Eine Streitschrift für intime Kenner mittelalterlicher Geschichte

Von Erik von Grawert-May · 20.05.2012
Im Gegensatz zu populären Interpretationen und der Meinung anderer Historiker, besteht Johannes Fried in seinem Buch "Canossa" darauf, dass der Gang Heinrichs IV. zu Gregor VII. nach Canossa im Januar 1077 keine Demütigung war, sondern Buße.
Schon wieder ein Mythos-Zerstörer am Werk! Der Autor: ein hochangesehener Mediävist, Mitglied von vielen Institutionen, darunter der "Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften" und Mitherausgeber der renommierten "Historischen Zeitschrift". Höher hinaus geht es für einen Wissenschaftler kaum noch.

Wer jedoch denkt, da sei einer zu Ansehen gekommen und genieße die verdiente Ruhe, täuscht sich. Der Mann teilt aus. Besonders gegen seine eigenen, ebenfalls hochangesehenen Kollegen. Jeder kriegt sein Fett ab. Auch die Popularisierer von Geschichte, so der nimmermüde Guido Knopp mit seinen Spiel-Dokus im Zweiten Deutschen Fernsehen.

Sie alle bringen ihrer Klientel das Falsche bei, nämlich, dass der Gang Heinrichs IV. zu Gregor VII. nach Canossa im Januar 1077 eine Demütigung des deutschen Herrschers gewesen sei.

"Er war alles andere als Demütigung. Papst und König steckten in Canossa gleichsam das Terrain für eine neue Kooperation ab."

Was selbst die Historiker-Zunft bis heute übersehe, sei ein Friedensvertrag, den Gregor und Heinrich abgeschlossen hätten. Johannes Fried zeichnet das Bild einer Übereinkunft des weltlichen mit dem kirchlichen Oberhaupt, die zeige, dass beide an einer Befriedung der inneren deutschen Auseinandersetzungen interessiert waren. Er leugnet nicht den Bußgang Heinrichs, der zur Lösung des Banns von Seiten Gregors nötig war. Er gibt ihm jedoch eine völlig andere Deutung.

Statt sich zu demütigen, fand der König Kraft zur Buße für eine vorangegangene Sünde. Er hatte sich erdreistet, im Jahr zuvor den Papst abzusetzen - eine zu kühne Tat, da sie der damaligen Stellung der Kirche nicht gerecht wurde.

Das führt in die Untiefen des sogenannten Investiturstreits hinein und zu den Problemen der Kirchenreform, die seit dem 10. Jh. vom Burgunder Kloster Cluny ausging - eine selbst für Historiker heikle Materie. Wer sollte über die Bekleidung der Bischofsämter, über ihre Investitur, bestimmen: Papst oder König? Wen die Reformer bevorzugten, war klar. Das führte im Machtgewebe von kirchlicher und weltlicher Herrschaft zu erheblichen Konflikten.

Wenn man jedoch wie der aus dem Geschlecht der Salier stammende Heinrich IV. und seine Vorgänger nicht zu den ausgesprochenen Reformgegnern zählte, war ein Kompromiss zwischen den beiden Kontrahenten immer denkbar. Sie sicherten sich darin wechselseitig zu, die Ehre des anderen zu achten. Beide taten es in der Absicht, Heinrich vor seinen Gegner zu schützen, seine Kriegsrisiken zu mindern und eine "konsensuale Herrschaftsordnung" einzuführen.

"Sie aber lag nicht im Interesse der radikalen Königsgegner. Spätestens mit der Nachricht aus Canossa, mit des Papstes Erklärung zum Schutz der königlichen Ehre Heinrichs IV., erkannten sie, dass Gregor keinesfalls den Sturz des Saliers wünschte. Fortan setzten sie auf Gewalt und Bürgerkrieg, um ihn auszuschalten. Damit scheiterte der Vertrag Heinrichs IV. mit Gregor VII."

Und jetzt noch mal für alle deutlich das Diktum Johannes Frieds, mit dem er seiner Zunft den Fehdehandschuh hinwirft:

"Die Kämpfe unter den Deutschen, nicht dagegen die Differenzen in der Investiturfrage führten zum neuerlichen Bruch zwischen Heinrich und Gregor und zu der ganzen Eskalation des Streites zwischen Königtum und Priestertum, der die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte erfüllte."

Tatsächlich wurde Heinrich drei Jahre später wieder vom Papst gebannt. Es hatte alles nichts geholfen.

Dies ist kein Buch für Nicht-Historiker. Neidvoll muss es der Rezensent bekennen. Es ist eine Streitschrift, die sich an intime Kenner mittelalterlicher Geschichte wendet. Wer kein Latein kann, ist von vornherein verloren. Manchmal spart sich der Autor bei entsprechenden Zitaten sogar ganz die Übersetzung. Na, Prost!

Es geht zum Beispiel um Nuancen des Begriffs 'colloquium', den selbst hochrangige Mediävisten als Gerichtssitzung, die angeblich über Heinrich IV. abgehalten werden sollte, missverstehen. So jedenfalls der Vorwurf Frieds. Es ging nicht ums Gericht, es ging um Frieden. Doch das hätten schon damalige Zeugen des Geschehens fehl gedeutet. Und die Historiker von heute hätten diese Fehldeutungen aus den zeitgenössischen Quellen übernommen.

Die gesamte Geschichtswissenschaft sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, keine rechte Quellenkritik zu betreiben. Und das, weil sie eins nicht tut: Sie nimmt die Ergebnisse der neuropsychologisch orientierten Memorik nicht zur Kenntnis.

Für diesen neuen, für Nicht-Eingeweihte ungewohnten Zweig historischer Forschung will der Autor werben. Die Memorik geht davon aus, dass kaum eine Quelle als rein zu betrachten ist, weil sie von den interessegeleiteten Erinnerungen des Zeugen deformiert, moduliert bzw. neu konstruiert wurde. Historiker müssten die Gedächtnisspuren in den Zeugnissen quasi kriminalistisch aufarbeiten, um sich zu den tatsächlichen Begebenheiten vorzuarbeiten. Fried fragt:

"Warum wehrt sich das routinegesättigte 'kollektive Forschungsgedächtnis' gegen das Umdenken, gegen die Destruktion eines unzutreffenden Geschehenskonstrukts, das sich ursächlich zügelloser Emotion und von Hass verzerrten Erinnerungen verdankt?"

Und dann die rhetorische Frage:

"Hegt auch die Geschichtswissenschaft Mythen? Sind ihre Gedankengänge verkrustet, überwuchert von einem Gestrüpp an Deutungen nicht durchschauter mnemonischer Modulationslust? Es möchte so scheinen."

Würde sie nämlich diese Lust von Zeitzeugen und Chronisten durchschauen, sich zuweilen nach eigenem Belieben an Geschehnisse zu erinnern und sie von Interessen geleitet wiederzugeben, dann hätte sie ja merken müssen, dass der Gang nach Canossa den diversen Gegnern des Königs und des Papstes gerade in den Kram passte.

Ob es sich nun um die Deutungen im Umkreis der lutherischen Reformatoren handelt, deren Gegnerschaft zur katholischen Kirche sich kaum verbergen ließ. Oder um den berüchtigten Ausspruch Bismarcks "Nach Canossa gehen wir nicht - weder körperlich noch geistig!"

Der Reichskanzler benutzte den inzwischen zeitlos gewordenen Canossa-Mythos, um den vom Papst nicht akzeptierten preußischen Gesandten beim Vatikan zurückzuziehen. Dann galt es noch, die internen Gegner vom katholischen Zentrum anzuschwärzen und sie im nunmehr evangelischen Kampf gegen die römische, gegen die ultramontane Kultur zu missbrauchen.

Es sollte ihm wenig helfen. Ein paar Jahre später lenkte er diplomatisch ein. Das wilhelminische Deutschland aber ließ es an diplomatischem Geschick ermangeln, huldigte in deutsch-nationaler Gesinnung dem Nie-nach-Canossa-Mythos und endete in "militärseligem Größenwahn".

"Der Wahn zertrümmerte Bismarcks Werk nach nur wenigen Jahrzehnten, ließ es, nicht unähnlich der Burg von Canossa, in Ruinen zerfallen. Die Folgen kamen die Deutschen und nicht nur sie im 20. Jh. so teuer zu stehen wie zuvor der Bürgerkrieg im Zeitalter des eher irreführend so genannten 'Investiturstreits'."

Damit endet die Schrift von Johannes Fried. Seien wir froh, dass die Canossa-Legende heute keine Macht mehr über unsere Köpfe hat. Nur eins tut dem Leser leid: Die armen deutschen Mediävisten müssen jetzt nachsitzen.


Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift
Akademie Verlag, Berlin 2012