Historiker Wolffsohn: Der großen Koalition fehlen Visionäre

Moderation: Dieter Kassel · 14.11.2005
Nach Ansicht des Historikers Michael Wolffsohn fehlen der großen Koalition heute Visionäre. Anders als in der großen Koalition 1966 bis 1969 seien Visionäre wie Willy Brandt heute weit und breit nicht zu sehen, sagte Wolffsohn im Deutschlandradio Kultur. Aber die wirtschaftspolitische Situation in Deutschland erfordere einen Visionär.
Kassel: "Denkmalsturz?" heißt das neue Buch von Michael Wolffsohn, der Titel ist allerdings mit einem Fragezeichen versehen, denn vom Sockel stoßen will dieses Buch, das Wolffsohn zusammen mit einem Co-Autor geschrieben hat, den Politiker Willy Brand, um den es geht, um dessen Niederknien in Warschau 1970, ganz sicher nicht. Heute wird das Buch veröffentlicht und jetzt ist Michael Wolffsohn, Historiker an der Universität der Bundeswehr in München, bei uns im Studio. Schönen guten Morgen, Herr Wolffsohn.

Wolffsohn: Guten Tag, Herr Kassel.

Kassel: Ich habe ja den Koalitionsvertrag schon erwähnt, bei dem, was wir alle so relativ genau jetzt über diese vielen, vielen Seiten wissen, spüren Sie da ganz leicht irgendwo die Handschrift einer Persönlichkeit, die an Willy Brand ranreichen könnte?

Wolffsohn: Nein, aber es sind auch andere Zeiten, denn im Grunde genommen fand ja in der sozialliberalen Koalition seit 1969 bis 75, das war die wirklich spannende Phase der Sozialliberalen Koalition, so etwas statt wie eine zweite Gründung der Bundesrepublik Deutschland und diese Aufbruchzeiten sind nicht mehr da. Jetzt brauchen wir gute Ökonomen, die brauchte die erste Bundesrepublik, also die 1949 gegründete, auch. Einen Ludwig Erhard sehe ich weit und breit nicht, aber vielleicht gibt es ja doch noch erfreuliche Überraschungen.

Momentan sind sie nicht erkennbar, denn dieser Koalitionsvertrag ist einerseits auf Vollgas programmiert, Wachstum vermeintlich, aber auf der anderen Seite gleichzeitig Vollbremse, nämlich durch Erhöhung von Steuern und Abgaben. Und Vollgas und Vollbremse, das geht nicht nur beim Autofahren nicht, ich fürchte, das wird auch nicht gut klappen. Vor allem und das Wichtigste, ein Visionär wie Willy Brand ist weit und breit nicht zu sehen.

Kassel: Würde ein solcher Visionär denn heute überhaupt Sinn machen? Sie haben es ja selber gesagt, da waren jetzt mal, vereinfacht ausgedrückt, riesige Taschenrechner zu Gange und nicht die großen, politischen Visionäre. Würde man die heute überhaupt brauchen in der jetzigen Lage?

Wolffsohn: Oh ja, im wirtschaftspolitischen Bereich auf jeden Fall, denn momentan kommt es darauf an, den Menschen zu sagen, dass wir in einer Phase der grundsätzlichen Umstrukturierung sind. Es gibt also durchaus Anknüpfungen, nicht nur gedanklicher Art, an die frühe Bundesrepublik und den Leuten zu sagen, die bisherige Situation kann einfach nicht mehr weitergehen.

Und das hat Willy Brand mit seiner Ostpolitik ja im Grunde genommen auch gemacht, er hat mit der Lebenslüge, zumindest der damals amtlichen Lebenslüge, aufgehört, dass die Gebiete jenseits von Oder und Neiße nun doch auch politisch-völkerrechtlich deutsch wären. Diesen Mut, der Bevölkerung zu sagen, so geht es nicht, kann natürlich eine große Koalition schon deshalb nicht, weil diejenigen, die in den letzten Jahren Verantwortung für die immer schlechter werdende Situation trugen, auch in dieser Regierung drin sind.

Kassel: Was hat Sie und Ihren Kollegen eigentlich so rund 35 Jahre nach diesem Kniefall dazu bewogen, sich wieder intensiv damit zu beschäftigen? Mir ging es ja - vor Lesen des Buches allerdings, muss ich zugeben - so, dass ich dachte, das ist doch sehr gut dokumentiert. Wer darüber etwas wissen will, weiß ja eigentlich alles. Waren Sie sich schon vor Beginn der Recherche sicher, dass das so gar nicht stimmt?

Wolffsohn: Nein, ich bin durch Zufall und zwar durch eine Lehrveranstaltung darauf gestoßen, also die alte, gute Humboldt Universität, ab und zu, wenngleich sie nicht mehr haltbar ist, hat durchaus noch ihre positiven Seiten und was ich dann bei der Quellenlektüre feststellte, war völlig überraschend für mich und für alle Kollegen und auch Leute, die außerhalb der Universität sich damit beschäftigten, dass die damalige Spitze der polnischen Politik unmittelbar nach dem Kniefall Willy Brand gegenüber kein Wort über den Kniefall verlor.

Ich fing an nachzudenken und dann wurde mir an sich schon, als ich intensiver darüber nachdachte, klar, die polnische Regierung, kommunistisch damals, dachte erstens natürlich national und kommunistisch. Kommunistisch hieß, als Anhängsel der Sowjetunion, der Sowjetunion, die gegen Israel im Jahre 1970 faktisch im Krieg stand.

Man darf nicht vergessen, dass sowjetische Piloten am Suezkanal gegen Israel im Abnutzungskrieg am Suezkanal eingesetzt worden sind, zum einen, zum zweiten war natürlich im Grunde genommen hier der religiöse Faktor angesprochen, der in jeder Hinsicht unangenehm in Polen war und erst recht der jüdische. Erstens wegen eines traditionellen Antisemitismus, der bis weit in die polnische Geschichte zurückgreift, und zweitens im März 1968, also etwas mehr als zwei Jahre vor Willy Brands Kniefall, gab es eine regelrecht antisemitische, vulgär antisemitische Kampagne in Polen. Das machte das alles verständlich und mich interessierte...

Kassel: Entschuldigung, 68 meinen Sie, Sie haben gerade 78 gesagt, 68 meinen Sie natürlich, ja...

Wolffsohn: 68? Entschuldigung, vielen Dank für die Korrektur, Psychopathologie des Alters nach Sigmund Freud - also im Jahre 1968 gab es in Polen eine wild antisemitische Kampagne also in einer, sowohl bei den Kommunisten, als auch Nichtkommunisten antisemitischen Grundstimmung war nicht zu erwarten, dass eine so großartige Geste überhaupt goutiert würde.

Und dann stellte ich fest, in den Quellen, dass die Entscheidung, überhaupt das Mahnmal für den Aufstand am Warschauer Ghetto, in einem Alleingang von Willy Brand auf das Programm des Staatsbesuches gesetzt worden ist. Die polnische Regierung war vehement dagegen und erst vier Tage vor dem Beginn des Besuches hat Willy Brand, ich wiederhole, absichtlich im Alleingang diesen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt...

Kassel: Das bringt uns aber doch auf diese zentrale Frage, wo ich leider zugeben muss, so ganz sicher beantwortet Ihr Buch das auch nicht, dieser Moment, den es dann gegeben hat, am 7. Dezember 1970, als er dann auf die Knie fiel und ich glaub, eine ganze Weile dort ja auch verharrte, wir kennen diese Bilder. War das nun spontan oder war es doch nicht?

Wolffsohn: Das ist nicht die entscheidende Frage, darüber wurde natürlich in der Öffentlichkeit diskutiert, aber dieser Kniefall hat eine Vorgeschichte und diese Vorgeschichte ist, die Zeitzeugen werden sich, wenn sie das Buch "Denkmalsturz? Brands Kniefall" lesen, daran erinnern, die Vorgeschichte war denkbar unfreundlich in den Beziehungen zwischen der sozialliberalen Koalition und einerseits dem Staat Israel andererseits auch der Diaspora jüdischen Gemeinschaft.

Vergessen wir nicht die enormen Spannungen der Ostpolitik auch mit den westlichen Verbündeten. Es gab in Washington Verärgerungen, dass die sozialliberale Koalition praktisch die Amerikaner vor vollendete Tatsachen setzte. Man machte gute Miene zum bösen Spiel in Washington. Kissinger, der damalige Sicherheitsbeauftragte von Präsident Nixon war der sozialliberalen Koalition im Allgemeinen und Egon Bahr im Besonderen höchst misstrauisch gegenüber.

Und in Frankreich gefiel auch nicht die Annäherung an Osteuropa. Ja, man war für die Anerkennung des Status Quo durch die Bundesrepublik Deutschland, aber die Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen Westdeutschland und dem Ostblock, das erkannte man in Frankreich, übrigens auch in Großbritannien, sehr deutlich - würde wirtschaftspolitisch ernorme Nachteile für etwa Großbritannien und Frankreich haben.

So, was die jüdische Welt betrifft, musste man im Grunde genommen das deutsch-jüdische Alphabet seit 1969 vollkommen neu erfinden. Die Sozialdemokraten, wenn ich das so sagen darf, und vor allem Willy Brand, haben so etwas verlangt wie eine Opfergemeinschaft. Das war eine völlig neue Tagesordnung, an die sich beide Seiten gewöhnten und dann gab es sehr viele andere Verärgerungen und daher würde ich, und das versuche ich zu zeigen, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik, Israel und der jüdischen Welt waren so schlecht, dass an einem Ort, wie dem Warschauer Ghettomahnmal nur eine große Geste überhaupt als Zeichen des Neuanfangs überzeugt hat.

Kassel: Ich erwähne an dieser Stelle, dass wir Ihr Buch konkret heute Nachmittag um 15.30 Uhr, kurz nach den Kulturnachrichten noch einmal besprechen werden, ich würde aber jetzt gerne, weil Sie Egon Bahr erwähnt haben, doch den Bogen schließen zu dem, womit wir begonnen haben: dem, was heute fehlt. Nun ist sicherlich, werden Sie mir zustimmen, fiele uns kein Ort ein, wo man nun niederknien müsste, aber die Visionen fehlen so ein bisschen.

Egon Bahr war auch sehr stark der Strippenzieher im Hintergrund, in diesem Fall bei anderen Entwicklungen der Ostpolitik, aber machen wir es noch weiter: Es gab auch ganz andere Figuren, nicht unbedingt gerade Freunde von Willy Brand, aber selbst wenn wir an einen Franz Josef Strauß später denken, es gab sehr markante Figuren mit Visionen, ob wir diese Visionen damals oder heute mochten oder nicht. Warum fehlen die heute?

Wolffsohn: Hier gibt es eine klassische Antwort der Gesellschaftswissenschaften, und die beste Antwort hat Alexis de Tocqueville in seinem Buch über die Demokratie in Amerika geben. In jeder Gesellschaft, in der man sich frei entfalten kann, in Unfreiheit ist das natürlich noch viel, viel schlimmer diesbezüglich, ist Mittelmäßigkeit gefordert. Wer herausragt, wird heruntergezogen und insofern ist die Tatsache, dass wir keine herausragenden Persönlichkeiten haben, eher ein beruhigendes Zeichen.

Nehmen Sie mal einen herausragenden Politiker wie Churchill oder den General DeGaulle oder auch Adenauer in der Frühphase der Bundesrepublik und auch eben Willy Brand. Das sind Persönlichkeiten, die in außergewöhnlichen Situationen vorkommen, und die grundlegende Korrektur der Wirtschaft ist zwar dringend, dringend notwendig, aber etwas so Großes, Visionäres ist diesbezüglich schwerer zu verkaufen. Da geht es um Zahlen, nicht so sehr um Gefühle, wenngleich die Zahlen natürlich sehr viele Gefühle in ihrer Konsequenz auslösen. Nur ist das immer nur über Umwege zu vermitteln.

Und vergessen wir auch nicht, dass manche Politiker, die man unterschätzt, in herausragenden Situationen dann auch herausragen. Wer hätte vor 1989 gedacht, dass Helmut Kohl zu einer geradezu historischen Größe gelangen würde. Das hat niemand erwartet, vielleicht auch er selber nicht. Also warten wir ab.

Kassel: Warten wir ab, ich danke Ihnen für das Gespräch, Michael Wolffsohn war das, Historiker an der Hochschule der Bundeswehr in München und einer der Autoren des Buches "Denkmalsturz?", das Buch ist ab heute, wie gesagt, in den Läden und wir werden es heute Nachmittag, um 15.30 Uhr ungefähr, noch einmal ausführlich vorstellen. Danke an Sie im Moment.