Eine folgenschwere Liebe

Die Französin Ida erzählt von der Liebe ihrer Cousine zu einem deutschen Wehrmachtssoldaten in den 1940er-Jahren - den Ida später heiratete. In ihrem Familienroman schildert Odile Kennel diese Liebe, die zwei Freundinnen ruiniert.
Obwohl die Familie angeblich ein Auslaufmodell ist, erlebt der Familienroman eine Renaissance nach der anderen. Auffällig ist, dass besonders Debütanten dieses Genre bevorzugen, zumal damit eine gewisse Erfolgsgarantie verknüpft zu sein scheint. Auch die 1967 geborene Odile Kennel erzählt in ihrem Erstling figurenreich von mehreren Generationen, allerdings geht es bei ihr nicht um Stasi und Realsozialismus, sondern um das literarisch bislang wenig beachtete, brisante Thema der "freundlichen deutschen Besetzung" - oder wie man sie auch nennt, "der horizontalen Kollaboration"- und ihren Folgen in Frankreich.

Nach dem Tod ihres Vaters verlässt die 18-jährige Louise Ende der 70er-Jahre ihre französische Heimat und zieht nach Berlin, um Geschichte zu studieren. Radikal bricht sie alle Brücken zu ihrer Vergangenheit ab, auch zu ihrer Mutter Paulette, mit der sie sich nie verstanden hat. Elf Jahre später führt sie ein Forschungsauftrag über die deutsche Besatzung in der Normandie an ihren Geburtsort zurück. Auf der Beerdigung ihrer Großtante trifft sie auf ihre Mutter und deren Cousine Ida, die ihr bis dahin vollkommen unbekannt war. Ida lebt wie Louise seit Langem in Deutschland; spontan einander zugetan verbringen die beiden zwei Tage miteinander am Meer.

Ida erzählt von ihrer Kindheit, dem Leben vor dem Krieg und der innigen Freundschaft zu Paulette. Louise erfährt, was ihr bislang verschwiegen wurde: dass ihre Mutter sich in den deutschen Wehrmachtssoldaten Franz verliebte – ein Skandal, der die Familie entzweite, und sie erfährt, dass Ida genau diesen Mann später heiratete, um ihm nach Deutschland zu folgen. Doch das ist nicht das einzige Geheimnis, das sich vor Louise enthüllt, so dass die große Geschichte sich unversehens vor ihren Augen in der ihrer Familie spiegelt.

Odile Kennel erzählt den Roman aus drei Perspektiven: aus der von Louise, die im Verlauf von Idas Bekenntnissen ihre vertrauten Kindheitsorte wiedergewinnt, das Chalet am Strand etwa, in dem die Familie regelmäßig die Sommerferien verbrachte; aus dem Blickwinkel von Ida anhand ihres Tagebuchs, an dem sie für ihre gleichfalls ahnungslose Tochter fort- und fortschrieb, und aus der von Paulette, die sich während des (vergeblichen) Wartens auf ihre Tochter und Cousine zum ersten Mal ihren schmerzlichen Erinnerungen stellt. Seine spannende Sogkraft gewinnt der Roman daraus, dass er den drei Frauenfiguren nur jeweils ihre Sicht auf die Dinge erlaubt, während sich dem Leser nach und nach die Ungeheuerlichkeit des lange verborgenen Geschehens enthüllt.

Die Autorin, in Frankreich aufgewachsen und Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters, instrumentiert lebensklug eine Familiengeschichte in der französischen Provinz, wo junge intelligente Frauen keine Chance hatten zu leben, wie sie wollten – ein Zwang, den sie in liebloser Erziehung an ihre Töchter weitergaben. Gleichwohl schildert Kennel ihre Figuren voller Sympathie. Sie zeigt, wie eine folgenschwere Liebe zwei Freundinnen ruiniert, von denen die eine über der gesellschaftlichen Ächtung in lebenslanger Depression versinkt, während die andere sich mutig zu befreien vermag; und sie variiert eindrucksvoll das Gesetz, demzufolge Kinder die Geschichte ihrer Vorfahren aus Lüge und Heuchelei nicht nur in den Genen tragen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Ein Roman, der dem altbekannten Genre überraschend neue Farben aufsetzt.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Odile Kennel: "Was Ida sagt"
dtv, München 2011
320 Seiten, 14,90 EUR
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