Ein Wort auf dem Seziertisch

Rezensiert von Alexander Schuller |
Eine ganze Ausgabe zum Thema Neugier - da wird fast zwangsläufig viel philosophiert und soziologisiert. Ganz zentral ist in dem Merkur-Sonderheft dabei beispielsweise die Frage, inwieweit das "Neue" ein Bestandteil von "Neugier" ist oder ob sich die "Neugier" dem "Neuen" entzogen hat.
"Will das Heft ein Plädoyer für das Prinzip des Neuen, für die Kapazität der Neugier halten? Durchaus."

Dieses Plädoyer ist wohl auch als Auftrag der Herausgeber weitergereicht worden. Damit haben sie den Autoren das Leben wahrlich nicht leicht gemacht. Über 200 Seiten lesen wir von der verzweifelten Mühe, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Mission impossible. Nicht überall nämlich, wo die umgangssprachliche "Neugier" drauf steht, ist auch "Neu" drin.

"Neugier" zielt nur selten auf das Neue, sondern viel eher auf das Sonderbare, das Besondere, das Verborgene, das Fremdartige, das Kuriose, das Geheimnisvolle, das Obszöne. Manchmal ist auch ein "Neu" dabei, aber eben nur nebenbei.

"Neu" und "Neugier" gehören eben sehr unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Kategorien an. Jedes deutsch-englische oder deutsch-französische Wörterbuch lehrt es uns: Neugier heißt dort curiosity oder curiosité.

Nach dem im Vorwort der Herausgeber formulierten Zusammenhang von "Neugier" und "Neu" verfügen die Altphilologen Demandt und Maier, die beide einen Text beisteuern, nicht über Neugier, sondern bestenfalls über "Altgier".

Die Verkettung von "Neu" und "Neugier" führt jedenfalls auf Abwege. Interessant ist doch eigentlich das Gegenteil: Wie sehr und wieso die Neugier sich dem Neuen entzogen hat - welcher kultursoziologische oder auch strukturelle Wandel hat sich hier ereignet?

Schon im ersten Beitrag des Heftes (Kleine Apologie des Neuen) bemüht sich der Autor Volker Gerhardt, eine Brücke zwischen der "Neugier" und dem "Neuen", zwischen dem Begriff und dem Befund zu schlagen.
"Nichts ist so alt wie das Neue. Das Neue gibt es schon lange auf der Welt, und es kommt auch nicht selten vor. Ja, es ist so häufig und weit verbreitet, daß man sich über die Aufmerksamkeit, die es findet nur wundern kann. Denn neu ist alles, was im Augenblick entsteht, und als neu erscheint, was immer gerade auftritt oder ankommt.

Mit Ausnahme dessen, was es bereits gibt, ist tatsächlich alles neu. Denken wir hinzu, daß alles, was es jemals gab, und alles, was es heute gibt, zu der Zeit, als es aufkam, etwas Neues war, trifft das Neue schlechthin auf alles zu: Entweder es ist gerade neu oder es ist neu gewesen. Was soll daran bemerkenswert sein? Seltenheitswert hat es jedenfalls nicht."

In der Tat. Wenn das "Neue" keinen Seltenheitswert hat, kann es so neu nicht sein. Wenn es immer und überall das Neue gibt, ist es ein alter Hut. Das wissen wir aber auch schon lange: Die Kraft des "Neuen", Neugier oder auch nur Aufmerksamkeit zu provozieren, ist im Schwinden.

Das Neue ist schon längst nicht mehr von irgendeiner Neu- oder sonstigen Gier umzingelt, sondern von Langeweile, Ödnis und Degout. Wenn seit 100 Jahren schon von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" geredet wird, dann hat das Neue seinen ontologischen Anspruch verspielt. Über das Neue zu reden - meint Gerhardt - wird dann sinnlos.

"Es ist also keine leichte Aufgabe, die Neuigkeit des Neuen zu bestimmen. Doch man muß sich der Mühe unterziehen, wenn man nicht zulassen will, daß die Rede vom Neuen unter Sinnlosigkeitsverdacht gerät."

Wie definiert sich das "Neue" also und wie wird es generiert? Norbert Bolz meint: nebenbei, als Nebenprodukt. Und nicht eine psychische Variable, sondern eine technische schafft das Neue. Nicht die Neugier generiert das Neue, sondern umgekehrt: das - strukturell, technisch - Neue generiert die Neugier. Das ist ein sehr soziologischer Gedanke, der vieles von dem verständlich macht, was wir unter technologischer Revolution verstehen.

"Das ist unser Thema: Technik als Inkognito der neuen Idee. Ein Laie wird neue Ideen vielleicht von Wissenschaftlern erwarten. Profis wissen aber, daß die normalen Wissenschaften vom Neuen nichts wissen wollen. Heideggers harter Satz, dass die Wissenschaft nicht denkt, zielt auf diesen merkwürdigen Sachverhalt. Thomas S. Kuhn hat dafür eine einleuchtende Erklärung gefunden. Das Neue widerspricht dem Paradigma.

Und das Paradigma ist, nach Ernst Peter Fischers Wort, das Brett, das wir alle vor dem Kopf haben. Jeder Wissenschaftler operiert in einem Informationssystem, das, je besser es funktioniert, desto unsensibler für das Neue ist. Nur eine Identitätskrise, die der Erschütterung einer religiösen Konversion oder der Gewalt einer Reeducation gleichkäme, könnte das Paradigma als Lebensform des Wissenschaftlers in Frage stellen (...) Normale Wissenschaft staunt nicht und wird auch nicht überrascht."


Für Jason Potts (im Text "Schöpferische Zerstörung") ist Mode eine jener Hybrid-Formen von Alt und Neu, mit denen soziale und auch wirtschaftliche Experimente durchgeführt werden. In der Mode findet eine Art von Wiederkehr des Gleichen statt, wobei alt und neu eine potente Mischung eingehen. Das Neue ist in dieser Sicht, eine Variante, ein Derivat des Alten.

Warum, so fragt Potts, folgen die Menschen der Mode? Was ist deren Verlockung? Einerseits, um anders zu sein - also "neu" - und zugleich zugehörig, - also "alt". Mode ist ein sowohl persönliches als auch soziales Findungs- und Selbstfindungsverfahren. Sie ist sowohl konformistisch als auch individualistisch.

Generell gesprochen, dürfte das dem ideologischen Entwurf eines jeden aufrechten Konservativen entsprechen. Allerdings impliziert dieses Verständnis von Mode ein hohes Maß an Destruktion, gerade deswegen,

"weil sie ein Mechanismus zur Förderung des Experimentierens, des Lernens und der Neukoordinierung ist. Sie beschleunigt die Aneignung neuer Ideen und senkt die Kosten der schlechten Ideen, die in der Vergangenheit angeeignet worden waren. Mode ist zwar kostspielig, aber sie funktioniert erneuernd und selbstorganisierend."

Dass Neugier und Kreativität geradezu süchtige Zwillinge sind, vermutet Friedrich Pohlmann - wenn auch in arg gequältem Deutsch.

"Spielend öffnet sich der Mensch und gibt sich neugierig ganz dem unvorhersehbaren Zauber des Augenblicks hin, aber erst im künstlerischen Gestalten erwächst aus der Öffnung des Menschen zur Welt und zu sich selbst hin ein Bleibendes. Sich der eigenen Phantasiewelt und den Prozessen ihrer gestaltenden Vergegenständlichung öffnend, sich ihr neugierig zuneigend, öffnet sie sich in neuen, 'außeralltäglichen' Dimensionen und erlangt schließlich ihren Ausdruck in einem Werk, das den Menschen in ein Anderes - aus der Sphäre profaner Nützlichkeit heraus - erhebt."

Trotz oder vielleicht gerade wegen der widersprüchlichen Vorgabe der Herausgeber haben wir hier ein in seiner Zwiespältigkeit anregendes und sogar aufregendes Merkur-Sonderheft.

Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel: Neugier
Vom europäischen Denken

Sonderheft Merkur, Klett-Cotta Verlag