Einwanderungspolitik

Die Erfindung der Integration

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Der Drang, Vielfalt zu vereinheitlichen, ist eine Errungenschaft des modernen Nationalstaates, erläutert Straub. © picture alliance / dpa / Robert B. Fishman
Von Eberhard Straub · 20.01.2015
Parallelgesellschaften waren früher etwas völlig Selbstverständliches. Mit Blick auf die europäische Geschichte erklärt der Historiker Eberhard Straub: Die Forderung nach Integration ist eine Erfindung des modernen Verwaltungsstaates.
An Festtagen wird gerne die bunte Vielfalt gefeiert, die das Leben in Deutschland so liebenswert mache. Beim sommerlichen Karneval der Kulturen liegen sich Menschen in den Armen und bestätigen einander strahlend, dass ihnen nichts Menschliches fremd sei. Aber im grauen Alltag kommt es immer wieder zu gereizten Stimmungen, weil nicht alle Menschen in Deutschland Deutsch verstehen und manche gar keine Lust haben, diese Sprache überhaupt zu lernen. Ziemlich ungeduldig wird solchen Eigensinnigen dann vorgehalten, dass Menschen in Deutschland Deutsch reden sollen und sich den Gewohnheiten der Mehrheit anzugleichen haben. Darin bestehe die notwendige Integration, um ein reibungsloses Zusammenleben zu ermöglichen.
Das ist eine sehr neue Forderung. Denn früher galt ein Königreich mit gleichförmigen Sitten und nur einer Sprache als schwach und zerbrechlich. Das sagte vor genau tausend Jahren der heilige Stephan, König von Ungarn. Die alte, vornationale Welt kannte daher keine Angst vor Parallelgesellschaften. Sie waren etwas ganz Selbstverständliches, solange es die Freiheit im Plural gab, als Fülle von Besonderheiten und Eigenheiten.
Ehemals umworbene deutsche Gastarbeiter
Deutsche waren einst gesuchte und umworbene Gastarbeiter. Sie folgten gerne der Aufforderung, nach Polen, Russland, Spanien, Frankreich oder Ungarn zu kommen. Ihre Bedingung war allerdings, dort nach eigenem Recht zu leben. Das meinte auch, an der eigenen Sprache und Kultur festzuhalten und nicht darin gehindert zu werden, ein abweichendes Glaubensbekenntnis in aller Öffentlichkeit zu pflegen. Deutsche Fürsten gestanden ihrerseits allen möglichen Ausländern das Gleiche zu. Das berühmteste Beispiel sind die Hugenotten. Sie flohen nach Deutschland ab 1685. Damals hatte Ludwig XIV. die Religionsfreiheit aufgehoben. Ihr calvinistischer Glaube war ihnen wichtiger als das Vaterland. Von diesem lösten sie sich im Übrigen gar nicht. Sie blieben was sie waren, Franzosen mit eigenen Kirchen und Schulen, in denen in Französisch unterrichtet oder gepredigt wurde. Sie heirateten vorzugsweise untereinander und ließen sich nicht einmal zusammen mit Deutschen auf dem gleichen Friedhof bestatten. Sie machten um 1720 ein Drittel der Bevölkerung in Berlin aus. Der König konnte sich auf ihre Loyalität verlassen. Darauf allein kam es an.
Vielfalt und Unübersichtlichkeit ohne Schrecken
Manche Berliner regten sich zuweilen über affektierte Franzosen und ihre unüberhörbare Sprache auf. Es lag ihnen aber ganz fern, so etwas wie Integration und Anpassung an eine Leitkultur und deren Sprache zu fordern. Dazu fehlten sämtliche Voraussetzungen. Denn die deutsche Schriftsprache war für die meisten Deutschen eine Fremdsprache. Sie konnten sich untereinander nur mühselig verständigen, weil ihre Dialekte zu stark voneinander abwichen. In Italien oder Frankreich verhielt es sich nichts anders. Jeder Staat, selbst ein Stadtstaat wie Venedig, duldete viele Sprachen und mannigfache Lebensformen.
Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit schreckte keinen. Der Drang, zu vereinheitlichen und zu homogenisieren, machte sich erst seit der Französischen Revolution bemerkbar. Er gehört zum modernen Nationalstaat, der als ausufernder Verwaltungsstaat nur einen Ehrgeiz kennt, das gesamte Leben ordnend zu erfassen. Sein Ziel ist, Gleichheit der Lebensverhältnisse herzustellen. Das lässt sich nicht ohne Zwang erreichen. Etwa dem Zwang, eine jeweilige Nationalsprache zu lernen. Sie ist als Staatsprache zur Norm geworden. Von Normen und der Normerfüllung hängt mittlerweile die Leistungsgesellschaft ab. Sie nährt sich von der Einfalt ungestörter Funktionsprozesse, die durch die Vielfalt der Lebensentwürfe nur ins Stocken geriete. Diese hat ihren Platz allein in festlichen Zusammenhängen, beim Karneval der Kulturen.
Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u.a.: "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".
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