Eine dritte Bewegung

Rezensiert von Josef Schmid · 19.04.2009
Ernst Nolte weist nach, wie eine dritte Bewegung gegen die schleichende Entwertung großer Ideen in der westlichen Moderne Gestalt annimmt: der Islamismus! Diese dritte "Widerstandsbewegung" kommt diesmal von außerhalb Europas, doch aus benachbarten Räumen, die unter europäischem Einfluss oder Kolonialherrschaft gestanden waren.
Der Historiker Ernst Nolte, dessen Hauptaugenmerk mehr dem Geschichtsdenken gilt denn der reinen Historie, sieht in den zwei folgenreichsten Herrschaftsgebilden, dem Marxismus und Faschismus bzw. Nationalsozialismus, "Widerstandsbewegungen" gegen die westliche liberale Moderne. Denn sie zersetzt, was diesen mächtig gewordenen Ideologien das jeweils Teuerste war: dem Marxismus Arbeit für alle zu gerechtem Lohn und dem Nationalsozialismus den souveränen, hierarchischen Kriegerstaat. Beide haben den "Europäischen Bürgerkrieg" im 20. Jahrhundert entfacht.

Doch Ernst Nolte weist nach, wie eine dritte Bewegung gegen die schleichende Entwertung großer Ideen in der westlichen Moderne Gestalt annimmt: der Islamismus! Diese dritte "Widerstandsbewegung" kommt diesmal von außerhalb Europas, doch aus benachbarten Räumen, die unter europäischem Einfluss oder Kolonialherrschaft gestanden waren.

Ernst Nolte erklärt in sieben lehrreichen Kapiteln, wie sich bereits der Marxismus mit seinen "konservativen Zügen" und die "Gegenrevolution" des Nationalsozialismus gegen den westlichen Liberalismus in Stellung gebracht haben und wie der Islam in den Zerfallsprodukten des Osmanischen Reiches zur großen Gemeinschaftsidee wird. Mit ihm entsteht ein Kontrastbild zum Europa des Imperialismus und Kapitalismus. Dabei wird ein eindrucksvolles Gemälde vom Verhältnis der europäischen Mächte zum Vorderen Orient entrollt. Mit dem Zionismus und dem Staate Israel – Ernst Nolte spricht von "Israel als Einsprengsel von ‚Modernität’ im Riesenraum des Islam" – empfindet die islamische Welt einen Stachel, der die Auseinandersetzung mit dem Westen weithin repräsentiert.

Beeindruckend ist die Darstellung der Anfänge des Islamismus in der "Muslimbruderschaft". Ihre Schriften enthalten bereits das Programm für Kampf und Selbstbehauptung, und durchaus vergleichbar dem "Kommunistischen Manifest"; sodann die packende Geschichte der ersten Vollendung des Islamismus im Iran des Ayatolla Chomeini. In einer ausführlichen Schlussbetrachtung begründet Ernst Nolte noch einmal seine Sichtweise auf das vergangene und neue Jahrhundert als die gewalttätigen Widerstände gegen die liberalistisch-kapitalistische Moderne. Der Islam erscheint darin als neueste Ausprägung dieses Widerstands und als Weltbewegung, die wir als solche noch nicht erkannt haben.
Ernst Nolte definiert den Islamismus betont schlicht:

"Am einfachsten lässt sich der ‚Islamismus’ so definieren, dass er den kriegerischen und dogmatischen Aspekt des Islam…isoliert und dann ausschließlich hervorhebt. Insofern ist der Islamismus nichts anderes als der zu seiner eigenen Radikalität gebrachte Islam"." (287)

Um "Fortschritt" und "Identität" (79 ff.) ballten sich die Fragen. Es ging um die Deutung der Zurückgebliebenheit der islamischen Welt, - um die angeblichen Ursachen der Dekadenz und wie dagegen angekämpft werden müsse, und schließlich um ein Verfallsdenken, in dem eine steigende Aggressivität wurzelt. Diese drei Fragenkreise spielten schon eine große Rolle im Marxismus und Faschismus und stellen sich verblüffend auch heute für den Islam.

Der Westen erklärt Zurückgebliebenheit aus der Unfähigkeit, wissenschaftlich zu denken und sich Neuem zu öffnen. Islamisten wie die Muslimbrüder denken anders:

""Das Geheimnis der Zurückgebliebenheit liege darin, dass die Muslime sich von ihrer Religion entfernt hätten, und deshalb sei es notwendig, dass sie sich nun ganz auf den Koran stützten, um dem Islam seine Seele, sein verlorenes Ethos zurückzugeben und keinesfalls zu vergessen, dass der Islam dazu bestimmt sei, die Menschheit zu beherrschen, d. h., zum Heil des wahren Glaubens an den einzigen Gott und dessen Propheten zu führen." (222)

Dem Fremden und Neuen sich zu widersetzen, der westlichen Zivilisation, ihrem Materialismus, der religionsfernen Lebensweise und sexuellen Freizügigkeit – dies allein könne die islamische Gemeinschaft retten:

"Mithin ist der Islam als Verwerfung des Zustandes der Unwissenheit oder der Verirrung die revolutionärste aller Revolutionen und in seinem Endziel der Wiederherstellung der Harmonie zwischen Gott, Universum und Mensch die konservativste aller Bewahrungen, d. h. die ‚konservative Revolution’ (…) schlechthin." (232)

Selbst wenn sich der Westen der Illusion hingeben sollte, dass der Islamismus eine radikale Spalteridee wäre, der aus Begeisterungsmangel einmal das Licht ausgehen würde, so wird das für den Islam insgesamt nicht gelten und die Übergänge vom Islam zum Islamismus sind fließend und beweglich. Beide werden dem Westen die größere Auseinandersetzung nicht ersparen.
"Der Islam ist also der perfekte Totalitarismus, und alle Kritik, die der Westen daran übt, ist töricht, denn als bloße und eigenwillige Individuen können die Menschen keinen Platz in der gottgewollten und harmonischen Weltordnung finden." (255)

Nichts ist selbstverständlicher, als die "verdorbenen und Verderbnis bringenden Systeme zu vernichten", sagte Ayatolla Chomeini und verstand dies als vorbeugende Maßnahme gegen einen Untergang des Islam, sowie er sich den "satanischen Kräften" der westlichen Moderne ausliefere. (353) Die Ablehnung des Westens fokussiert in einem Antiamerikanismus, der sich in allen drei Widerstandsbewegungen findet. Es ist ein Widerstand gegen die Ziele westlicher Politik wie das Besserleben der Massen, gegen Demokratie, die Säkularität als Verdrängung der Religion, gegen Lockerung und Auflösung der Gemeinschaften aus ungezügeltem Individualismus.

""Diese grenzenlose Aggressivität der ‚wahren Lehre’ ist in Wahrheit eine ‚Verteidigungsaggressivität’ (…). Vielleicht ist der Begriff der "Verteidigungsaggressivität" einer der erhellendsten für die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts"." (255)

Ernst Nolte präsentiert Zeitwissen und Verknüpfungen, die alleine schon die Lektüre unerlässlich machen. Darüber hinaus eröffnet dieses Werk eine Sicht auf das noch bevorstehende 21. Jahrhundert. Für Expansion des Islam sorgt seine Demographie. Zur Mitte des Jahrhunderts dürfte der erdumspannende islamische Gürtel an die zwei Milliarden Menschen umfassen. Der Islam sei kein monolithischer Block, heißt es. Gewiss, aber Internet und der Appell an seine Grundlehren können ihn dazu machen.

Ernst Nolte erwartet weniger einen Kampf der Kulturen, dafür aber einen Kampf konkurrierender Lebens- und Daseinsformen, des Islam wie der europäischen Moderne, um ihren universellen Geltungsanspruch. Er sieht ihn in einer Dimension, auf die wir nicht vorbereitet sind.


Ernst Nolte: Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus
Landtverlag, Berlin/2009