Eine traurige deutsche Geschichte

Rezensiert von Frauke Meyer-Gosau · 25.12.2011
Die meisten kennen Matthias Claudius als Autor des berühmten "Abendliedes". Dass er ein Genie der Geselligkeit war und nach der Französischen Revolution als Kriegstreiber auftrat, weiß man dagegen meist nicht. Annelen Kranefuss zeichnet in ihrer Biografie ein Bild seines Lebens.
Dieser Typus kommt uns bekannt vor: Ein junger Mann aus holsteinischem Pastorenhaus geht zum Studium nach Jena. Er beginnt mit Theologie, stellt aber bald fest, dass das nichts für ihn ist, und wechselt zu Jura. Nach drei Jahren verlässt er die Uni ohne Abschluss und kehrt ins Elternhaus zurück; eine Arbeitsstelle hat er nicht gefunden. Vielleicht aber ist die Brotarbeit sowieso nicht seine Sache. Lieber träumt er vor sich hin - Kleidung und Frisur immer leicht aufgelöst -, wandert, schreibt, vergnügt sich mit philosophischen, politischen und religiösen Debatten: ein freundlicher Sonderling. Eher zufällig wird er eines Tages Journalist und fragt die Leser seiner Hamburger Tageszeitung:

"Aber wovon soll ich Sie denn unterhalten ( ... )? Vom Türkenkrieg? Nicht vom Kriege; ich habe darin recht dummes Haar, es steigt gleich bergan, sobald ich nur vom Kriege höre ( ... ) Von Armorn? Von Amorn muss man nicht Briefe schreiben, er hasst die Schwätzer, der kleine holde Götterknabe ( ... ) Also von Genie und Geschmack? Ei, was gehen Sie und mich Genie und Geschmack an? Also von nichts? Ja doch, von nichts, meinetwegen, das ist so grade das Fach, darin ich am stärksten bin ... "

Matthias Claudius heißt dieser Mann. 1740 ist er geboren, die meisten werden ihn als Autor des Liedes "Der Mond ist aufgegangen" kennen - dass er ein Genie der Geselligkeit war, ein natur- und friedliebender Freimaurer, weiß man dagegen meist nicht und schon gar nicht, dass er sich nach der Französischen Revolution zu einem Kriegstreiber und Propagandisten des Ancien Régime wandelte, der auch vor Denunziation nicht zurückschreckte. Annelen Kranefuss hat den Lebensweg dieses eigentümlichen Dichters jetzt mit großer Sympathie nachgezeichnet.

Da sehen wir Matthias Claudius dann zunächst als grandiosen Netzwerker. Leicht knüpft er Kontakt zu philosophischen und literarischen Größen wie Lessing, Klopstock, Hamann und Herder; Schwierigkeiten, seine Texte zu veröffentlichen, hat er folglich kaum. Und auch später werden es immer wieder seine guten Kontakte sein, die ihn in Lohn und Brot setzen; in seinen letzten Jahrzehnten lebt er ausschließlich von Zuwendungen adliger Freunde und Gesinnungsgenossen.

Dabei war der Adel einmal Zielscheibe eines seiner berühmten Texte gewesen, in dem ein brutal zu Tode gehetzter Hirsch sich gegen seinen "durchlauchtigsten Fürsten" empört - eine Anklage gegen den Absolutismus, in der es hieß:

"Ich habe heute die Ehre gehabt, von Ew. Hochfürstlichen Durchlaucht parfocegejagt zu werden. Bitte aber unterthänigst, dass Sie gnädigst geruhen, mich künftig damit zu verschonen ( ... ) Lassen Sie mich lieber totschießen, so bin ich kurz und gut davon."

Aber was für Zeiten waren das auch! Das Königreich Dänemark besaß Kolonien in der Karibik, reiche Privatleute kauften sich gern mal ein ganzes Dorf. Wandsbek bei Hamburg etwa, wo Claudius lebte und für den "Wandsbeker Bothen" die literarische Figur des "Boten Asmus" erfand, einen skurrilen Kommentator der Zeitläufte; später erscheinen dessen Lebensansichten nur noch in Buchform, acht dicke Bände werden es am Ende sein. Vom Tagesjournalismus nämlich hatte sich der Autor nach einem letzten beruflichen Scheitern im Jahr 1777 endgültig abgewandt.

Einen "Confusionsrath" nannten ihn seine Freunde, doch auch die Biografin kann schwer sagen, was den Vater einer elfköpfigen Kinderschar eine Arbeitsstelle nach der anderen verlieren ließ: "Fernbleiben vom Arbeitsplatz" heißt es meist, wenn Claudius wieder eine Stelle bei einer Zeitung - oder, für ihn noch unbekömmlicher, eine Position an einem Fürstenhof - eingebüßt hat; Wilhelm von Humboldt hält den Mann schlichtweg für "eine völlige Null".

Nur zu gern wüsste man also, was eigentlich mit ihm los war: In seiner naturbelassenen Provinzialität wirkt er lange sympathisch, als Erzieher der Söhne eines Freundes aber greift er zu schwarzer Pädagogik, nach 1789 zieht er mit unchristlichem Furor gegen die Erklärung der Menschenrechte zu Felde. Seither erscheint er als penetranter Frömmler und politischer Theologe der Gegenaufklärung. Hatte Claudius gelernt, die Hand zu lecken, die ihn finanzierte?

"Über die Zeiten hinweg ( ... ) berührt die Integrität und Konsequenz dieses Lebens … "

… schreibt Annelen Kranefuss, doch da muss man ihr widersprechen. "Konsequenz" findet sich beim "Wandsbeker Rousseau" allenfalls im zähen Beharren auf dem Engen, Kleinen, Überschaubaren, das ihm während der 75 Jahre seines Lebens offenbar selbst Kopf und Herz verengt hat. Eine traurige deutsche Geschichte also eigentlich. An der Schönheit des "Abendliedes" aber ändert sie natürlich nichts.

Annelen Kranefuss: Matthias Claudius. Eine Biographie
Verlag Hoffmann & Campe