Eine intellektuelle Biografie
Walter Laqueurs Buch hat nichts gemeinsam mit eitlen Selbstbespiegelungen. „Mein 20. Jahrhundert“ ist eine intellektuelle Biografie.
Ach gäbe es doch mehr Menschen seiner Art. Walter Laqueur ist ein Wanderer zwischen den Welten, ein rastloser Reisender, ein Europäer in Washington und ein Amerikaner in Berlin. Scharfsichtig ist er und originell, dabei bescheiden und immer neugierig. Und das mit 88 Jahren!
Noch heute fliegt der Historiker mehrmals im Jahr von Washington, seinem Wohnort, nach London und von London an die Spree. Früher standen noch Tel Aviv und Jerusalem, Moskau, St. Petersburg und viele andere Orte der Welt auf seinem Programm. Er besuchte sie, um zu zuhören, um zu erfahren, um zu lernen. Stets strömen ihm Einfälle in wirbelnder Fülle zu.
Bis heute empfängt er sie mit einer Gastfreundschaft, die keine Grenzen kennt. Gleichzeitig gibt er ab, beschenkt seine Zuhörer und Leser mit seinen Beobachtungen und Ideen. Sie sind stets originell und oft seiner Zeit voraus.
Über 50 Bücher hat Laqueur im Laufe der Jahrzehnte geschrieben: über das Deutschland der Weimarer und der Nazizeit, über die deutsche Jugendbewegung, über Stalin und die Sowjetunion, über Europa und die „nervösen Deutschen“ der Achtziger, über Israel, den Sechs-Tage-Krieg und den Zionismus. Viele dieser Werke setzten Maßstäbe und brachten die Forschung voran: so seine Arbeiten über den Extremismus. Walter Laqueur gilt als Vater der Terrorismusforschung.
Laqueurs Erinnerungen haben nichts gemeinsam mit den eitlen Selbstbespiegelungen des Experten-Jet-Sets, jener mit Namensschildern besteckten Call Boys der „International Communitiy“, die um den Globus reisen, sich gegenseitig beim Vornamen nennen und den Zuhausgebliebenen die Welt erklären. Das Buch ist eine intellektuelle Biografie.
In ihr wandert er durch die Jahrzehnte, nimmt sich als Person weitgehend zurück, beschäftigt sich lieber mit den großen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts und schildert, wie er ihnen begegnete. Es erinnert an Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“, nur dass seine Welt durch und durch politisch ist. Laqueur bedauert das. Hätte er die Wahl gehabt, so wäre er in Paris geboren, zu einer anderen Zeit:
„Je länger ich darüber nachdenke, desto reizvoller erscheinen mir die beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und die Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.“
Doch das Leben im goldenen Gestern war Laqueur nicht vergönnt. Immerhin hatte er Glück. Im Unterschied zu seinen Eltern überlebte er das Dritte Reich und den Holocaust. Sein Dasein aber wurde fortan von der Politik bestimmt, genauer, von der beständigen Auseinandersetzung mit den totalitären Bewegungen. Über sie schreibt er auch jetzt wieder – aber auf ganz persönliche Weise. Er will den Nachgeborenen seine Erkenntnisse in Form von Ratschlägen mitgeben.
„Seid misstrauisch und skeptisch gegenüber großen Thesen und angeblich so klaren Antworten auf Weltfragen.“
Und er warnt vor einem allzu leichtfertigen Blick auf die Gegenwart.
„Unsere Epoche dürfte trotz aller Errungenschaften den Menschen nicht das große Glück und die höchste Zufriedenheit in der modernen Geschichte gewährt haben, und die Aussichten für das 21. Jahrhundert sind nicht gerade berauschend. Macht euch keine allzu großen Hoffnungen für die absehbare Zukunft.“
Schnell erschließt sich, aus welchem Grund er zu dieser Skepsis kommt. Laqueur blickt zurück in das Breslau seiner Kindheit, er schildert, wie die Nazis Schritt für Schritt die Herrschaft übernahmen und fragt, warum Hitlers Barbarei nicht verhindert werden konnte. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Russen und Russland und erörtert, welche Faszination vom Sowjetkommunismus ausging. Schließlich erinnert er sich an seine Zeit in Israel und erklärt, welche Fehler Israelis wie Palästinenser begangen haben, die zu der heutigen Lage führten. Stets tut Laqueur das in gelassenem Ton, doch nicht ohne Leidenschaft. So geht ihm die im Westen so gern geübte Kritik an Israel zu weit.
„Friedensforscher haben errechnet, dass seit dem Zweiten Weltkrieg mindestens 25 Millionen Menschen bei inneren Konflikten getötet worden sind, davon circa 8000 im arabisch-israelischen Konflikt. In der tragischen Liste der Opfer entspricht das dem 46. Platz. Dennoch ist Israel häufiger als alle anderen Staaten zusammengenommen, von den Vereinten Nationen wegen Verstößen gegen die Menschenrechte verurteilt worden.
Wenn das die internationale Realität widerspiegeln würde und nur in diesem winzigen Staat Verletzungen der Menschenrechte vorkämen, dann müssten auf der Welt paradiesische Zustände herrschen.“
Laqueurs Worte bedeuten nicht, dass er Israels Politik der vergangenen Jahre gutheißt. Sein Kapitel über die Folgen des Sechs-Tage-Krieges sollte lesen, wer begreifen will, wie ein solch grandioser militärischer Sieg politisch verspielt werden kann. Höhepunkt seines Buches sind jedoch die Gedanken zum Untergang Europas. Voller Trauer erinnert Laqueur sich des Kontinents seiner Jugend und vergleicht ihn mit der Gegenwart. Europa altere und schrumpfe. Es sei weder willens noch in der Lage, sich zu einem Bundesstaat zu vereinen und politisch wie militärisch eine Rolle zu spielen.
„Wird Europa zu einem Museum werden, zu einem kulturellen Themenpark für gut betuchte Touristen aus China und Indien?“
Laqueur hat zwar Ideen, wie sich Europa aus dem Siechtum befreien könnte, doch er bleibt skeptisch, ob eine Wende gelingen kann. Vieles spricht dafür, dass er mit dieser Skepsis Recht behalten wird. Laqueur hat sich nur selten geirrt. Arrogant und eitel ist er deshalb nicht geworden. Seine wunderbaren Erinnerungen zeugen davon.
Walter Laqueur: Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens
Propyläen Verlag, Berlin
Noch heute fliegt der Historiker mehrmals im Jahr von Washington, seinem Wohnort, nach London und von London an die Spree. Früher standen noch Tel Aviv und Jerusalem, Moskau, St. Petersburg und viele andere Orte der Welt auf seinem Programm. Er besuchte sie, um zu zuhören, um zu erfahren, um zu lernen. Stets strömen ihm Einfälle in wirbelnder Fülle zu.
Bis heute empfängt er sie mit einer Gastfreundschaft, die keine Grenzen kennt. Gleichzeitig gibt er ab, beschenkt seine Zuhörer und Leser mit seinen Beobachtungen und Ideen. Sie sind stets originell und oft seiner Zeit voraus.
Über 50 Bücher hat Laqueur im Laufe der Jahrzehnte geschrieben: über das Deutschland der Weimarer und der Nazizeit, über die deutsche Jugendbewegung, über Stalin und die Sowjetunion, über Europa und die „nervösen Deutschen“ der Achtziger, über Israel, den Sechs-Tage-Krieg und den Zionismus. Viele dieser Werke setzten Maßstäbe und brachten die Forschung voran: so seine Arbeiten über den Extremismus. Walter Laqueur gilt als Vater der Terrorismusforschung.
Laqueurs Erinnerungen haben nichts gemeinsam mit den eitlen Selbstbespiegelungen des Experten-Jet-Sets, jener mit Namensschildern besteckten Call Boys der „International Communitiy“, die um den Globus reisen, sich gegenseitig beim Vornamen nennen und den Zuhausgebliebenen die Welt erklären. Das Buch ist eine intellektuelle Biografie.
In ihr wandert er durch die Jahrzehnte, nimmt sich als Person weitgehend zurück, beschäftigt sich lieber mit den großen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts und schildert, wie er ihnen begegnete. Es erinnert an Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“, nur dass seine Welt durch und durch politisch ist. Laqueur bedauert das. Hätte er die Wahl gehabt, so wäre er in Paris geboren, zu einer anderen Zeit:
„Je länger ich darüber nachdenke, desto reizvoller erscheinen mir die beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und die Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.“
Doch das Leben im goldenen Gestern war Laqueur nicht vergönnt. Immerhin hatte er Glück. Im Unterschied zu seinen Eltern überlebte er das Dritte Reich und den Holocaust. Sein Dasein aber wurde fortan von der Politik bestimmt, genauer, von der beständigen Auseinandersetzung mit den totalitären Bewegungen. Über sie schreibt er auch jetzt wieder – aber auf ganz persönliche Weise. Er will den Nachgeborenen seine Erkenntnisse in Form von Ratschlägen mitgeben.
„Seid misstrauisch und skeptisch gegenüber großen Thesen und angeblich so klaren Antworten auf Weltfragen.“
Und er warnt vor einem allzu leichtfertigen Blick auf die Gegenwart.
„Unsere Epoche dürfte trotz aller Errungenschaften den Menschen nicht das große Glück und die höchste Zufriedenheit in der modernen Geschichte gewährt haben, und die Aussichten für das 21. Jahrhundert sind nicht gerade berauschend. Macht euch keine allzu großen Hoffnungen für die absehbare Zukunft.“
Schnell erschließt sich, aus welchem Grund er zu dieser Skepsis kommt. Laqueur blickt zurück in das Breslau seiner Kindheit, er schildert, wie die Nazis Schritt für Schritt die Herrschaft übernahmen und fragt, warum Hitlers Barbarei nicht verhindert werden konnte. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Russen und Russland und erörtert, welche Faszination vom Sowjetkommunismus ausging. Schließlich erinnert er sich an seine Zeit in Israel und erklärt, welche Fehler Israelis wie Palästinenser begangen haben, die zu der heutigen Lage führten. Stets tut Laqueur das in gelassenem Ton, doch nicht ohne Leidenschaft. So geht ihm die im Westen so gern geübte Kritik an Israel zu weit.
„Friedensforscher haben errechnet, dass seit dem Zweiten Weltkrieg mindestens 25 Millionen Menschen bei inneren Konflikten getötet worden sind, davon circa 8000 im arabisch-israelischen Konflikt. In der tragischen Liste der Opfer entspricht das dem 46. Platz. Dennoch ist Israel häufiger als alle anderen Staaten zusammengenommen, von den Vereinten Nationen wegen Verstößen gegen die Menschenrechte verurteilt worden.
Wenn das die internationale Realität widerspiegeln würde und nur in diesem winzigen Staat Verletzungen der Menschenrechte vorkämen, dann müssten auf der Welt paradiesische Zustände herrschen.“
Laqueurs Worte bedeuten nicht, dass er Israels Politik der vergangenen Jahre gutheißt. Sein Kapitel über die Folgen des Sechs-Tage-Krieges sollte lesen, wer begreifen will, wie ein solch grandioser militärischer Sieg politisch verspielt werden kann. Höhepunkt seines Buches sind jedoch die Gedanken zum Untergang Europas. Voller Trauer erinnert Laqueur sich des Kontinents seiner Jugend und vergleicht ihn mit der Gegenwart. Europa altere und schrumpfe. Es sei weder willens noch in der Lage, sich zu einem Bundesstaat zu vereinen und politisch wie militärisch eine Rolle zu spielen.
„Wird Europa zu einem Museum werden, zu einem kulturellen Themenpark für gut betuchte Touristen aus China und Indien?“
Laqueur hat zwar Ideen, wie sich Europa aus dem Siechtum befreien könnte, doch er bleibt skeptisch, ob eine Wende gelingen kann. Vieles spricht dafür, dass er mit dieser Skepsis Recht behalten wird. Laqueur hat sich nur selten geirrt. Arrogant und eitel ist er deshalb nicht geworden. Seine wunderbaren Erinnerungen zeugen davon.
Walter Laqueur: Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens
Propyläen Verlag, Berlin

Cover: „Walter Laqueur: Mein 20. Jahrhundert“© Propyläen Verlag