"Ein Totenschädel guckt nie unfreundlich"
Viele Völker verehrten mit modellierten Totenköpfen ihre Ahnen, stolze Krieger sammelten die Schädel der Besiegten: Wie bedeutend das menschliche Haupt in der Kulturgeschichte war, zeigt eine Ausstellung in Mannheim. Kurator Wilfried Rosendahl beobachtet den Schädelkult auch in der Gegenwart.
Susanne Führer: Ab Sonntag gibt es in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen laut eigenen Angaben eine Weltpremiere zu sehen, nämlich die Ausstellung "Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen" mit über 300 Exponaten, also Schädeln und Kopfpräparaten. Was den Machern der Ausstellung da durch den Kopf gegangen ist, erläutert uns nun einer der Kuratoren der Ausstellung, Doktor Wilfried Rosendahl. Guten Morgen, Herr Rosendahl!
Wilfried Rosendahl: Schönen guten Morgen!
Führer: Sie gestalten die weltweit erste Ausstellung zum Schädelkult, da muss es ja dann eine Geschichte dazu geben, oder? Wie sind Sie dazu gekommen?
Rosendahl: Na ja, also, es ist die weltweit größte Schau dieser Art. Es gab in den 70er-Jahren in Frankreich schon mal eine, aber nicht in der Breite von der Geografie her und nicht in der zeitlichen Tiefe, und wir haben einen direkten Hausbezug, denn in unserem Hause war mal eine große Schädelsammlung, die Schädelsammlung des Künstlers und Malers Gabriel von Max. Diese Sammlung ist 1917 mit 50.000 anderen Objekten in unser Haus gekommen, und 1935 musste die Sammlung im Rahmen eines Zwangstauschs nach Freiburg gegeben werden.
Also haben wir sie verloren und erst 2008 wurde bekannt, dass sie doch noch da ist in Freiburg. Man dachte, sie wäre im Krieg verloren gegangen. Sie war einsortiert in eine andere Sammlung, und das ist ein toller Moment für uns, denn wir haben noch alle historischen Dokumente zu dieser Schädelsammlung und sind nun in der Lage, neue Analysen, Forschung zu betreiben, aber auch die Historie aufzubereiten, nämlich Dokumente und Objekte zusammenzuführen.
Führer: Und wie umfangreich ist diese Sammlung Gabriel von Max?
Rosendahl: Gabriel von Max' Schädelsammlung umfasst etwa 400 Schädel.
Führer: Und warum hat er die gesammelt?
Rosendahl: Gabriel von Max war ein früher Fan des Darwinismus, er war ein Vertreter seiner Zeit, er hat eine große Sammlung Ethnografica, also die Gegenstände der Kulturen der Welt, er hatte eine Riesensammlung von altsteinzeitlichen Werkzeugen und Tierknochen und eine Sammlung eben mit Schädeln. Sein Ansinnen war es, so sich ein Bild zu schaffen vom Werden des Menschen und von den Menschen heute. Ihm war nicht dran gelegen, irgendwas zu vermessen oder zu vergleichen oder zu kategorisieren, er wollte sich so das Weltbild in seinem Museum schaffen.
Führer: Denn das war ja damals meistens das Ziel solcher Sammlungen. Diese Schädelsammlungen waren ja eigentlich immer darauf aus, die Unterschiede zwischen den sogenannten menschlichen Rassen zu beweisen, oder?
Rosendahl: Ja, Max war kein Anthropologe, er war ein interessierter Mensch, der von Darwins Theorie sehr fasziniert war. Er hat mit Darwin korrespondiert, er war mit Ernst Heckel befreundet, dem berühmtesten Darwin-Vertreter in Deutschland, und er war eben ein anderer Sammler.
Führer: Just heute, Herr Rosendahl wird ja eine Delegation aus Namibia in der Berliner Charité Schädel von Hereros abholen, die dort seit über 100 Jahren lagern, um sie in die Heimat dann zurückzubringen. Die Hereros waren damals von deutschen Kolonialtruppen ermordet worden. Haben Sie eigentlich auch schon Rückgabeforderungen erreicht?
Rosendahl: Also wir haben bei dieser Ausstellung wie auch bei anderen Dingen sehr gut darauf geachtet, wir haben nichts in der Ausstellung, was jetzt Rückforderungen aus einem Unrechtskontext hat. Wir haben 2007 eine Mumienausstellung präsentiert, in der auch mumifizierte Schädel der Maori gezeigt wurden, dazu haben wir auch eine Anfrage aus Neuseeland bekommen, die beantwortet, aber keine Objekte zurückgegeben.
Führer: Sie haben vorhin gesagt, die Schädel der Gabriel-von-Max-Sammlung wurden wissenschaftlich untersucht. Mit welchem Ergebnis denn?
Rosendahl: Wir konnten jetzt erst mal ein paar Auswahlexemplare untersuchen, wir wollten wissen: Wie alt sind denn die Schädel? Selbst wenn sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesammelt wurden, konnten sie ja viel älter sein. Und so haben wir einen Schädel, der sogar etwa 400 Jahre alt ist, also es ist nichts Zeitgleiches aus dem Sammelbereich. Wir wollten wissen, stimmen denn die Zuweisungen, die so in den Dokumenten gegeben werden? Steckt da wirklich, wenn da Amazonien drauf steht, steckt das wirklich in dem Schädel drin?
Auch da haben wir Abweichungen gefunden, dass also nicht alle historischen Informationen, die dazu gegeben sind, auch stimmen. Und wir wollten natürlich wissen: Was sagen uns die Schädel hinsichtlich ihrer Individualinformationen? Waren es Männer, Frauen, Individualalter – so kann man entsprechend einer Sammlung vielleicht noch etwas zurückgeben, auch wenn sie über hundert Jahre alt ist.
Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Wilfried Rosendahl, er ist der Kurator der Ausstellung "Schädelkult" in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen. Jetzt kommen wir aber mal wirklich zu der Ausstellung, Herr Rosendahl: Was für Schädel oder auch Kopfpräparate gibt es denn da genauer zu sehen bei Ihnen? Sind die geschmückt, sind die verziert, oder worauf bezieht sich dieses Schädelkult?
Rosendahl: Also grundsätzlich zeigen wir die gesamte Bandbreite. Schädelkult ist für mich als Definition auch als Basis der Ausstellung der Kopf und Schädel des Menschen in seiner Kulturgeschichte. Das heißt auch, die kulturelle Benutzung und Handhabung und Wertschätzung des Schädels – sei es profan oder angebetet oder auch entsprechend anders genutzt. Wir zeigen vom ältesten Objekt, einem Neandertalerschädel mit drei Steinwerkzeugen drin gefunden, 170.000 Jahre alt, die gesamte zeitlich-geografische Breite bis nach heute, und dabei einige besondere Dinge, die bisher nie zu sehen waren.
Führer: Nämlich?
Rosendahl: Zum Beispiel übermodellierte Schädel aus Kolumbien, davon gibt es weltweit nur 18 Stück. Wir zeigen Nummer 19 …
Führer: Entschuldigung, was sind denn übermodellierte Schädel aus Kolumbien?
Rosendahl: Übermodellierte Schädel ist eine Form der Ahnenverehrung, dass man nicht den knöchernen, nackten Schädel entsprechend als Ahne verehren wollte, sondern hat ihn übermodelliert mit einer lehmigen, tonigen Paste, um so ihm ein annähernd lebendes Antlitz zu geben, also eine prominente Nase, ein Gesicht zu formen, und das ist eine weit verbreitete Form der Ahnenverehrung. Das finden wir vor 9.000 Jahren schon in Israel, auch dort haben wir eine bedeutende Leihgabe, die bisher noch nie aus Israel heraus gereist war. Und aus Kolumbien gibt es eben auch diese Tradition, und 18 Schädel waren bisher bekannt, alle liegen in Kolumbien, und wir können nun zwei Schädel zeigen, die bisher nicht bekannt waren.
Führer: Und Sie wollten noch mehr einzigartige Objekte aufzählen?
Rosendahl: Wie gesagt, übermodellierte Schädel aus Israel ist bedeutend. Wir haben heute erst angeliefert bekommen aus Athen einen mit Türkismosaik besetzten Schädel aus dem 15. Jahrhundert aus Mesoamerika. Das ist ein Schädel, von dem es weniger als zehn weltweit bekannt gibt, und dieser ist auch bisher nicht bekannt gewesen.
Führer: Also der Kult um den Schädel reicht ja offensichtlich sehr weit zurück, wenn Sie sagen, bis zu den Neandertalern. Aber was hatte dieser Kult jeweils zu bedeuten, wofür stand der Schädel? War das eine Trophäe, eine Reliquie – also, wenn er jetzt nicht als Trinkgefäß benutzt wurde?
Rosendahl: Das Trinkgefäß ist ganz selten dabei, das ist ganz eigentümlich vielleicht. Es gibt eigentlich zwei Grundtypten, die wir so ausgliedern können. Das ist einmal die Ahnenverehrung, also die Erinnerung an Verstorbene, dass man sich den Schädel entsprechend besonders positioniert, dass man ihn bereithält, dass er im Familienkreis ist, dass er geschmückt wird, dass man ihn mitnimmt, dass man drauf schläft, um einfach den Schutz des Ahnen noch zu haben und sich zu erinnern.
Und dann gibt es die große Gruppe der Trophäenschädel, also das Siegeszeichen, das man auch entsprechend zum Beispiel an der Wand des Hauses eines Dorfes positioniert, um zu zeigen: Ich bin der Kräftige, ich bin der Siegreiche. Und nicht selten ist dieses auch damit verbunden, irgendwo Leben zu nehmen als Begründung dafür, dass ich neues Leben schaffen darf. Auch das ist relativ häufig bereitet, es muss Blut fließen, damit neues Leben entstehen kann.
Führer: Kann man sagen, in welchen Kulturen, in welchen Gesellschaften besonders großer Kult um den Schädel gemacht wurde?
Rosendahl: Ozeanien ist ein geografischer Bereich, in dem sehr divers Schädelkult aufkommt. Hier finden wir sehr viele verschiedene Formen von schädelschmücken, übermodellieren, Ahnenschädel positionieren. Aber auch Europa ist, wenn man mal die unterschiedlichen Formen anguckt, wie hier der Schädel behandelt und verehrt wird, sehr divers, vielleicht sogar der Kontinent mit der diversesten Schädelkultkultur.
Führer: Können Sie mal ein Beispiel nennen?
Rosendahl: Na ja, wir haben die übermodellierten Schädel schon erwähnt – Israel ist jetzt nicht unbedingt Europa, aber im Randbereich –, wir haben aus Europa deformierte Schädel aus dem Frühmittelalter, wir haben in Europa Beinhäuser, in denen wir Schädel sammeln, wir haben in Europa die ganze Todeserinnerungskunst, die Vanitas-Motive in der Kunstgeschichte, wir haben die anatomischen Darstellungen des Schädels von Leonardo da Vinci, wir haben die Reliquienverehrung in der Kirche, wir haben das Modeaccessoire, was gerade ganz aktuell geführt wird.
Oder wir haben die Phrenologie, also die Charakterkunde des Schädels, die 1801 durch Franz Joseph Gall aufgebracht wurde, dass man an der Form des Schädels und seinen Eindellungen und Nischen erkennen kann, welchen Charakter ein Mensch hatte. Und das hat dazu geführt, dass man zum Beispiel Haydns Schädel oder auch Schillers Schädel hat sammeln wollen.
Führer: Würden Sie sagen, Herr Rosendahl, dass es heute noch so etwas wie einen Schädelkult gibt? Ich hatte jetzt so spontan gedacht, den meisten Menschen geht es so wie mir, wenn ich jetzt einen Totenschädel sehe, dann gruselt es mich eher.
Rosendahl: Wenn man so draußen durch die Stadt geht, könnte man meinen, Schädelkult ist aktuell. Es gibt Unmengen Embleme mit Schädeln, ob es T-Shirts, Schuhe oder Modelabels sind. Es gibt die schwarze Szene, die sich damit schmückt, vielleicht rein nur aus Provokation, vielleicht auch als Insignie, etwas zu beherrschen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ich hatte den Eindruck, dass gerade so in der letzten Zeit der Schädel als Bild uns wieder sehr häufig begegnet.
Führer: Nun könnte man natürlich auch sagen, Sie haben sich jetzt eine ganze Weile mit den Schädeln beschäftigt, Ihre Kollegen auch. Ist diese wissenschaftliche Beschäftigung mit den Schädeln nicht auch eine Art Kult?
Rosendahl: Finde ich auch. In dieser Definition, wie ich sagte, Schädel im Kulturbereich, ist es so. Deswegen thematisieren wir in der Ausstellung zum Beispiel auch Kriminalistik, Forensik, also Gesichtsrekonstruktionen. Ich finde auch, das ist ein Boom im Fernsehen oder in den Romanen, dass man mit Forensikern auf Knochensuche geht und was rekonstruiert und den Schädel wieder zum Leben erwecken muss, um ein Antlitz zu haben, um ein Phantombild zu schaffen. Und ich finde, auch die Suche nach unseren Vorfahren ist eine Kulturerscheinung jetzt gerade für uns, wer den ältesten, berühmtesten, vollständigsten Schädel des frühesten Urahnen findet, ist schon berühmt geworden damit.
Führer: Können Sie sagen, Herr Rosendahl, was Sie fasziniert an so einem Totenschädel?
Rosendahl: Ich finde, ein Totenschädel ist immer noch ein Gesicht. Er erinnert immer noch an das, was mal da war, weil er hat noch Augen, Nase und Mund, und viele Leute sagen ja auch – und ich finde es auch – ein Totenschädel guckt nie unfreundlich.
Führer: Wilfried Rosendahl, Kurator der Ausstellung "Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen", zu sehen in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim, und zwar ab Sonntag. Die Presse darf aber heute schon hinein, und deswegen gibt es in unserer Sendung "Fazit" ab 23 Uhr eine Ausstellungskritik. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch, Herr Rosendahl!
Rosendahl: Danke schön, bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Informationen der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zur Ausstellung "Schädelkult"
Wilfried Rosendahl: Schönen guten Morgen!
Führer: Sie gestalten die weltweit erste Ausstellung zum Schädelkult, da muss es ja dann eine Geschichte dazu geben, oder? Wie sind Sie dazu gekommen?
Rosendahl: Na ja, also, es ist die weltweit größte Schau dieser Art. Es gab in den 70er-Jahren in Frankreich schon mal eine, aber nicht in der Breite von der Geografie her und nicht in der zeitlichen Tiefe, und wir haben einen direkten Hausbezug, denn in unserem Hause war mal eine große Schädelsammlung, die Schädelsammlung des Künstlers und Malers Gabriel von Max. Diese Sammlung ist 1917 mit 50.000 anderen Objekten in unser Haus gekommen, und 1935 musste die Sammlung im Rahmen eines Zwangstauschs nach Freiburg gegeben werden.
Also haben wir sie verloren und erst 2008 wurde bekannt, dass sie doch noch da ist in Freiburg. Man dachte, sie wäre im Krieg verloren gegangen. Sie war einsortiert in eine andere Sammlung, und das ist ein toller Moment für uns, denn wir haben noch alle historischen Dokumente zu dieser Schädelsammlung und sind nun in der Lage, neue Analysen, Forschung zu betreiben, aber auch die Historie aufzubereiten, nämlich Dokumente und Objekte zusammenzuführen.
Führer: Und wie umfangreich ist diese Sammlung Gabriel von Max?
Rosendahl: Gabriel von Max' Schädelsammlung umfasst etwa 400 Schädel.
Führer: Und warum hat er die gesammelt?
Rosendahl: Gabriel von Max war ein früher Fan des Darwinismus, er war ein Vertreter seiner Zeit, er hat eine große Sammlung Ethnografica, also die Gegenstände der Kulturen der Welt, er hatte eine Riesensammlung von altsteinzeitlichen Werkzeugen und Tierknochen und eine Sammlung eben mit Schädeln. Sein Ansinnen war es, so sich ein Bild zu schaffen vom Werden des Menschen und von den Menschen heute. Ihm war nicht dran gelegen, irgendwas zu vermessen oder zu vergleichen oder zu kategorisieren, er wollte sich so das Weltbild in seinem Museum schaffen.
Führer: Denn das war ja damals meistens das Ziel solcher Sammlungen. Diese Schädelsammlungen waren ja eigentlich immer darauf aus, die Unterschiede zwischen den sogenannten menschlichen Rassen zu beweisen, oder?
Rosendahl: Ja, Max war kein Anthropologe, er war ein interessierter Mensch, der von Darwins Theorie sehr fasziniert war. Er hat mit Darwin korrespondiert, er war mit Ernst Heckel befreundet, dem berühmtesten Darwin-Vertreter in Deutschland, und er war eben ein anderer Sammler.
Führer: Just heute, Herr Rosendahl wird ja eine Delegation aus Namibia in der Berliner Charité Schädel von Hereros abholen, die dort seit über 100 Jahren lagern, um sie in die Heimat dann zurückzubringen. Die Hereros waren damals von deutschen Kolonialtruppen ermordet worden. Haben Sie eigentlich auch schon Rückgabeforderungen erreicht?
Rosendahl: Also wir haben bei dieser Ausstellung wie auch bei anderen Dingen sehr gut darauf geachtet, wir haben nichts in der Ausstellung, was jetzt Rückforderungen aus einem Unrechtskontext hat. Wir haben 2007 eine Mumienausstellung präsentiert, in der auch mumifizierte Schädel der Maori gezeigt wurden, dazu haben wir auch eine Anfrage aus Neuseeland bekommen, die beantwortet, aber keine Objekte zurückgegeben.
Führer: Sie haben vorhin gesagt, die Schädel der Gabriel-von-Max-Sammlung wurden wissenschaftlich untersucht. Mit welchem Ergebnis denn?
Rosendahl: Wir konnten jetzt erst mal ein paar Auswahlexemplare untersuchen, wir wollten wissen: Wie alt sind denn die Schädel? Selbst wenn sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesammelt wurden, konnten sie ja viel älter sein. Und so haben wir einen Schädel, der sogar etwa 400 Jahre alt ist, also es ist nichts Zeitgleiches aus dem Sammelbereich. Wir wollten wissen, stimmen denn die Zuweisungen, die so in den Dokumenten gegeben werden? Steckt da wirklich, wenn da Amazonien drauf steht, steckt das wirklich in dem Schädel drin?
Auch da haben wir Abweichungen gefunden, dass also nicht alle historischen Informationen, die dazu gegeben sind, auch stimmen. Und wir wollten natürlich wissen: Was sagen uns die Schädel hinsichtlich ihrer Individualinformationen? Waren es Männer, Frauen, Individualalter – so kann man entsprechend einer Sammlung vielleicht noch etwas zurückgeben, auch wenn sie über hundert Jahre alt ist.
Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Wilfried Rosendahl, er ist der Kurator der Ausstellung "Schädelkult" in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen. Jetzt kommen wir aber mal wirklich zu der Ausstellung, Herr Rosendahl: Was für Schädel oder auch Kopfpräparate gibt es denn da genauer zu sehen bei Ihnen? Sind die geschmückt, sind die verziert, oder worauf bezieht sich dieses Schädelkult?
Rosendahl: Also grundsätzlich zeigen wir die gesamte Bandbreite. Schädelkult ist für mich als Definition auch als Basis der Ausstellung der Kopf und Schädel des Menschen in seiner Kulturgeschichte. Das heißt auch, die kulturelle Benutzung und Handhabung und Wertschätzung des Schädels – sei es profan oder angebetet oder auch entsprechend anders genutzt. Wir zeigen vom ältesten Objekt, einem Neandertalerschädel mit drei Steinwerkzeugen drin gefunden, 170.000 Jahre alt, die gesamte zeitlich-geografische Breite bis nach heute, und dabei einige besondere Dinge, die bisher nie zu sehen waren.
Führer: Nämlich?
Rosendahl: Zum Beispiel übermodellierte Schädel aus Kolumbien, davon gibt es weltweit nur 18 Stück. Wir zeigen Nummer 19 …
Führer: Entschuldigung, was sind denn übermodellierte Schädel aus Kolumbien?
Rosendahl: Übermodellierte Schädel ist eine Form der Ahnenverehrung, dass man nicht den knöchernen, nackten Schädel entsprechend als Ahne verehren wollte, sondern hat ihn übermodelliert mit einer lehmigen, tonigen Paste, um so ihm ein annähernd lebendes Antlitz zu geben, also eine prominente Nase, ein Gesicht zu formen, und das ist eine weit verbreitete Form der Ahnenverehrung. Das finden wir vor 9.000 Jahren schon in Israel, auch dort haben wir eine bedeutende Leihgabe, die bisher noch nie aus Israel heraus gereist war. Und aus Kolumbien gibt es eben auch diese Tradition, und 18 Schädel waren bisher bekannt, alle liegen in Kolumbien, und wir können nun zwei Schädel zeigen, die bisher nicht bekannt waren.
Führer: Und Sie wollten noch mehr einzigartige Objekte aufzählen?
Rosendahl: Wie gesagt, übermodellierte Schädel aus Israel ist bedeutend. Wir haben heute erst angeliefert bekommen aus Athen einen mit Türkismosaik besetzten Schädel aus dem 15. Jahrhundert aus Mesoamerika. Das ist ein Schädel, von dem es weniger als zehn weltweit bekannt gibt, und dieser ist auch bisher nicht bekannt gewesen.
Führer: Also der Kult um den Schädel reicht ja offensichtlich sehr weit zurück, wenn Sie sagen, bis zu den Neandertalern. Aber was hatte dieser Kult jeweils zu bedeuten, wofür stand der Schädel? War das eine Trophäe, eine Reliquie – also, wenn er jetzt nicht als Trinkgefäß benutzt wurde?
Rosendahl: Das Trinkgefäß ist ganz selten dabei, das ist ganz eigentümlich vielleicht. Es gibt eigentlich zwei Grundtypten, die wir so ausgliedern können. Das ist einmal die Ahnenverehrung, also die Erinnerung an Verstorbene, dass man sich den Schädel entsprechend besonders positioniert, dass man ihn bereithält, dass er im Familienkreis ist, dass er geschmückt wird, dass man ihn mitnimmt, dass man drauf schläft, um einfach den Schutz des Ahnen noch zu haben und sich zu erinnern.
Und dann gibt es die große Gruppe der Trophäenschädel, also das Siegeszeichen, das man auch entsprechend zum Beispiel an der Wand des Hauses eines Dorfes positioniert, um zu zeigen: Ich bin der Kräftige, ich bin der Siegreiche. Und nicht selten ist dieses auch damit verbunden, irgendwo Leben zu nehmen als Begründung dafür, dass ich neues Leben schaffen darf. Auch das ist relativ häufig bereitet, es muss Blut fließen, damit neues Leben entstehen kann.
Führer: Kann man sagen, in welchen Kulturen, in welchen Gesellschaften besonders großer Kult um den Schädel gemacht wurde?
Rosendahl: Ozeanien ist ein geografischer Bereich, in dem sehr divers Schädelkult aufkommt. Hier finden wir sehr viele verschiedene Formen von schädelschmücken, übermodellieren, Ahnenschädel positionieren. Aber auch Europa ist, wenn man mal die unterschiedlichen Formen anguckt, wie hier der Schädel behandelt und verehrt wird, sehr divers, vielleicht sogar der Kontinent mit der diversesten Schädelkultkultur.
Führer: Können Sie mal ein Beispiel nennen?
Rosendahl: Na ja, wir haben die übermodellierten Schädel schon erwähnt – Israel ist jetzt nicht unbedingt Europa, aber im Randbereich –, wir haben aus Europa deformierte Schädel aus dem Frühmittelalter, wir haben in Europa Beinhäuser, in denen wir Schädel sammeln, wir haben in Europa die ganze Todeserinnerungskunst, die Vanitas-Motive in der Kunstgeschichte, wir haben die anatomischen Darstellungen des Schädels von Leonardo da Vinci, wir haben die Reliquienverehrung in der Kirche, wir haben das Modeaccessoire, was gerade ganz aktuell geführt wird.
Oder wir haben die Phrenologie, also die Charakterkunde des Schädels, die 1801 durch Franz Joseph Gall aufgebracht wurde, dass man an der Form des Schädels und seinen Eindellungen und Nischen erkennen kann, welchen Charakter ein Mensch hatte. Und das hat dazu geführt, dass man zum Beispiel Haydns Schädel oder auch Schillers Schädel hat sammeln wollen.
Führer: Würden Sie sagen, Herr Rosendahl, dass es heute noch so etwas wie einen Schädelkult gibt? Ich hatte jetzt so spontan gedacht, den meisten Menschen geht es so wie mir, wenn ich jetzt einen Totenschädel sehe, dann gruselt es mich eher.
Rosendahl: Wenn man so draußen durch die Stadt geht, könnte man meinen, Schädelkult ist aktuell. Es gibt Unmengen Embleme mit Schädeln, ob es T-Shirts, Schuhe oder Modelabels sind. Es gibt die schwarze Szene, die sich damit schmückt, vielleicht rein nur aus Provokation, vielleicht auch als Insignie, etwas zu beherrschen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ich hatte den Eindruck, dass gerade so in der letzten Zeit der Schädel als Bild uns wieder sehr häufig begegnet.
Führer: Nun könnte man natürlich auch sagen, Sie haben sich jetzt eine ganze Weile mit den Schädeln beschäftigt, Ihre Kollegen auch. Ist diese wissenschaftliche Beschäftigung mit den Schädeln nicht auch eine Art Kult?
Rosendahl: Finde ich auch. In dieser Definition, wie ich sagte, Schädel im Kulturbereich, ist es so. Deswegen thematisieren wir in der Ausstellung zum Beispiel auch Kriminalistik, Forensik, also Gesichtsrekonstruktionen. Ich finde auch, das ist ein Boom im Fernsehen oder in den Romanen, dass man mit Forensikern auf Knochensuche geht und was rekonstruiert und den Schädel wieder zum Leben erwecken muss, um ein Antlitz zu haben, um ein Phantombild zu schaffen. Und ich finde, auch die Suche nach unseren Vorfahren ist eine Kulturerscheinung jetzt gerade für uns, wer den ältesten, berühmtesten, vollständigsten Schädel des frühesten Urahnen findet, ist schon berühmt geworden damit.
Führer: Können Sie sagen, Herr Rosendahl, was Sie fasziniert an so einem Totenschädel?
Rosendahl: Ich finde, ein Totenschädel ist immer noch ein Gesicht. Er erinnert immer noch an das, was mal da war, weil er hat noch Augen, Nase und Mund, und viele Leute sagen ja auch – und ich finde es auch – ein Totenschädel guckt nie unfreundlich.
Führer: Wilfried Rosendahl, Kurator der Ausstellung "Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen", zu sehen in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim, und zwar ab Sonntag. Die Presse darf aber heute schon hinein, und deswegen gibt es in unserer Sendung "Fazit" ab 23 Uhr eine Ausstellungskritik. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch, Herr Rosendahl!
Rosendahl: Danke schön, bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Informationen der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zur Ausstellung "Schädelkult"