Eine Geste symbolischer Politik

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 14.11.2005
Die Historiker Thomas Brechenmacher und Michael Wolffsohn von der Universität der Bundeswehr in München bezeichnen Brandts Kniefall als "wohl nobelste Geste bundesdeutscher Außen-, Geschichts- und Symbolpolitik". Entzaubern wollen die beiden Historiker Brandt nicht, unbequeme Fragen stellen sie in ihrem Buch "Denkmalsturz?" dennoch.
Montag, 7. Dezember 1970, ein feuchtkalter Tag in Warschau. Am späten Morgen hat Bundeskanzler Willy Brandt am Grabmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz niedergelegt. Eine Ehrenkompanie stand bereit, zweitausend Warschauer sahen den Akt. Nun fährt die Wagenkolonne zu einem von Plattenbauten umstellten Steinfeld. Die Wüstung war einst Teil des Ghettos. Seit November 1940 hatten die deutschen Besatzer von hier aus 300.000 Menschen in die Vernichtungslager deportiert. Im April 1943 begannen die verbliebenen Juden einen Aufstand der Verzweiflung; er endete vier Wochen später mit einem Blutbad. Jetzt, 1970, steht auf der eingeebneten Fläche ein Monument aus Bronze und Stein.

Willy Brandt, im schweren dunklen Mantel, legt hier an diesem Vormittag einen Kranz nieder, auf eigenen Wunsch "in schlichtem Rahmen". Nur ein Doppelposten am Ehrenmal, in der Ferne ein paar hundert Zuschauer. Brandt ordnet die Schleifen des Kranzes, tritt zurück, und plötzlich sinkt er auf die Knie. Eine halbe Minute verharrt er mit gefalteten Händen auf dem nassen Granit...

Wenige Bilder aus dem geteilten Deutschland haben bis heute eine solche Leuchtkraft wie dieses. Brandt, der einstige Widerstandskämpfer, sagte später: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."

Die Historiker Thomas Brechenmacher und Michael Wolffsohn von der Universität der Bundeswehr in München bezeichnen den Kniefall nun als "noble, wohl nobelste Geste bundesdeutscher Außen-, Geschichts- und Symbolpolitik". Aus diesen Worten der Autoren spricht Respekt; der Titel ihrer Monographie - "Denkmalsturz?" – sollte lediglich provozieren. Und das tut er. Nein, die Ikone Brandt wird hier nicht entzaubert. Aber um das Denkmal herum errichten die Verfasser einen Wall aus nahe liegenden, unbequemen, manchmal nervenden Fragen. Nach aufwändigen Recherchen in Europa und Übersee kamen sie zu beiläufigen, aber auch zu überraschenden Antworten.

War der Kniefall ein spontaner Akt? ("Wer weiß das wirklich. Alles spricht dafür.") Verwechselte Brandt – wie mancher bundesdeutsche Politiker - zwei Widerstandsaktionen, die Ghetto-Rebellion (1943) mit dem Warschauer Aufstand von 1944? Wusste er, dass er Polens Kommunisten ebenso wie die Nationalisten provozierte? Gefährdete dies seine Ostpolitik? Was dachten die Bundesdeutschen? (48 Prozent nannten den Kniefall "übertrieben", 41 Prozent "angemessen".) Und wie reagierte die internationale Gemeinschaft? (Überwiegend: gar nicht.) Gab es wenigstens aus der jüdischen Welt Zeichen von Dankbarkeit, ein positives Echo? ("Erwarteten auch wir. Fehlanzeige.") Spielte "das jüdische Thema" bei der Vorbereitung der Fahrt eine Rolle? (Egon Bahr 2002: "Überhaupt nicht!")
Sie wollten, schreiben die Autoren, einen deutschen "Erinnerungsort" sezieren, Tabubrüche inklusive. "Wir schielen nicht ängstlich auf die ewig Besorgten."
Schade nur, dass die Untersuchung der streitbaren Historiker unter dem sprachlich allzu nachlässigen und eher polemisierenden denn analysierenden Stil leidet sowie unter einer – wie würden sie selbst sagen? – "judenpolitischen" Verengung des Blickwinkels.

Thomas Brechenmacher, Michael Wolffsohn: Denkmalsturz? Brandts Kniefall
Olzog Verlag, München
180 Seiten, 18,50 Euro
Mehr zum Thema