"Eine neue Kultur an der Schule"

Moderation: Jürgen König · 20.12.2007
In Zukunft wird es keine Grenzkontrollen mehr zwischen Deutschland und Polen geben. Im vorpommernschen Löcknitz werden deutsche und polnische Schüler schon länger gemeinsam unterrichtet. Es sei ein Prozess der gegenseitigen Annäherung, sagt Schuldirektor Gerhard Scherer, und zieht eine positive Bilanz.
Jürgen König: Am Telefon in Löcknitz begrüße ich den Direktor der Europaschule Deutsch-Polnisches Gymnasium Gerhard Scherer. Guten Morgen, Herr Scherer!

Gerhard Scherer: Guten Morgen!

König: Welche Erfahrungen haben Sie, sei es als Bürger von Löcknitz, sei es an Ihrer Schule seit dem EU-Beitritt Polens gemacht?

Scherer: Ja, ich muss vielleicht eine Vorbemerkung, das Miteinander von Deutschen und Polen existiert in Löcknitz bereits seit über 30 Jahren. Das heißt, wir konnten nach der Wende auf diesen Erfahrungen und auf die Zusammenarbeit mit der polnischen Seite aufbauen und haben seit 1995 diese deutsch-polnische Schule hier in Löcknitz. Das heißt, für uns ist es eigentlich schon Normalität, und seit dem Beitritt Polens in die Europäische Union am 1. Mai 2004 ergibt sich eine neue Kultur an der Schule, das heißt, Schüler, deren Eltern mit den Familien hier nach Löcknitz gezogen sind und in den Bereich von Löcknitz-Penkun bis Pasewalk hin, werden jetzt mit unseren polnischen Partnerschülern gemeinsam hier an der Schule unterrichtet in ausschließlich deutsch-polnischen Klassen und bereichern demzufolge auch das gesamte Ambiente unserer Schule.

König: Wie viele ihrer deutschen Schüler lernen Polnisch und wie viel der polnischen Deutsch?

Scherer: Also die polnischen Schüler lernen natürlich alle Deutsch, weil Unterrichtssprache ist Deutsch, auch wenn hier und da Unterrichtseinheiten bilingual unterrichtet werden. Unterrichtssprache ist Deutsch. Die deutschen Schüler lernen sehr intensiv Polnisch. Das heißt, es ist eigentlich auch für uns, sind sehr stolz darauf, dass zirka 50 Prozent aller Schüler der Klasse sieben bis 13 Polnisch als zweite bzw. erste Fremdsprache annehmen. Und das ist eigentlich für Polnisch doch, würde ich sagen, eine sehr positive Einstellung.

König: Ich habe gelesen, Sie bieten ab der achten Klasse integrierten Unterricht an, also Schüler aus der Partnerschule im polnischen Police kommen zum Unterricht nach Löcknitz, haben dann später die Möglichkeit, sowohl das polnische wie auch das deutsche Abitur zu machen. Bringt das Schwierigkeiten mit sich, dass sich da die Kinder der zugezogenen Polen auf Kinder treffen, die täglich von Polen herüberkommen?

Scherer: Es gab anfangs gewisse Ressentiments zwischen diesen Schülern, die über das Programm Police-Löcknitz zu uns kommen und denen, die jetzt hier neu zu uns gezogen sind, da die Schüler, die über das Delegierungsprogamm zu uns kommen, die also täglich von Stettin und Police herkommen, an einem Programm teilnehmen, das ihnen ermöglicht, zwei Hochschulabschlüsse oder Hochschulreifezeugnisse abzulegen, und zwar das deutsche und polnische. Während die polnischen Schüler, die jetzt hier wohnen, also im Prinzip werden nach deutschem Recht unterrichtet, nur ein Abitur absolvieren.

König: Sie haben vorhin darauf hingewiesen, Herr Scherer, dass das deutsch-polnische Miteinander in Löcknitz im Grunde genommen seit 30 Jahren mindestens existiert. Dennoch, wie hat sich das Leben in Löcknitz seit dem EU-Beitritt Polens verändert?

Scherer: Ich würde sagen, die erste Zeit waren Ängste vorprogrammiert durch Diskussionen und so weiter und so fort. Es gehört, glaube ich, jetzt inzwischen zur Normalität, dass man bei den Supermärkten, beim Arzt, in manchen Firmen die polnische Sprache neben der deutschen hört. Das ist eine Normalität. Und ich glaube, die meisten Löcknitzer nehmen es so hin, wie es ist, und werden, glaube ich, auch zunehmend die Vorteile sehen, die sich aus der Grenzlage ergeben. Früher war ja Grenzlage etwas nicht Positives aus der Sicht der Bürger waren wir am Rande. Jetzt, glaube ich, ist es auch eine Aufgabe der Politik, auch unserer Schule, den Bürgern zu zeigen hier, welche Potenziale wir eigentlich haben aufgrund der Lage zu unserer großen Stadt Stettin vor der Tür.
König: Es gibt keine Ressentiments gegen Überfremdung, und wie das dann immer heißt, rechtsradikale Themen?

Scherer: Doch, sicherlich gibt es die hier und da. Man kann auch nicht weggucken. Und das ist eben die Aufgabe, sage ich mal, die wir auch an der Schule haben, über unsere Schule an die Eltern und an die Freunde unserer Schüler heranzukommen. Und wie Sie bereits recherchiert haben, haben wir an der Schule in dieser Hinsicht überhaupt keine Probleme. Bloß die Schule alleine kann ja nicht als Oase dastehen. Wir wollen ja auch flächendeckend unsere Philosophie, die wir haben – miteinander, füreinander – auch weitertragen. Und, wie gesagt, es gibt in Löcknitz hier und da Aktivitäten von Bürgern, die eben anders denken, und an die müssen wir rankommen. Man sollte es aber auch nicht überbewerten. Das ist auch teilweise der Tatsache geschuldet, dass es Unwissenheit ist über die Besonderheiten der anderen Seite. Sicherlich, einige rechtsorientierte Bürger werden wir nicht ändern können, aber an die Unwissenden können wir heran. Und das nutzen wir auch gemeinsam, indem wir also auch mit dem Bürgermeister und anderen Bürgern hier öffentliche Diskussionsrunden führen, um den Bürgern aufzuzeigen, welche Chancen wir haben für die Zukunft eigentlich gemeinsam mit den neuen polnischen Bürgern, die sich auch einbringen, hier in der Gemeinde voranzuschauen. Und da haben die Vereine zum Beispiel sehr viele Möglichkeiten, Kulturvereine, Sportvereine.

König: Auch polnische Kulturvereine?

Scherer: Na, deutsche Kulturvereine, diese Bürger zu integrieren. Das ist das Hauptproblem in Löcknitz, die Integration der polnischen Bürger, die teilweise auch zurückhaltend im Moment noch sind.

König: Wie viele Polen wohnen in Löcknitz?

Scherer: Na, das kann ich nicht genau sagen. Ich glaube, in Löcknitz wohnen bestimmt 150, 200 polnische Bürger.

König: Die aber doch sehr bei sich oder unter sich bleiben?

Scherer: Weitestgehend ja.

König: Gibt es auch einen Trend in die andere Richtung, dass Deutsche plötzlich Stettin als Arbeitgeber entdecken?

Scherer: Also es gibt punktuell, was ich jetzt weiß, auch ehemalige Schüler von uns, die auf einmal ihre Polnischkenntnisse anwenden können, um in deutschen Firmen zu arbeiten, die auch auf polnischer Seite einen Partner haben. Die gibt es auch punktuell, aber ich glaube, die Tendenz wird in die Richtung gehen, da ja auch zum Beispiel gutausgebildete Facharbeiter und Ingenieure auf der polnischen Seite zeitweise mehr Geld verdienen als in manchen ansässigen Firmen hier.

König: Wir haben es eben in den Nachrichten gehört. Nach Ansicht von Innenpolitikern aus Union und SPD sind noch einige Anstrengungen nötig, um nach dem Wegfall der Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien einen Anstieg der Kriminalität zu verhindern. Solche Stimmen klangen ja auch eben in dem Stück von Almut Knigge an. Wie groß sind die Ängste, oder wie beurteilen Sie die Ängste in der Bevölkerung, dass nun die Kriminalität ansteigen werde?

Scherer: Aus meinem Bekanntenkreis kann ich das nicht bestätigen. Aber ich gehe davon aus, dass diese Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, Landespolizei und Zoll doch sehr engmaschig sein wird, dass man diesen Dingen doch entgegentreten wird und in der Grenzeregion wird weiterhin kontrolliert. Von der Warte her ist für mich der Wegfall der Grenze ein größeres Sicherheitsgefühl als vorher, weil ja doch noch mehr kontrolliert jetzt, nicht nur an der Grenze, sondern auch im Inland jetzt hier. Also ich persönlich habe keine Ängste, weil diejenigen, die eigentlich nach Hamburg wollen, die fahren hier durch, und die werden sich nicht in Löcknitz irgendwie, sagen wir mal, die Finger schmutzig machen, weil sie genau wissen, sie werden intensiver kontrolliert.

König: Haben Sie alles zusammengenommen den Eindruck, dass da grenzübergreifend eine Region zusammenwächst?

Scherer: Noch nicht, noch nicht. Solche Bürger wie ich, vielleicht sogar andere, die sich sehr intensiv mit der deutsch-polnischen Sache identifizieren, auch sie aktiv leben, gibt es sicherlich noch zu wenig, aber es ist ein Prozess. Und wir, gerade als ehemalige DDR-Bürger, sind es ja nicht gewohnt, mit anderen Kulturen zusammenzuarbeiten. Wir waren ja im Prinzip immerhin 40 Jahre von anderen Kulturen abgeschnitten.

König: Fühlen Sie sich noch als ehemaliger DDR-Bürger? Das klingt mir schon so unvertraut nach, wie viel Jahre sind es jetzt, 18 Jahren?

Scherer: Nein, wissen Sie, ich bin Europäer deutscher Nationalität, so sehe ich mich. Ich bin also überzeugter Europäer, und ich lebe auch diese europäische Grenzregion. Für mich ist Berlin weit, Schwerin ist für mich auch weit. Für mich ist das Potenzial Großstadt Stettin mit den Einkaufsmöglichkeiten, mit dem kulturellen Ambiente – Also ich fahre lieber eher nach Stettin zum Einkaufen, um Kultur zu erleben und mir zu holen, als nach Berlin oder nach, sagen wir mal, Rostock oder nach Schwerin.

König: Vielen Dank, Gerhard Scherer, Direktor des Deutsch-Polnischen Gymnasiums in Löcknitz über das sich allmählich anbahnende, gute Miteinander von Deutschen und Polen.
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