Eine Kindheit in Westdeutschland

11.12.2007
Ulf Erdmann Ziegler ließ im Frühjahr mit "Hamburger Hochbahn" die Kritiker aufhorchen. Nun legt er mit "Wilde Wiesen" eine Art Erinnerungsbuch vor, in dem er in Proustscher Manier prägenden Kindheitserlebnissen nachspürt. Das hat seine Reize, die sich aber mit der Zeit verlieren und den Leser eher ratlos lassen.
Die Überraschung im Literaturbetrieb war keine geringe, als in diesem Frühjahr von dem nicht unbekannten Fotografie- und Designkritiker Ulf Erdmann Ziegler, der in den neunziger Jahren auch einmal Feuilletonredakteur der "Taz" war, ein Roman erschien. Journalisten, die Romane schreiben, sind keine Seltenheit mehr, aber der ungemein dicht gewobene Roman "Hamburger Hochbahn", das Generationenporträt eines 78ers (Ziegler ist Jahrgang 1959), das noch dazu Teile eines Amerikaromans und eines Campus Novel integriert, kam mit einem so ernsten, so ambitionierten Selbstanspruch daher, dass auch nicht eine Sekunde zu verkennen war: Hier meint es jemand ernst mit dem belletristischen Schreiben und mit der Literatur.

Als wolle er diese Aussage noch einmal bekräftigen, hat nun Ziegler noch im selben Jahr 2007, wenngleich an dessen Ende, ein zweites, sorgfältig komponiertes Buch folgen lassen, das ebenfalls aufhorchen lässt. In Stil und dramaturgischer Anlage denkbar weit von "Hamburger Hochbahn" entfernt, folgt es doch bereits allein darum organisch aus dem Roman, als auch hier wieder das Anliegen einer gewissen Selbstvergewisserung eingeschrieben ist.

"Wilde Wiesen" lautet der schmale, 150 Seiten umfassende Band. Im Untertitel trägt er die originelle Bezeichnung "Autogeographie", wohl eine Wortschöpfung des Verfassers. In der Tat geht es mehr um eine Topographie des eigenen Lebens, will sagen um Orte, die im kindlichen Erleben des Erzählers wichtig waren. Bewusst auf die Perspektive kindlicher Wahrnehmung beschränkt, handelt es sich keinesfalls um Städtebeschreibungen.

Alles Touristische, Folkloristische oder auch nur Historische liegt dem Autor denkbar fern. In einer fast proustisch zu nennenden Beschwörung der verlorenen Zeit gibt Ulf Erdmann Ziegler vielmehr Momentaufnahmen von Ausschnittvergrößerungen, die so erratische Kapitelüberschriften wie "Lindenthal" oder "Einfeld" oder "Orschel-Hagen" tragen, womit Vororte bzw. Stadtteile von Köln, Neumünster und Reutlingen bezeichnet sind.

Diese Lokalitäten ergeben sich aus der Verteilung seiner Herkunftsfamilie über die Bundesrepublik der sechziger, siebziger Jahre. Der Vater des Verfassers, ursprünglich aus Thüringen stammend, flüchtet schon früh mit einer ehemaligen Schülerin, die es ihrerseits aus dem Rheinland in den Wirren des Krieges nach Thüringen verschlagen hat, nach Schleswig-Holstein und gründet dort seinen Hausstand. Die "große Geschichte" greift also stark ein in die kleine Geschichte einer kleinbürgerlichen Sippschaft, die ohne jede historische Verwurzelung oder gesellschaftliche Einbindung in urbane Agglomerationen gespült wird, die ihrerseits in ihrer Geschichts- und Gestaltlosigkeit viel über die seltsam eigenschaftslose Bundesrepublik der Nachkriegszeit erzählen.

Doch überall, wo Kindheit stattfindet, entfaltet sich ein ganz eigener Kosmos mit seinem Zauber. Diesen Zauber hat der Autor, oft auf das poetische Verfahren eines Walter Benjamin in dessen Autobiographie "Berliner Kindheit um 1900" zurückgreifend, in zahlreichen starken Szenen heraufbeschworen, wobei er sich erstaunlich gut in die seelische Disposition des bildsamen, anlehnungsbedürftigen Jungen zu versetzen weiß, der er offenbar einmal war - ohne jenes heilige Staunen zu verraten, mit dem er als Kind auf die Reize seiner Umgebung reagierte.

Das Verfahren in seiner Mischung aus Ernstnehmen des kindlichen Horizonts, genauester Beobachtung desselben und punktueller sozialpsychologischer Analyse ist allerdings nur überzeugend, wo wirklich Kindheitsmuster geschildert werden. Auf die Orte des jungen Erwachsenen übertragen, verliert seine kunstvolle Naivität ihren Sinn und lässt den Leser ratlos vor den offenbar doch massiven Lebenskrisen stehen, denen der reichlich orientierungslose Student und/oder Zivildienstleistende in den achtziger Jahren in Berlin und Konstanz ausgeliefert ist. Das ändert aber nichts daran, dass die ersten beiden Drittel dieses Buches zur sensibelsten und intelligentesten Spurensuche im Hinblick auf die eigene Kindheit gehören, die man in letzter Zeit gelesen hat.

Rezensiert von Tilman Krause


Ulf Erdmann Ziegler: Wilde Wiesen
Wallstein Verlag 2007
151 Seiten. 18 Euro