Einblicke in Syrien

Rezensiert von Anne Francoise Weber · 21.10.2012
Mit den Lebensverhältnissen und Beweggründen der Syrer vor und während der Revolution beschäftigt sich das Buch von Kristin Helberg, die selbst sieben Jahre in Syrien gelebt hat. Sie zählt auch zu den 19 Autoren, die in dem von Larissa Bender herausgegebenen Band ein differenziertes Bild des Landes in der Revolution entwerfen.
Dies sei kein Buch über die Revolution, sondern ein Buch über Syrien, stellt Kristin Helberg gleich zu Beginn klar. Die Journalistin hat von 2001 bis 2008 in Syrien gelebt und war lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Berichterstatterin vor Ort.

Sie verbindet persönliche Erlebnisse und Porträts mit politischer Analyse und Erläuterungen zu Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaftsstruktur. Das liest sich stellenweise recht vergnüglich, wie etwa die Beschreibung der umständlichen und zeitraubenden Formalitäten, um ein Visum zu erhalten – mit dem Fazit:

"Laut einem Weltbank-Bericht aus dem Jahr 2005 benötigt man in Syrien für den Import von Gütern mehr als 20 Unterschriften. Zwei würden genügen, aber dann wären 18 Beamte arbeitslos.
So gesehen ist mein Ausreisevisum eine Art Beschäftigungstherapie. Ich gebe immerhin sechs Militärs und einem Copyshop eine Existenzberechtigung – dafür investiere ich gerne einen Vormittag und steige ein paar Treppen."
(Helberg, S.162)

Helberg hat Syrien am eigenen Leibe erlebt, wie solche Passagen zeigen. Und sie hat nicht immer nur gute Erfahrungen gemacht – denn wenn auch ihre Arbeit im Allgemeinen toleriert wurde, gab es doch Grenzen, wie sie zum Beispiel bei einer Recherche zur Lage der Kurden 2008 feststellen musste:

"Im russischen Kulturzentrum [in Damaskus], einem angeblich neutralen, sicheren Ort, treffe ich einen kurdischen Journalisten und einen Aktivisten. Bald erregt das Mikrofon die Aufmerksamkeit zweier Herren am Nachbartisch. Als einer von ihnen zu seinem Handy greift und den Raum verlässt, raten meine Gesprächspartner zum Aufbruch. Kaum auf der Straße, sehen wir Uniformierte auf das Kulturzentrum zueilen. Die beiden Kurden flüchten in eine Nebenstraße, ich selber winke ein Taxi heran und steige hektisch ein." (Helberg, S.104)

Drei Jahre zuvor hatte sie noch, wenn auch vom Geheimdienst überwacht, mit dem Politiker Mashaal Tammo in der kurdischen Stadt Qamishli über die schwierigen Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen des Landes sprechen können. Im Oktober 2011 dann ist Mashaal Tammo das erste Opfer der Revolution, das Kristin Helberg persönlich kannte.

Denn auch wenn es kein Buch über die syrische Revolution sein soll: In allen Kapiteln sind die aktuellen Ereignisse kunstvoll eingeflochten. Seit 2009 durfte sie nicht mehr in Syrien arbeiten, weil ein Porträt des Präsidenten in einer schlechten arabischen Übersetzung ihr den Unmut des Regimes einbrachte.

Doch über das Internet und persönliche Kontakte ist die Autorin weiterhin bestens informiert. Sie stellt heraus, dass eine friedliche Bürgerbewegung nicht nur am Anfang der Revolution stand. Vielmehr halten die einfallsreichen Protestaktionen und mutigen Demonstrationen immer noch an, trotz der grausamen Repression.

Ihr redliches Anliegen, die Opposition zu unterstützen, führt an wenigen Stellen zu kleinen Beschönigungen, beispielsweise wenn sie über Verbrechen durch Angehörige der Freien Syrischen Armee schreibt:

"Ja, einzelne Einheiten der Freien Syrischen Armee und andere bewaffnete Gruppen mögen gefangen genommene Shabiha-Milizen verhören, standrechtlich verurteilen und im Falle ‘nachgewiesener’ Schuld auch hinrichten. Aber diesen vielleicht Hunderten getöteten Mördern und Vergewaltigern stehen mehr als 20.000 unschuldige zivile Tote sowie Hunderttausende Gefolterte gegenüber." (Helberg, S.264).

Das ungeheuerliche Zahlenverhältnis stimmt sicherlich, doch aktuelle Berichte von Menschenrechtsorganisationen lassen befürchten, dass die Freie Syrische Armee nicht nur Mörder und Vergewaltiger, sondern auch unschuldige Menschen tötet.

Auch Morde aufgrund von Konfessionszugehörigkeit – gerade an Alawiten, die der Religionsgemeinschaft von Präsident Baschar al-Assad angehören – sind nicht so unwahrscheinlich, wie Kristin Helberg mit Verweis auf die große religiöse Toleranz in Syrien vorgibt.

Die große Stärke dieses gut lesbaren Buchs, die Leser über Lebensverhältnisse und Beweggründe der Syrer vor und während der Revolution zu informieren, wird dadurch jedoch nicht geschmälert:

"Für westliche Ohren klingt jedes "Allahu Akbar" bedrohlich. Ich erwische mich selbst bei diesen typischen Gedanken: ‘Warum reden die jetzt nur noch von Gott, wo es ihnen doch eigentlich um Freiheit geht?’
Aber ich weiß, dass ‘Allahu akbar – Gott ist größer’ alles Mögliche ausdrücken kann. Bei Demonstrationen und im Kampf bedeutet es: ‘Wir schaffen das schon’, ‘Wir kämpfen für eine große Sache’, ‘Keine Angst, wir sind nicht allein’ oder ‘Lasst uns zusammenhalten’. In den allermeisten Fällen bedeutet es jedenfalls nicht das, was Europäer heraushören, nämlich dass hier jemand einen Gottesstaat errichten und Andersgläubige verfolgen will."
(Helberg, S. 267)

Kristin Helberg zählt auch zu den 19 Autorinnen und Autoren, die in dem von Larissa Bender herausgegebenen Band: "Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit" ein differenziertes Bild des Lands in der Revolution entwerfen. Das Besondere daran: Über die Hälfte der Verfasser sind selbst Syrer.

Auch wenn einige von ihnen das Land mittlerweile verlassen haben, schildern sie doch die Veränderungen anhand der eigenen Geschichte. So zum Beispiel Rosa Yassin Hassan, die sich an ihre von Präsidentenkult und Militarismus geprägte Schulzeit erinnert und bei einer Fahrt im Schulbus ihres Sohnes vor kurzem eine ganz andere Erfahrung machte:

"Zufällig schlug an jenem Tag der Busfahrer einen Schüler mit einem Stock, den er unter seinem Sitz versteckt hatte – und mit einem Mal fingen in dem gedrängt vollen Bus die anderen Schüler, von denen keiner älter als zwölf Jahre alt war, wie mit einer Stimme an zu rufen: ‘Das Volk will den Sturz des Chauffeurs!’, worauf der Fahrer verstummte, so tat, als höre er nichts und weiterfuhr!" (Rosa Yassin Hassan, in Bender: S. 134)

Wie er selbst vom Einheitsdenken zum Rebellionsgeist kam, davon berichtet der 1982 geborene Rami Nakhla. Vor sechs Jahren geriet er auf der Suche nach Informationen zu sogenannten Ehrenmorden zum ersten Mal in Kontakt mit dem Internet:

"Manche Websites stellten die Dinge etwas anders dar als andere, und wieder andere widersprachen sich komplett: Für mich als jemand, der in einem festgefügten politischen und gesellschaftlichen System lebte, war das seltsam und verwirrend, und ich konnte anfangs gar nicht damit umgehen. Bis dahin hatte es immer nur eine einzige offizielle Antwort und Wahrheit zu jeder Frage gegeben, ganz besonders zu jeder Frage mit politischem, sozialem oder religiösem Bezug". (Rami Nakhla, in Bender, S. 26)

Manche Übersetzung aus dem Arabischen klingt ein wenig hölzern, doch die persönlichen Geschichten und politischen Analysen – zum Beispiel zur Rolle der Kurden und der Christen, zur Kontrolle verschiedener bewaffneter Gruppierungen oder zum internationalen Rahmen des Konflikts – sind allesamt angenehm kurz gefasst und sehr spannend zu lesen.

Kristin Helberg: Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land
Herder spektrum, Band 6544
Verlag Herder, 24. September 2012

Larissa Bender (Hg.): Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn September 2012

Quellen der Zitate:
Kristin Helberg: Brennpunkt Syrien, Einblick in ein verschlossenes Land, Herder Verlag
Rosa Yassin Hassan: Syrische Kinder nach der Revolution. Über die Auflösung einer alten Struktur namens Angst, aus Larissa Bender (Hg.): Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit, S. 131-136
Rami Nakhla: Meine Revolution. Von der virtuellen Welt auf die Straße, aus Larissa Bender (Hg.): Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit, S. 24-32
Cover Kristin Helberg: "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land"
Cover Kristin Helberg: "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land"© Herder spektrum
Cover Larissa Bender (Hg.): "Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit"
Cover Larissa Bender (Hg.): "Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit"© Verlag J.H.W. Dietz
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