Emily Segal: "Rückläufiger Merkur"

Müder Sarkasmus der 2010er-Jahre

05:37 Minuten
Buchcover zu Emily Segal: "Rückläufiger Merkur"
© Matthes & Seitz

Emily Segal

Cornelia Röser

Rückläufiger MerkurMatthes & Seitz, Berlin 2022

221 Seiten

22,00 Euro

Von Fabian Wolff · 01.10.2022
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Für ein Start-up soll sie die Gegenwart aufspüren, und im besten Fall zu Geld machen. Emily Segal führt ihre gleichnamige Romanfigur aus "Rückläufiger Merkur" in ein historisch gewordenes New York, in dem es keine widerständige Perspektive gibt.
Damals war alles anders. Die Menschen hatten andere Träume, andere Ängste, andere Kämpfe. Die Katastrophe haben sie nicht kommen sehen. Emily Segals Roman "Rückläufiger Merkur" erzählt von einer untergegangenen Welt: dem Sommer 2015 in New York.
Das Bestimmen jener Trends, Obsessionen oder einfach Vibes, die den Übergang von der einen in die andere Gegenwart ankündigen, in der Kultur, in der Mode, vielleicht auch in der Politik, war lange der halbironische Job von Emily Segal. Ihr bleibendster Beitrag zum Kulturdiskurs ist der Ausdruck "normcore": ursprünglich eine Beschreibung der Synergie zwischen dem menschlichen Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören, und dem massenkulturellen Impuls, Menschen zu normieren, in der Praxis ein Begriff für unaufgeregte Pullover und Pumpkin Spice.

Trendforscherin in nebulösem Start-Up

Die Hauptfigur und Erzählerin von "Rückläufiger Merkur", die ebenfalls Emily Segal heißt, hat den gleichen Job. Als Mittzwanzigerin mit nutzlosem Abschluss in Literatur arbeitet sie für eXe, einem Start-Up mit eher unklarem Geschäftsmodell. Ein Bullshit-Job in doppelter Hinsicht, denn die Trendprognosen sind nur so viel wert, wie Menschen an sie glauben, und wiegen gleichzeitig kosmisch schwer wie astrologische Erklärungen für reale Probleme.
Eine große Geschichte erzählt der Roman nicht – und nicht nur, weil es keine großen Geschichten mehr gibt –, sondern erkundet seine Welten und seine Hauptfigur eher in kurzen Skizzen und längeren Szenen. Der Besuch einer Quatschkonferenz in München gehört zu den Highlights, ein ähnlicher Ausflug nach Japan weiß wenigstens um seine Klischees. Aus den Fragmenten bilden sich ohne große Anstrengung bestimmte Themen, Motive und Handlungsstränge heraus. Sie ergeben nicht immer einen geschlossenen Kreis, aber Themen wie psychische Erkrankungen und Misogynie (im Roman "the lamest meme of all") werden strukturell und psychologisch durchleuchtet. Formale Ansprüche werden dabei aber nie gefälligem Identifikationspotential geopfert.

Zwischen Internet und Theorie

Literarische Vorbilder wie "Die Glasglocke" von Sylvia Plath und Bret Easton Ellis' "American Psycho" scheinen auf der Hand zu liegen, und es gehört zum emotionalen Grunddilemma, dass die Hauptfigur diese Bücher natürlich auch kennt und weiß, dass sie doch nur eine Grundszene post-post-moderner Existenz durchspielt.
So bleibt dem Roman nur, die jüngste Iteration dieser Grundszene möglichst genau einzufangen. Segal erfindet keine Sprache, sie hört sich selbst und ihrer Umgebung zu und liest mit, und kondensiert so einen ganz bestimmten Tonfall, zwischen müdem Sarkasmus, teils verzweifeltem Enthusiasmus, Internetcodes und zu viel Theorie, wie er um 2015 gesprochen wurde.

Missglückte Übersetzung

Die Schwierigkeit einer Übertragung eines Textes, der mit so vielen Referenzen, Fachbegriffen und Zitaten arbeitet, in eine andere Sprache ist offensichtlich. Tatsächlich ist die Übersetzung nicht geglückt. Mal werden Serientitel und ähnliches übersetzt, mal nicht, unabhängig ihrer Geläufigkeit; aus "Boston Brahmin", einem Mitglied der Oberschicht der Stadt, wird "der Boston Brahmane", was nach einem Selbsthilfeguru klingt; Jüdischkeit als "deep legacy" wird zum "dunklen Vermächtnis". Schon im ersten Satz fährt Emily Segal "Richtung Stadtzentrum", als sei Manhattan eine deutsche Unistadt. Das Gendern auch in gesprochenen Dialogen erscheint ahistorisch, und es ist doch bezeichnend, dass zwar von "Kolleg:innen", aber von "Stripperinnen" die Rede ist.
Das sind nicht einfach nur unschöne Schnitzer, an denen nicht zu viel rumzukritteln ist, sondern Beschädigung des poetischen Konzepts des Romans. Im Festhalten der Sprache sollen auch die herrschenden Sitten und Werte festgehalten werden, und dieses Versprechen wird nur im Original eingelöst.

Widerstand als verpasster Trend

Inzwischen hat der Roman als Sprach- und Sittenbild tatsächlich historischen Wert. In New York ist der Vibe offiziell geshifted (im Roman: “die Atmosphäre hat sich verändert”), ausgestellter Nihilismus bestimmt die Kreativszene, wenn man den trend pieces glauben kann. Der mindestens proto-faschistische Internetmilliardär Peter Thiel finanziert hippe Kunstfestivals, im Roman investiert er schließlich in eXe.
Jenseits dieser leisen Bezüge tauchen die kommende faschistische Bedrohung, aber auch die Hinwendung ihrer Generation zum Sozialismus, im 2015 spielenden, aber 2020 im Original veröffentlichten Roman, kaum auf. Dass Emily Segal sich platter retrospektiver Projektion verweigert, ist eine der vielen Qualitäten ihres Buches. Dabei wissen die Figuren um ihr Gefangensein in Selbstausbeutung, Kommodifizierung und Warenfetisch. Aber Widerstand, wie bei Occupy Wall Street 2011, kommt auch nicht in Frage, und sei es aus Gründen des Geschmacks. So wird die Revolution zu einem weiteren verpassten Trend: Im Kapitalismus ist der Merkur immer rückläufig.



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