Elektrische Impulse im Konzertsaal

Musik mit allen Sinnen erleben

Von Christoph Möller  · 13.11.2018
Wie wäre es, wenn etwa im Klassik-Konzert bei einer spannenden Stelle die Sitze vibrieren würden? Oder eine Duftorgel passende Gerüche verbreitet? Wissenschaftler arbeiten daran, den Konzertbesuch zu einem Genuss für alle Sinne zu machen.
"Alle Sinne ansprechen, aber inhaltlich durchdacht und mit Anspruch."
Das möchte der Dirigent und Musikwissenschaftler Till Schwabenbauer mit so genannten "multimodalsensorischen Konzerterlebnissen" erreichen. Er will, dass im Konzert alle Sinne angesprochen werden und dass man nicht mehr nur langweilig rumsitzt, sondern dass Dinge vibrieren, dass es riecht oder elektrische Impulse die Besucherinnen und Besucher anregen. Aber besteht nicht schon jetzt jedes Konzert aus mehreren Sinneseindrücken?
"Klar, jede Partitur an sich ist multimodal, und jedes Konzert ist multimodal. Aber ich möchte eben alle sensorischen Momente durchdenken, um ein möglichst umfassendes Konzerterlebnis zu ermöglichen, und nicht von vornherein verschiedene Sinne ausschließen, weil sie in der Partitur nicht aufgeschrieben wurden."
Schwabenbauer findet, die Aufführung klassischer Musik irritiere heute nicht mehr so sehr wie zur Zeit ihrer Komposition. Etwa Beethovens erste Sinfonie.

Die Irritation zurückholen

Schon direkt am Anfang führt Beethoven die Hörerinnen und Hörer in die Irre: Es ist unklar, in welcher Tonart das Stück geschrieben ist. Damals war dieser Auftakt neu und ungewöhnlich.
"Heutzutage denkt man: Ja, habe ich schon tausend Mal gehört, tangiert mich jetzt nicht weiter."
Schwabenbauers Idee: Die Irritation zurückholen.
"Wenn man elektrische Impulse durch die Sitzgelegenheiten durchschicken könnte, dann könnte man zum Beispiel eine mechano-rezeptive Sensation erzeugen beim Publikum.
Man könnte kurz davor das Licht flackern lassen, so ähnlich wie wenn das Licht ganz kurz ausfällt, oder irgendwas mit der Leitung kaputt ist. Man könnte eine Irritation hervorrufen, die auf diesen Akkord Bezug nimmt, und auf einmal hört man den Zusammenhang, weil die unterschiedlichen Eindrücke miteinander gekoppelt werden."

"Multimodalsensorische Konzerte"

Dazu vielleicht noch eine Duftorgel, die Gerüche im Konzertsaal verbreitet. "Multimodalsensorische Konzerte" sollen den ursprünglichen Inhalt einer Komposition zurückholen. Zum effektheischenden Event, sagt Schwabenbauer, sollen klassische Konzerte nicht verkommen.
Wie haptische Impulse auch das Musikhören zuhause besser machen können, dazu forschen Stefano Papetti von der Zürcher Hochschule der Künste und Charalampos Saitis von der Technischen Universität Berlin. Papetti sagt:
"Auf einem Konzert hast du schon jetzt haptisches Feedback. Wenn du vor der Bühne stehst oder sitzt, hast du jetzt schon eine Menge Vibrationen. Zu Hause fehlt dieses haptische Element. Das könnte man zum Beispiel mit einem vibrierenden Stuhl zurückholen."
Oder mit dem "Basslet", einem Armband, das bei tiefen Bässen vibriert.
Besonders bei Virtual-Reality-Anwendungen werden auch haptische Impulse wichtig sein, glauben die Forscher. Dann könne man sich 360-Grad-Konzerte nach Hause holen, und sie nicht nur visuell und akustisch wahrnehmen. Sondern die Vibration der Bassfrequenzen auch spüren.

Haptisches Erleben hilft Hörgeschädigten beim Musikgenuss

Charalampos Saitis glaubt, die haptische Wahrnehmung von Musik kann auch noch in einem ganz anderen Bereich sinnvoll sein.
"Menschen, die auf Hörgeräte angewiesen sind, können bestimmte Klangaspekte nicht so gut wahrnehmen. Sie haben Probleme, die Klangfarbe zu erkennen, oder einzelne Instrumente auseinanderzuhalten. Es ist vorstellbar, dass einige dieser Fähigkeiten mit haptischem Feedback zurückgeholt werden können."
Auch Konzerte könnten für gehörlose Menschen mit haptischen Impulsen zugänglicher gemacht werden. Noch wirkt die Technik allerdings etwas ungelenk: Möchte man wirklich eine vibrierende Weste anziehen, bevor man auf ein Konzert geht? Oder Kopfhörer aufsetzen, deren Ohrmuschel wie ein Smartphone vibriert?
Bis es Konzerte mit vibrierenden Stühlen und elektrischen Impulsen gibt, muss wohl noch ein bisschen Aufklärungsarbeit geleistet werden.
Mehr zum Thema