Eine liberale Sprache

Rezensiert von Moritz Schuller |
Jürgen Leonhardt beschreibt in "Latein" die Geschichte dieser Sprache - von den Anfängen über seine Fixierung als Literatursprache bis zur Gegenwart.
Die Latein-Debatte wird utilitaristisch geführt, wie alles heute muss es sich lohnen, Latein zu lernen. Und selbst der, der behauptet, Latein gehöre zur Bildung einfach dazu, weil es uns den Zugang zur Antike öffnet und die Antike, das wisse ja jeder, sei die Wiege der westlichen Zivilisation, selbst der räumt ein, dass Latein eigentlich aus einer fernen Zeit stammt.

Diese Debatte, meint der Latinist Jürgen Leonhardt, geht jedoch von einer falschen, bisweilen sogar von Altphilologen geteilten Prämisse aus, nämlich dass Latein nur noch eine historische Sprache sei, keine echte Sprache eben, in erster Linie ein Stück Kulturerbe.

Latein aber ist nicht tot, schreibt Leonhardt, weil die Sprache nie gestorben ist. Latein sei vielmehr, was es seit 2000 Jahren ist: eine Weltsprache, die auch nach der Antike eine lebende Sprache blieb, als es keine lateinisch sprechenden Völker mehr gab.

Sein Buch beschreibt deshalb detailliert die Geschichte dieser Weltsprache von seinen Anfängen, also seine Ableitung aus dem Griechischen, über seine Fixierung als Literatursprache im ersten Jahrhundert vor Christus zu seiner zweiten, karolingischen Blüte bis in die Gegenwart.

Auch Leonhardt endet mit einem Plädoyer für mehr Latein, für mehr Latein-Sprechen, um genau zu sein, aber er präsentiert dafür ein neues Argument: Latein ist eine Weltsprache, bei ihr geht es nicht um ein bisschen Cicero hier und ein bisschen Tacitus dort; mit Latein steht und fällt das Schriftkulturerbe der Menschheit.

Das Missverständnis liege darin, dass Latein vornehmlich mit einer kurzen Epoche in Verbindung gebracht werde, mit der des antiken Roms. Fälschlicherweise, denn die große Mehrzahl der lateinischen Texte sei erst danach, in der Spätantike, im Mittelalter und in der Neuzeit entstanden. 90 Prozent der gesamten lateinischen Textproduktion seien noch unbekannt und unerforscht. Und nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ habe Latein erst in der nachantiken Zeit zu seiner wahren Rolle gefunden:

"Es ist eine der wesentlichen Leistungen der lateinischen Sprache, dass man mit ihrer Kenntnis Zugriff auf Literatur, Wissenschaft und historische Überlieferung nicht nur der Gegenwart, sondern von Jahrtausenden erhält."

Latein wurde als "historische Kultursprache" tradiert, nicht als Muttersprache, sondern als sogenannte "Zweitsprache ohne Volk". Latein entwickelte sich so zu einer Weltsprache, die nicht in Konkurrenz zu anderen Nationalsprachen trat. Schon das Imperium Romanum habe keinen Sprachimperialismus gekannt.

Latein, so kann man Leonhardt verstehen, ist eine liberale Sprache: Die eindrucksvolle Entwicklung der europäischen Volkssprachen war nur deshalb möglich, weil das stets gegenwärtige Latein ihnen eine wichtige gesellschaftliche Funktion abnahm:

"Alle Texte, bei denen der Langzeitgebrauch, die Lesbarkeit über Jahrhunderte hinweg wirklich zentral waren – Bibel, liturgische Texte, Rechtstexte, wissenschaftliche und literarische Texte - waren lateinisch und überall verfügbar."

Weil Latein quasi als fester Kern weiterhin zur Verfügung stand, konnte um ihn herum sprachliche Entwicklung stattfinden, wie etwa der Wechsel vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen. Als Weltsprache bezeichnet Leonhardt Latein also, weil es über-national und politisch unverankert war und deshalb als Hebamme für die Literatur- und Nationalsprachen Europas fungieren konnte.

Und in dieser Rolle als Sprach- und Grammatik-Archiv sieht Leonhardt durchaus eine Zukunft für Latein: als "Stütze der Volkssprachen":

"Je mehr die modernen Sprachen und der Deutschunterricht sich von grammatischer Reflexion distanzierten, desto mehr wuchs dem Lateinunterricht zumindest in Deutschland neue Akzeptanz zu, weil man sich wenigstens von ihm noch eine grundsätzliche sprachliche Schulung versprach."

Ohne Latein also kein Deutsch. Und damit Latein diese Aufgabe überhaupt erfüllen kann, meint der Autor, sollte es wieder zu einem Mittel der Kommunikation werden. Die Verwissenschaftlichung des Lateinischen, die es im 19. Jahrhundert zu einer Art Kanzleisprache hat werden lassen, müsste daher rückgängig gemacht werden. Ignoriert man den Sprachcharakter des Lateinischen, wird man keinen vernünftigen Umgang mit dem Schriftkulturerbe der Welt finden.

Leonhardt plädiert dafür, Latein wieder als Weltsprache zu verstehen, als "wirklich lebendige Sprache", und nicht nur ausschließlich als Bildungssprache, die versucht, die humanistische Tradition am Leben zu erhalten.

Das heißt, wir müssen viel mehr Latein Sprechen. Wer das tut…

"… tut nichts anderes, als Millionen von Menschen getan haben, seit sich Latein nach den Wirren der Völkerwanderungszeit zum zweiten Mal aus den Büchern der Antike als Sprache neu konstituierte."

Leonhardt erhofft sich eine Neukonstitution des Lateinischen, das aus seiner Sicht den genetischen Kern seiner Selbstrekonstruktion in sich trägt. An Latein selbst liege es nicht, dass niemand es mehr spreche und verstehe. Doch in Zeiten, in denen, wie er selbst einräumt, das Interesse an der eigenen Sprache nachlässt, wirkt ein solcher Kraftakt zur Zweitsprache kaum denkbar.

Leonhardt setzt die Latein-Latte noch höher, und all die, die gerade wieder einmal die Vorteile des Lateinlernens preisen, werden diese Latte wohl reißen. Denn die "sehr große und intensiv geschulte Sprachkompetenz", die Leonhardt voraussetzt, bevor man sich dem Schriftkulturerbe sinnvoll nähern kann, die muss man sich erwerben ohne daran zu denken, ob sich das lohnt.


Jürgen Leonhardt: Latein. Geschichte einer Weltsprache.
C. H. Beck, München 2009



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Cover: "Jürgen Leonhardt: Latein. Geschichte einer Weltsprache"
Cover: "Jürgen Leonhardt: Latein. Geschichte einer Weltsprache"© C. H. Beck