tritt. So schlittert in "Daddy", der Titelgeschichte, eine Mittdreißigerin in die Abhängigkeit sexueller Selbstdarstellung, indem sie es zunächst als Bestätigung erfährt, wenn Männer im Chatroom auf ihr fiktives Teenager-Ich hereinfallen.
Die Opioidkrise, die MeToo-Debatte, die Auswirkungen des Klimawandels und der Digitalisierung bilden den Hintergrund dieser Geschichten. Erzählt aber sind sie ganz aus der Figurenkonstellation. Emma Cline ist nicht so abgedreht wie Claire Vaye Watkins, die Kalifornien in die prädestinierte Landschaft von Dystopien verwandelt, und nicht ganz so ausgefeilt in der Kunst, die nahende Klimakatastrophe in subtile psychologische Bedrohungsszenarien umzusetzen wie Lauren Groff. Ihre Geschichten sind eine Spur bodenständiger, aber nicht weniger famos. Die US-amerikanische Short Story, einst ein Hort der Männlichkeit, ist längst in weiblicher Hand.

Emma Cline: "Daddy", Storys
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag, München 2021
256 Seiten, 22 Euro

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