Einsamkeit. Das ist eines der vielen Dichterworte aus der Romantik. Ein Wort wie Heimat oder Nation, wie Sehnsucht oder Leidenschaft. Ein unscharfes, kaum definierbares Wort, an dem eine Menge Geschichten hängen.
Kulturgeschichte der Einsamkeit
Schon Homers Odyssee handelte von Einsamkeit. Auf der einen Seite: Odysseus. Ein unternehmenslustiger Held, der auf seinen Irrfahrten zum Spielzeug launischer Götter wurde. Auf der anderen Seite: Penelope und Telemachos. Die verlassene Frau und der suchende Sohn. Egal, ob man ausfährt oder zu Hause bleibt, die eigentliche Tragödie der Odyssee ist: Was man auch tut – man ist einsam bis zum Schluss.
In der Moderne haben wir dann begonnen zu unterscheiden: „Alleinsein ist, wenn ich mir selbst genug bin. Einsamkeit, wenn mir dazu etwas fehlt.“ Und während im 19. Jahrhundert Heinrich Heine noch über die Vorzüge der Waldeinsamkeit dichtet, verspricht das Kommunistische Manifest schon ein Ende der Einsamkeit.
In ihm heißt es: „Der Fortschritt der Industrie setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.“
Das sind einige der großen Geschichten über Einsamkeit. Aber dann gibt es eben auch noch die kleinen.
Die Angst, stecken zu bleiben
Als Hannah Bahr mir die Tür zu ihrer Wohnung öffnet, strahlt sie über ihr ganzes Gesicht. Nachdem sie mir etwas zu trinken angeboten hat, führt sie mich in ihr Wohnzimmer. Hannah ist jetzt 26 und schreibt bald ihre Masterarbeit. Seit der Pandemie arbeitet sie auf dem Wochenmarkt und hat zwei Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen.
Alles in allem fühlt sie sich sozial gut eingebunden. Aber die Einsamkeit begleitet sie. „Ich würde sagen, es fühlt sich so an wie eine Glasglocke“, beschreibt sie das Gefühl. „Ich gucke so nach draußen und sehe Menschen, die mir nah sind und an die ich ran will und mit denen ich Zeit verbringen will, und trotzdem ist da immer so eine Distanz.“
Einsamkeit wird oft definiert als die wahrgenommene Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich bestehenden sozialen Beziehungen.
Susanne Bücker, Einsamkeitsforscherin
Versucht man über Einsamkeit zu sprechen, greift man schnell zu Bildern. Da ist von Wüsten die Rede und von Mauern. So richtig treffend ist das meist nicht, sagt Hannah. „Ich wünschte, es gäbe so Karten, auf denen diese Bilder dann sind und die aber direkt dieses Gefühl mittransportieren. Ich würde gerne Menschen so anticken, und dann spüren sie körperlich mal, was das mit sich bringt. Aber das ist natürlich nichts, was passieren kann.“
Im Gespräch mit ihr wird deutlich, dass sie sich schon lange Gedanken über das Thema macht. Das wirklich Schlimme an der Einsamkeit sei die Angst, in ihr stecken zu bleiben, sagt sie. Die Ursachen für ihre Gefühle sieht sie in ihrer Kindheit und in ihrer Familie. „Wenn ich als Kind etwas beherrscht habe, beispielsweise Fahrradfahren, dann wurde ich damit alleine gelassen. Wenn ich Vokabeln lernen konnte, alleine, dann wurde ich damit alleine gelassen“, erzählt sie. „Ich glaube, es ist fast so eine Grundangst in mir, dass das das Grundmotiv meines Lebens ist.“
Auch Kinder können einsam sein
Alle Menschen fühlen sich mal einsam und das müsse man auch schon Kindern vermitteln, sagt Thorsten Herbst, Studiengangsleiter für Angewandte Therapiewissenschaft an der IB Hochschule für Gesundheit und Soziales.
Aber wenn einem Kind nicht auch gleichzeitig beigebracht würde, offen über Einsamkeitsgefühle zu sprechen, dann werde es schnell problematisch. „Wenn ein Mensch einsam ist und das nicht äußern kann, so gehen damit immer viele emotionale Kollateralphänomene einher“, so Herbst. „Einfaches Beispiel: Ein Kind, das Einsamkeit erfährt, indem es ausgegrenzt wird, wird, wenn das mehrfach passiert, auch glauben, dass es ein Kind ist, mit dem man ja auch gar nicht gut spielen kann, das doof aussieht, das hässliche Schuhe hat. Das heißt, ein Stigma wird übernommen und es wird zum Selbststigma gemacht.“
Etwa bis zum fünften Lebensjahr äußert sich kindliche Einsamkeit vor allem in der Angst, von den engsten Bezugspersonen verlassen zu werden. So verlorenes Urvertrauen lässt sich in späteren Lebensaltern nur schwer wiederherstellen. Stabile Beziehungen sind in diesem Alter deshalb gleich doppelt wichtig: als Versicherung gegen chronische Einsamkeitsgefühle auch in späteren Lebensphasen und als Voraussetzung dafür, auch ohne Ängste allein sein zu können.
Später wird es dann schnell komplex. Diskriminierung, fehlende Spielpartner oder wenige enge Freunde, manchmal nur ein unglücklicher Aufenthalt im Krankenhaus oder auffällig viel Zeit an Handy und Tablet – das alles sind Formen von kindlicher Einsamkeit, sagt Herbst.
Warum tabuisieren wir das?
Da Kinder erst gegen Ende des Grundschulalters die Fähigkeit zur eigenständigen Selbst- und Weltwahrnehmung voll entwickelt haben, fühlen sie aber Einsamkeit nur dort, wo sie auch von Eltern oder älteren Geschwistern benannt wird. So lässt sich kindliche Einsamkeit leicht verdrängen. Denn es hänge an den Älteren, sie zu erspüren.
„Du kommst auf die Welt alleine, du gehst alleine aus der Welt. Das ist die Ursituation“, sagt Herbst. „Deswegen ist die Perspektive des Erspürens von Einsamkeit das Wichtige, nicht die Tatsache, dass es Einsamkeit gibt. Das ist eine Eule, die in Athen wohnt. Das will kein Mensch mehr wissen. Sondern: Warum tabuisieren wir das, und mittels welcher Haltungen oder vielleicht Übungen können wir uns diesem Phänomen widmen?“
Um zu ergründen, woher kindliche Einsamkeitsgefühle kommen, kann es helfen, sich mit eigenen Kindheitserinnerungen zu befassen und zu fragen, in welchen Situationen man sich selbst einsam gefühlt hat und warum.
Helfen könne aber auch die Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur, sagt Thorsten Herbst, der früher auch als Sänger, Komponist und Regisseur gearbeitet hat, beispielsweise „Pippi Langstrumpf“.
Am Rande der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt, und sie wohnte ganz allein. Sie hatte keine Mutter und keinen Vater, und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, dass sie zu Bett gehen sollte, gerade wenn sie mitten im schönsten Spiel war.
Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren, 1949
Auf den ersten Blick wirkt Pippi selbstbewusst, aber auf den zweiten erkennt man, wie einsam es in der Villa Kunterbunt eigentlich ist. Pippis Mutter ist tot, der Vater als Pirat unterwegs – Astrid Lindgren hat viel zu erzählen über kindliche Einsamkeit.
Letztlich müsse man aber von den Erzählungen zum Handeln kommen. Herbst nennt das die soziale Mindestgeste. Aus dem Erspüren werde ein Erkennen. „Es ist ein Muster. Das teile ich mit vielen. Dann benenne ich das Muster, und dann sagen andere auch: Tatsächlich, das lässt sich mit Sprache darstellen, das lässt sich empirisch darstellen. Und dann handle ich. Aber nicht verpflichtend, sondern freiwillig.“
Einsamkeit als Identität
Verlässliche Zahlen über Einsamkeit gibt es erst ab dem jugendlichen und jungen Erwachsenenalter. Sie zeigen: Keine Altersgruppe fühlt sich so einsam wie die 18- bis 29-Jährigen. Und während seit den 1970er-Jahren das Einsamkeitsgefühl in den meisten Altersgruppen leicht abnimmt, steigt es hier langsam, aber kontinuierlich an. Und zwar weltweit.
Der japanische Psychiater Tamaki Saito benannte schon in den 1990er-Jahren ein Einsamkeitsphänomen: „Hikikomori“, zu Deutsch sozialer Rückzug. Saito bemerkte, dass viele seiner Patientinnen und Patienten soziale Beziehungen ohne erkennbare physische oder psychische Ursachen für mehr als sechs Monate auf ein Minimum reduzierten.
Er selbst ging anfangs von circa einer Million Betroffener in Japan aus. Offizielle Statistiken des japanischen Gesundheitsministeriums sprechen heute von rund 50.000 Menschen.
Raus aus den eigenen vier Wänden: Ein Hikikomori während einer Wanderung, die ihm helfen soll, sich wieder zu integrieren.© picture alliance / dpa / Everett Kennedy Brown
Heute gibt es auf allen großen Internetplattformen Hikikomori-Threads und -Server, viele davon englischsprachig, einige auch auf Deutsch. Nicht alle, die sich dort austauschen, wären tatsächlich dauerhaft sozial isoliert, sagt ein anonymer Betroffener aus Deutschland. Aber manche eben schon.
Mit seinem Begriff hat Saito vor allem einen Diskurs angestoßen: In Japan gibt es inzwischen zahlreiche Hilfsprogramme für Betroffene, und man hat begonnen, Einsamkeitsgefühle ernst zu nehmen.
Ein Lebensgefühl der Schwere
Die Schriftstellerin und Aktivistin Karin Amamiya wurde 1975 in Hokkaido geboren. 2007 schrieb sie ein Buch über die Situation des jungen Prekariats in Japan mit dem Titel: „Ikisasero!“ – zu Deutsch „Lasst uns überleben!“.
Für Amamiya ist Hikikomori nur der äußere Punkt eines ganzen Spektrums an Einsamkeitsgefühlen, die für sie hauptsächlich wirtschaftliche Ursachen haben. „In meiner Schulzeit war die japanische Wirtschaft im Aufschwung. In den 90er-Jahren platzte die Blase, und der Rückgang war deutlich spürbar“, erzählt sie. „Aber in den Köpfen der Menschen sitzt der Gedanke, dass harte Arbeit sich auszahlt, immer noch tief. Das führt dazu, dass man sich schuldig fühlt, wenn man nicht von der Stelle kommt.“
Das Phänomen der Einsamkeit umschwirrt uns alle. Mir war nur die Frage wichtig, warum machen wir das zum Tabu?
Thorsten Herbst, Erziehungswissenschaftler
Ende der 90er-Jahre hörten viele japanische Firmen auf, junge Menschen dauerhaft anzustellen und begannen, sie schon nach kurzer Zeit zu kündigen. Heute ist dieses Vorgehen so üblich, dass um die Figur der Freeters, gemeint sind unterbeschäftigte junge Menschen, ein neues Literaturgenre entstanden ist. Das Thema: der zähe Alltag im jungen Prekariat.
„Materielle Armut wirkt sich auch auf menschliche Beziehungen aus“, so Amamiya. „Wenn man arm ist, kann man zum Beispiel nicht mit jemandem trinken gehen, es gibt weniger Gelegenheiten, sich mit Menschen auszutauschen.“ Das führe dazu, dass man die Motivation zum Arbeiten verliert. „Sie denken, es ist besser, sich in ihr Elternhaus zurückzuziehen, statt als Teilzeitbeschäftigter in einer Fabrik zu arbeiten, gekündigt zu werden und auf der Straße zu landen.“
"Ich fühlte mich als austauschbarer Einwegartikel behandelt", sagt die Schriftstellerin Karin Amamiya© privat
Viele prekär Beschäftigte teilten ein Lebensgefühl der Schwere. Karin Amamiya, die selbst auch als Freeter gearbeitet hat, beschreibt es als eine Mischung aus starker sozialer Ablehnung und einer tief empfundenen inneren Leere.
Ende der 1990er-Jahre, sie war damals Anfang 20, wusste sie mit diesem Gefühl nicht länger umzugehen und trat in eine nationalistische Gruppe ein. „Wenn ich nicht einsam gewesen wäre, wäre ich nicht in die Gruppe eingetreten“, sagt sie heute. „Es war der einzige Ort, wo ich mich gebraucht gefühlt habe. Außerhalb der Gruppe wurde ich nur als austauschbarer Einwegartikel behandelt, als Arbeitskraft, die man für 1000 Yen die Stunde ausbeuten und dann entsorgen kann.“
Wirklich geglaubt an die Ideologie habe sie nie, sagt Amamiya. So verlässt sie die Gruppe schon wenige Jahre später und verarbeitete ihre Erfahrungen in einer Autobiografie. „Nach dem Austritt habe ich den Begriff Prekariat kennengelernt. Ich habe verstanden, woher diese Schwere in meinem Leben kam: vom Neoliberalismus, der Globalisierung und der damit verbundenen Armut. Seitdem schreibe ich über Armut und setze mich für die Rechte von Teilzeitangestellten und prekär Beschäftigten ein.“
Alltägliche Einsamkeit
Hannah Bahr hatte nie mit Armut zu kämpfen. Bis zum Studium wurde sie von ihren Eltern immer finanziell unterstützt, heute reichen ihre Jobs, um eigenständig zu leben und zwei Kaninchen zu halten. Sie war gut in der Schule, spielte ein Instrument.
Als ich mit Karins Amamiyas Geschichte im Hinterkopf frage, ob auch ihre Einsamkeit mit Leistungsdruck zusammenhängt, zögert sie kurz. Dann erinnert sich Hannah sich an unzählige Küchengespräche mit ihrer Familie: „Gutherzig sein, empathisch sein, das war nichts, womit wir uns geschmückt haben, sondern es ging darum, welche Note du geschrieben hast. Und dann hat sich das natürlich schnell entwickelt auch zu so einem: Wer hat wie viel vor? Wer hat wie viele Hobbys? Dann wurden die Hobbys gemessen. Wer war wie gut in welchen Hobbys? Ja, und dann hatte ich schnell jeden Tag ein Hobby, plus Schule, plus alles.“
Sich messen, zählen, rechnen: Bei all dem Vergleichen sei nicht mehr viel Zeit gewesen, um über ihr Gefühl zu reden, sich mehr und mehr aus dem Blick zu verlieren, sagt Hannah.
Für Mandy Fleer hat Einsamkeit auch andere Ursachen. Sie kommt von einer Theaterprobe zu unserem Gespräch, ist 25 Jahre alt und engagiert sich im „Bundesverband der Selbsthilfe Soziale Phobie“. Das Wort Phobie möge sie allerdings irgendwie nicht. „Ich finde, das klingt so, dass man einfach keine Kontakte haben möchte, wenn man eine soziale Angststörung hat. Man möchte es ja schon, aber man hat halt Angst davor, und das ist super schwierig.“
Das erste Mal wirklich einsam gefühlt habe sie sich während ihres Auslandssemesters in Litauen, „weil ich keinen Anschluss wirklich hatte und alles neu war“.
Es gibt Risikogruppen
Es sind oft ganz normale Umbruchphasen wie diese, die junge Menschen mitunter starke Einsamkeit verspüren lassen: eine Trennung, ein Umzug oder eben ein Auslandsaufenthalt. Mandy hat sich in der neuen Stadt bald eine Tanzgruppe gesucht, und das hat ihr geholfen, die Zeit in Litauen doch noch zu genießen.
Sobald sie aber davon erzählt, begegnet sie häufig Vorurteilen über soziale Angststörungen: Oft werde es nicht als richtige Erkrankung angesehen. Dann müsse man sich anhören: Du bildest dir das nur ein, stell dich nicht so an. „Oder, dass auch gesagt wird: Du kannst doch keine soziale Angststörung haben, wenn du gleichzeitig, in meinem Fall jetzt, zum Beispiel auf der Bühne stehst. Dann kann es doch nicht sein, dass du Schwierigkeiten damit hast, beim Bäcker ein Brötchen zu kaufen.“
Einsamkeit kennt verschiedene Risikogruppen: arme Menschen, immigrierte Menschen, Menschen mit Behinderung, die LGBTQ+-Community. Oder eben Menschen mit sozialen Angststörungen.
Oft ist es bei diesen Gruppen das Stigma selbst, das einsam macht, sagt die Sozialpsychologin Manuela Barreto, die an der Auswertung des BBC Loneliness Experiments beteiligt war – der bis heute weltweit größten Einsamkeitsstudie. „Gerade, wenn ich von Minderheiten und stigmatisierten Gruppen spreche, liegt der Ursprung des Problems in Marginalisierung, in Abwertung. Die Tatsache, dass es eine dominante soziale Gruppe gibt, bedeutet, dass es eine Art und Weise gibt, mit anderen Menschen umzugehen, die als richtig gilt. Alles andere muss daran angepasst werden.”
Die Einsamkeitsfalle
Menschen mit sozialen Ängsten laufen besonders schnell Gefahr, in die sogenannte Einsamkeitsfalle zu tappen. Unsicherheit, Angst vor Bewertung: Bei einsamen Menschen sind diese sozialen Sensoren ohnehin besonders ausgeprägt. Kommen dann noch soziale Angststörungen dazu, kann aus Einsamkeit schnell sozialer Rückzug folgen, sagt Mandy Fleer. „In meiner einen Selbsthilfegruppe war für viele die Gruppe der einzige Kontakt. Wenn sich Leute so komplett zurückziehen, bekommt es halt niemand so wirklich mit.“
Es gibt viele Arten von Einsamkeit, aber Momo erlebte eine, die wohl nur wenige Menschen kennengelernt haben, und die wenigsten mit solcher Gewalt. Sie kam sich vor wie eingeschlossen in einer Schatzhöhle voll unermesslicher Reichtümer, die immer mehr und mehr wurden und sie zu ersticken drohten.
Momo von Michael Ende, 1973
Bei Mandy stand am Anfang solcher Phasen oft das Gefühl, ganz unbemerkt verschwinden zu können. „Vordergründig war der Gedanke: Es wird niemanden stören, wenn ich nicht dabei bin. Wahrscheinlich würden sie sich sogar freuen, wenn ich nicht mehr dabei bin. Deshalb ist es besser, ich ziehe mich zurück, weil ich dann keinem zur Last falle.“
Auch Deutschland hatte eine Kommission
Erst Japan, später Großbritannien: Auch, weil sich Risikofaktoren recht gut erkennen lassen, ist in immer mehr Ländern Einsamkeit inzwischen auch für die Politik ein Thema. In Deutschland setzte der Landtag Nordrhein-Westfalen 2020 die fraktionsübergreifende Enquetekommission „Einsamkeit“ ein. Die verfolgte zunächst ein gesundheitspolitisches Programm. Denn nur weniges ist an Einsamkeit so gut erforscht wie ihre gesundheitlichen Folgen: Einsamkeit verursacht Stress und wird sie chronisch, ist sie ähnlich gefährlich wie Kettenrauchen. Hinzu kommt eine signifikant erhöhte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen.
Auch in Kinderbüchern wie "Momo" von Michael Ende wird Einsamkeit häufig thematisiert.© picture alliance / dpa
Im Verlauf der Kommissionsarbeit in NRW stellte sich allerdings heraus, dass die Ursachen des Gefühls komplex sind. Deshalb finden sich im Abschlussbericht auch Vorschläge für eine bessere Städteplanung, für Veränderungen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und die Forderung nach mehr Prävention. Schuld an der Einsamkeit, so der Tenor des Berichts, sind meist nicht die Einsamen.
Einsamkeit hat strukturelle Ursachen, sagt auch die Einsamkeitsforscherin Susanne Bücker, die als Sachverständige in der Kommission mitgearbeitet hat. Die größten Handlungslücken liegen da in der Lebenswelt der Jüngeren. „Mittlerweile angekommen ist, dass Einsamkeit sehr starke gesundheitliche Konsequenzen mit sich bringt und die Motivation, dagegen etwas zu tun, ist relativ hoch.“ Oft aber mit Blick auf ältere Menschen. Hier gebe es bereits viele Programme auf Bundesebene, die sich um Alterseinsamkeit bemühen. „Aber es gibt quasi nichts, was sich um Einsamkeit in anderen Lebensphasen und speziell um das jüngere Lebensalter kümmert.“
Gerade bei jüngeren Menschen seien Einsamkeitsgefühle oft nur vorübergehend und entwickelten sich in der Regel wieder zurück, betont Bücker. Man findet sich nach einem Umzug in der neuen Stadt ein, baut einen Freundeskreis auf oder beginnt sich beruflich zu etablieren. Was die Forschung aber auch herausgefunden hat: Je früher Einsamkeit erfahren wird, desto eher droht sie zu einem Dauerzustand zu werden.
„Das durfte nicht da sein“
Nachdem Hannah Bahr zu Beginn ihres Studiums ausgezogen ist, wird ihr eine schwere Depression diagnostiziert. Anlass der Untersuchung war ein Suizidversuch.
Über Selbstverletzung habe sie aber schon viel früher nachgedacht, erzählt sie. Zum ersten Mal mit sechs oder sieben. „Wir hatten ganz lange Kaninchen und hatten in der Garage immer das Futter stehen. Da lag auch ein Kartoffelschälmesser daneben, und ich habe mich als Kind schon immer gefragt, wie das jetzt eigentlich wäre, wenn ich mir damit die Arme aufschneide, weil ich einfach nicht verstanden habe, warum ich da bin.“
Als ich nachhake, warum sie das nicht gefragt hat, antwortet sie: „Wenn ich so eine Frage gestellt hätte, dann wäre ich wahrscheinlich rausgeschmissen worden oder so. Das war direkt ein: Du bist undankbar, das ist nicht so, das stimmt nicht! Fast so wie so eine Gaslighting-Geschichte. Dass alles, was an ‚negativen Gefühlen‘ – in Anführungszeichen – da war, nicht anerkannt wurde. Das durfte gar nicht da sein.“
Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er in einem dunklen Schrank lebte, jedenfalls war Harry für sein Alter immer recht klein und dürr gewesen. Harry hatte ein schmales Gesicht, knubbelige Knie, schwarzes Haar und hellgrüne Augen. Er trug eine Brille mit runden Gläsern, die, weil Dudley ihn auf die Nase geschlagen hatte, mit viel Klebeband zusammengehalten wurden. Das Einzige, das Harry an seinem Aussehen mochte, war eine sehr feine Narbe auf seiner Stirn, die an einen Blitz erinnerte.
Harry Potter und der Stein der Weisen von Joanne K. Rowling, 1997
Das Beratungstelefon „Nummer gegen Kummer“ ist eine Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern, die zu unterschiedlichsten Themen Rat oder Hilfe suchen. Einsamkeit sei da ein häufiges Thema, sagt die Beraterin Nora Malmedie. Vor allem bei den Jüngeren: „Ich habe mal hier im Team gefragt, bei den Kollegen, die am Elterntelefon tätig sind. Und die haben berichtet, dass das bei denen eigentlich gar nicht vorkommt“, erzählt sie. „Da scheint es eine Diskrepanz zu geben. Kinder und Jugendliche berichten davon, aber Eltern rufen jetzt nicht zwangsläufig an und sagen: Ich habe gemerkt, mein Kind fühlt sich einsam.“
Viele junge Menschen wollen reden
Das kann unterschiedliche Gründe haben: weil die Eltern diese Gefühle bei ihren Kindern nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. „Es gibt tatsächlich die Kinder und Jugendlichen, die das so benennen und die das dann auch so sagen“, sagt Nora Malmedie. Aber manchmal stelle es sich auch erst im Gespräch heraus. „Manchmal ist dann so etwas wie Langeweile vielleicht im Vordergrund, und irgendwann kommt man dann darauf: Da ist eigentlich so ein Gefühl der Einsamkeit.“
Die Einsamkeitsgefühle vieler Ratsuchender seien oft kein Grund zur Sorge. Gerade jüngere Betroffene müssten erst noch lernen, dass diese Gefühle meist wieder vergehen. Das lasse sich in einem Telefongespräch gut vermitteln, sagt Malmedie.
Ist das Gefühl aber chronisch, stößt die telefonischen Beratung schnell an Grenzen. Die Ratsuchenden können dabei zwar zu der Erkenntnis kommen, dass längerfristige Hilfe nötig ist, holen müssen sie sich diese aber selbst, zum Beispiel in einer Therapie, da Einsamkeit negative Folgen für die Psyche und die körperliche Gesundheit haben kann.
Was machen wir mit dieser Einsamkeit?
Der Soziologe Hartmut Rosa befasst sich schon seit Jahren mit der Frage, warum sich Menschen – auch junge Menschen – abgekoppelt von der Welt fühlen, obwohl man doch heute vernetzt ist wie noch nie. Hartmut Rosa erklärt diese Gefühle mit einer Metapher: Resonanz. Zwei leicht geöffnete Klangkörper, die sich in gegenseitige Schwingung versetzen – oder eben nicht, wenn man einsam ist. „Normalerweise beziehen wir Einsamkeit häufiger auf die soziale Dimension“, sagt er. „Es sind keine Menschen da, mit denen ich in Resonanz treten kann. Aber dann stoßen wir auf das erstaunliche Phänomen, dass wir manchmal diese Form der Abwesenheit von Menschen brauchen, um unsere eigene Stimme wieder hören zu können, um plötzlich wahrzunehmen, dass wir auch mit dem Raum, mit den Dingen in Kontakt treten können.“
Mit zunehmender Freiheit in unserer Gesellschaft geht auch die Angst vor radikaler Vereinsamung einher, sagt der Soziologe Hartmut Rosa.© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Rosa möchte mit einer „Soziologie der Weltbeziehungen“ herausfinden, wie Menschen Verbindungen zu ihrer Lebenswelt aufbauen, wann sie als befriedigend und wann als enttäuschend wahrgenommen werden. Wo die Soziologie sich meist darauf beschränkt, die Gesellschaft zu beschreiben, fragt Rosa nach dem guten Leben.
Die spätmoderne Gesellschaft unterläge einer Steigerungslogik, sagt er. Um in ihr bestehen zu können, brauchten wir Wachstum, Beschleunigung und dauerhafte Innovation. Doch damit lebten wir in einer Zeit, in der die Einsamkeit immer nur eine Armeslänge entfernt auf uns warte. Menschen würden herausgelöst aus ihren scheinbar natürlichen Bezogenheiten. „Das ist ein großer Zugewinn an Freiheit, wie es bei Simmel heißt und auch bei Fromm. Aber die Angst, die damit einhergeht, ist die der radikalen Vereinsamung. Und die Frage ist, was wir mit dieser Einsamkeit machen.“
Ein neuer Umgang durch die Pandemie?
„Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“, heißt es in Hartmut Rosas Buch „Resonanz“: Kunst, Naturerfahrungen und Wahlverwandtschaft, Demokratie oder sogar die falschen Versprechen des Totalitarismus – all das seien moderne Versuche, mit der Einsamkeit umzugehen.
Was dabei aus seiner Sicht zunehmend fehlt, ist ein Gefühl der Kontinuität. Denn Resonanz bleibt in der Spätmoderne prekär, sagt Rosa. „Ich glaube, dass gerade junge Menschen sehr verständlicherweise die Sorge haben, dass sie letzten Endes existenziell allein durch das Leben müssen, weil wir wissen, dass alle Arten sozialer Assoziation sich immer wieder auflösen können. Daraus entsteht die Sorge, dass man vielleicht die Fähigkeit verliert oder gar nicht gewinnt, sich lebendige, haltende, tragende Beziehungen zu schaffen, die einem einen Ort im Leben auch in Krisenzeiten geben.“
Das Gefühl, dass diese Welt stumm ist, dass sie uns nichts zu sagen hat, dass wir sie nicht erreichen können, das ist, glaube ich, der existenzielle Kern von Einsamkeit.
Hartmut Rosa, Soziologe
In der Pandemie blieben junge Menschen länger und stärker einsam als die meisten anderen Altersgruppen. Was Rosa in seinem Buch als drohende „Resonanzkatastrophe“ beschreibt, wurde für viele von ihnen zumindest vorübergehend zur Realität. Hat der Einsamkeitsbegriff dadurch eine neue Bedeutung erhalten?
„Ich habe mich häufig auch selber gefragt, wie sich der Umgang mit dem Begriff einsam oder Einsamkeit während der Pandemie verändert hat. So dass ich mir gar nicht so sicher bin, ob junge Menschen heute vielleicht auch etwas schneller damit sind, ihre eigenen Gefühle als Einsamkeit zu beschreiben, ohne vielleicht eine ganz klare Vorstellung davon zu haben, was wir als Psychologinnen und Psychologen meinen, wenn wir zu Einsamkeit forschen“, sagt Susanne Bücker, Wissenschaftlerin an der Ruhr-Uni Bochum.
Wenn man gebraucht wird
„Ich glaube, beim Tanzen habe ich mich noch nie gefragt, ob ich mich gerade einsam fühle, weil das da gar keine Rolle gespielt hat. Man ist so im Körper, in der Bewegung, in der Musik und ist so eins.“ Es gibt viele Wege aus der Einsamkeit: Die Bloggerin Mandy Fleer tanzt und spielt Theater. Die Autorin Karin Amamiya unterstützt prekär Beschäftigte. Der Studentin Hannah Bahr hilft ihre Therapie. Alle drei engagieren sich politisch.
Drückend ist in der Spätmoderne nicht die Einsamkeit selbst. Drückend ist das Gefühl, sich in ihr verfangen zu haben, und der Gedanke, selbst daran schuld zu sein.
„Alle Ratgeber legen einem das nahe. Wenn jemand sagt, ich bin einsam, dann kommt sehr schnell die Idee: Dann musst du an dir arbeiten. Ich glaube, dass das gerade nicht der Weg ist, Einsamkeit zu überwinden, weil das im Prinzip nur die To-Do-Liste vergrößert und die Menschen erst Recht zu schuldigen Subjekten macht. Ich kann natürlich auch super frustriert vom Fußball oder vom Singen oder von der politischen Gruppe nach Hause kommen, weil ich das Gefühl habe: Da hat mir ja wieder keiner zugehört.“
Zur Einsamkeit gehören immer mindestens zwei, sagt auch der Pädagoge Thorsten Herbst. Deswegen sei es so wichtig, sie zu erkennen und dann auch zu handeln. „Man muss halt schwebend aufmerksam sein. Man muss nicht ständig betüddeln, aber dann den Punkt erwischen, an dem man gebraucht wird.“
Autoren: Norman Marquardt und Yu Minobe
Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Clarisse Cossais
Technik: Jan Fraune
Sprecher und Sprecherinnen: Timo Weisschnur, Birgitt Dölling, Birgit Paul, Susanne Papawassiliu, Torsten Föste