Schrecken der Vergangenheit

14.07.2011
Jean Cayrol war Agent des französischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg und überlebte das Konzentrationslager Mauthausen. In der Nacht, die Cayrol hier schildert, ist nicht ein einziges Mal von der "Shoah" die Rede, und doch ist sie das eigentliche Geheimnis seines Romans.
Die Leiche im Keller verweist auf ein Geheimnis. Man ist geliefert, wenn sie aufgedeckt wird. Jean Cayrol geht den umgekehrten Weg. Er stellt seine Leiche offen aus, obendrein vor einem Spiegel. Wenn indes ihr Geheimnis gelüftet ist, könnten manche Figuren des Romans möglicherweise den Rettungsweg finden. Insbesondere die Hauptperson.

Francois soll zu seinem 30. Geburtstag seinen Vater besuchen. Er kommt mit dem Zug aus Paris, steigt schon Stationen vor dem Heimatdorf aus. Denn er will nicht, dass der Vater ihn abholen kann. Der Vater ist ihm in böser Erinnerung geblieben. Ja, böse, dieses Wort taucht im Roman des katholischen Existentialisten Jean Cayrol auf. Das Böse bildet die Verbindungslinie im Dreieck von Vater, Vergangenheit und Nacht.

Francois, der Sohn, erinnert sich nur an einen strengen, verbitterten, frömmelnden Vater. Die Mutter ist früh gestorben. An den Weg in sein Heimatdorf kann er sich nicht erinnern. So irrt er eine Nacht lang – daher der Titel des Romans – durch sumpfige Wälder, wo ihn bösartige, schwarze Hunde und Katzen verfolgen. Er fragt Unbekannte nach dem Weg durch das Dunkel, die ihn noch tiefer in die Irre führen. Bis er – völlig erschöpft – in einem Haus aufgenommen wird und zu der Leiche kommt. Sie liegt aufgebahrt im Ehebett einer Frau, die ihren Mann hasst, der sie nur ausnimmt. Da dämmert es ihm langsam.

Jean Cayrol schildert in diesem Roman den Zeitraum einer Nacht. Die Nacht wird zu einem doppeldeutigen Symbol. Der Sohn, die Hauptfigur, verirrt sich in der Nacht wie in einem Labyrinth. Zugleich findet er in dieser einzigartigen Nacht den Faden (der Ariadne), der ihm den Ausweg bieten könnte. In dieser Nacht kehren die Schrecken der vergessenen und verdrängten Vergangenheit zurück wie im Albtraum. Die Gespenster erhalten im Lauf der Nacht langsam Konturen. Das Geheimnis, das auf dem Sohn lastet und sein Lebensglück verhindert, wird offenkundig. Diese eine Nacht birgt sowohl das Dunkel der Vergangenheit als auch die Helligkeit der Wahrheit am Ende dieser Nacht.

Jean Cayrol versteht sich auf Geheimnisse. Er war Spion und Resistant im Zweiten Weltkrieg (und deshalb im Konzentrationslager). Auch als Autor ist Cayrol ein Agent geblieben. Er wechselt ständig den Standpunkt der Beobachtung, die Perspektive, aus der erzählt wird, die Identität seiner Personen. Das bringt den Roman zum Schillern, trotz seiner Tristesse.

Im Paris der Nachkriegszeit konnte Cayrol sich als Schriftsteller durchsetzen, unter anderem mit diesem Roman von 1954. Aber Cayrol stieß in Frankreich auch auf das Desinteresse an der Wahrheit über die jüngste Vergangenheit. Dass es eine wirksame Kollaboration mit den Deutschen gab, wurde verdrängt. Stattdessen wurde der Ruhm der glorreichen Résistance gefeiert. "Im Bereich einer Nacht" wird kein einziges Mal das Wort Shoah erwähnt. Dabei ist die Shoah, der Holocaust, das eigentliche Geheimnis des Romans. Und nicht das Geheimnis der Leiche, das am Ende offenbart, und hier natürlich nicht verraten wird. "Es ist zu lange geschwiegen worden in unserem Haus", steht da. Und "Es kommt ein Augenblick, da alles aufplatzen muss."

Allein schon wegen der ebenso bilderreichen wie freien Übersetzung von Paul Celan lohnt sich "Im Bereich einer Nacht", wo der herrsch- und eigensüchtige Vater so charakterisiert wird: "Er schuf Distanz rund um seinen Reiherschatten". "Im Bereich einer Nacht" ist ein dunkler Roman, der durch seine Schatten und Schattierungen sowie durch seine (späte) Aufhellung glänzt.

Besprochen von Ruthard Stäblein

Jean Cayrol: Im Bereich einer Nacht
Aus dem Französischen von Paul Celan
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2011
256 Seiten, 19,95 Euro