Elinor Cleghorn: „Die kranke Frau“

Der Mythos von der unterbeschäftigten Gebärmutter

05:33 Minuten
Das Cover des Buchs "Die kranke Frau" von Elinor Cleghorn zeigt eine kopflose Büste eine Frau, die auf dem Kopf steht.
© Kiepenheuer & Witsch

Elinor Cleghorn

Übersetzt von Anne Emmert und Judith Elze

Die kranke Frau. Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussenKiepenheuer & Witsch, Köln 2022

496 Seiten

25,00 Euro

Von Susanne Billig · 26.08.2022
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3000 Jahre Medizingeschichte haben Frauen vielfach Schmerzen und Leiden beschert. Diagnosen fußten oft auf Vorurteilen. Auch heute existiert noch keine Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin, zeigt die Autorin an ihrem eigenen Fall.
80 Prozent aller Menschen mit einer Autoimmunkrankheit sind Frauen. Doch vor der Diagnose steht oft ein jahrelanges Spießrutenlaufen, weil Ärzte einfach nicht glauben können, dass diffuse Schmerzen bei Frauen handfeste körperliche Ursachen haben.
Auch ihre Autoimmunkrankheit sei jahrelang ignoriert worden, erzählt die britische Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn in ihrem wuchtigen neuen Buch „Die kranke Frau“. Darin nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Tour de Force durch dreitausend Jahre Medizingeschichte und Missachtung, Zurichtung und Beherrschung des weiblichen Körpers unter dem Deckmantel der Heilkunst.

Viel Fantasie für Diagnosen

Der erste Teil befasst sich mit dem großen Zeitraum von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Sorgfältig und immer gut lesbar rekonstruiert die Autorin, wie die Idee einer „erstickenden Gebärmutter“ die Medizin jahrhundertelang dominierte. Angeblich ging, wenn Frauen nicht ständig schwanger waren, ihre unterbeschäftigte Gebärmutter auf Wanderschaft, schädigte Organe und löste vielfältige Symptome von Zuckungen über Atemnot bis hin zu Wahnvorstellungen aus.
„Als der Mensch in das Mittelalter eintrat, wanderte die Gebärmutter mit“, schreibt Elinor Cleghorn und lässt grausig Revue passieren, was es für Frauen damals bedeutet hat, dass die christlichen Moralgesetze jegliche körperliche Untersuchung des weiblichen Körpers untersagten. Weil die Selbstauskünfte von Frauen als unzuverlässig galten, verließen sich die Medici in Diagnose und Therapie auf ihre blühende Fantasie, die angeregt war von Vorurteilen, Abscheu und Angst vor dem weiblichen Geschlecht.

Weiblicher Widerstand

Wer nun hofft, die Verwissenschaftlichung des Heilberufs habe mit der ärztlichen Ignoranz gegenüber Frauen Schluss gemacht, muss sich im zweiten und dritten Teil des Buches eines Schlechteren belehren lassen.
An ergreifenden zeitgenössischen Fallgeschichten, die immer auch aufscheinen lassen, wie Frauen Widerstand zu leisten versuchten, zeigt Elinor Cleghorn, was sich die Medizin vom 19. Jahrhundert bis heute an ideologiegesteuerten Therapien ausgedacht hat – von der Lobotomie für unbotmäßige Gattinnen über grassierende Totaloperationen in den 1970er-Jahren bis hin zu den zahlreichen Happy Pills, die Frauen bis heute daran hindern sollen zu fragen, ob ihre chronische Niedergeschlagenheit nicht doch etwas mit ihrer angespannten Lebenslage zu tun hat.

Appell: „Glaubt uns!“

Nach so viel akribischer Spurensuche berührt es umso mehr, wenn Elinor Cleghorn im Schlusskapitel von ihrer eigenen Odyssee erzählt, von chronischen Schmerzen, hochkomplizierten Schwangerschaften, krank geborenen Kindern, weil Ärzte ihre Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes nicht erkannten, eine chronische Erkrankung, die medikamentös behandelt werden muss und kann. Die eigene Erfahrung hat dieser Autorin die Kraft gegeben, sich einer so brachialen Medizingeschichte auf über 500 Seiten zu stellen.
Elinor Cleghorn schließt ihr Buch mit einem Appell: „Glaubt uns! Wir sind die verlässlichsten Zeuginnen dessen, was in unserem Körper geschieht.“

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