Ein tief gespaltener Deutscher

Rezensiert von Alexander Schuller |
Tilman Lahme zeichnet in "Golo Mann – Biographie" das Leben des Historikers und zweiten Sohnes des Schriftstellers Thomas Mann nach. Entstanden ist ein Porträt über einen verträumten und gütigen, zugleich tief gespaltenen Deutschen.
Adelshäuser, die über die Zeit und den Zeitgeist herrschen, gibt es in Deutschland nicht mehr. Die Manns waren ein solches Adelshaus. Thomas, der Herrscher, der Bruder Heinrich, sein radikaler Rivale, Katia, die Gattin und harte Herrin, und dann all die Kinder, jedes ein Unikat, mehr oder weniger genial, jedes auf seine Art weltfremd. Bildung und Politik, Rausch und Tod, das Ganze ein epochales Panorama. Terra incognita sind die Manns wahrlich nicht. Und doch ist der neueste Anlauf von Tilman Lahme gut platziert. Neben dem Vater Thomas ist Golo derjenige Mann, der die meisten Spuren hinterlassen hat. Wenn man nach einen Seismographen der Zeit und des Zeitgeistes Ausschau halten will, ist Golo der geeignete Fokalpunkt.

"Es fehlte nicht viel, so hätte zur Zange gegriffen werden müssen, da die Herztöne des Kindes schon schwach wurden.... Es soll Angelus, Gottfried Thomas heißen."

Geboren wurde Golo in dem Jahr, in dem sein Vater Thomas "Königliche Hoheit", sein einziges wirklich peinliches Buch, veröffentlichte, und Golo hieß der Säugling also auch nicht, sondern, Gott bewahre, "Angelus". Wie all seine Geschwister wurde Golo in eine faszinierende, gelegentlich absurde Familie geboren. Um diesen biographischen Dschungel trittsicher zu durchwandern, bietet Lahme einige Kategorien für dessen Erschließung an:

- Eine Deutsche Jugend (1909-1933),
- In der Emigration, (1933-1945/45),
- Zögerliche Rückkehr (1946.1958),
- Auf und Ab: "I am getting important" (1959-1971). (Das englische Golo-Zitat ist deswegen interessant, weil es dessen sprachliche Nähe zum Deutschen belegt, denn korrekt müsste es heißen: I am becoming important.)
und
- Späte Jahre: "Der eine Pfeil in meinem Köcher" (1971-1994).


Quer zu der chronologisch geordneten Biographie fokussiert Lahme auf psychodynamisch und zeitgeschichtlich bedeutsame Problembereiche im Leben seines Objekts. In seiner Salem-Zeit ist Golo der erratische, launische jüngere Bruder, der quengelige Rivale seiner älteren Geschwister Erika und Klaus. Golo beginnt als der Wankelmütige und entwickelt sich schließlich nach Studium und Promotion zum respektierten Intellektuellen, wie ihn mit zwiespältigem Stolz sein Vater nennt. Er liest und korrigiert die Schriften und Aufsätze von Vater Thomas und Onkel Heinrich, er ist Lektor und Berater. Anfangs begegnen ihm die anderen Männer in der Familie herablassend und gelangweilt. Aber mit Golos Promotion bei Jaspers ändert sich das: "Der Einzelne und das Ich in Hegels Philosophie". Das Thema und der Dr. phil. erzielen ihre Wirkung.

"Als Thomas Mann im Jahr 1937 eine eigene Kulturscheitschrift plante, überlegte man, wer die Redaktion übernehmen solle. Heinrich Mann plädierte für seinen Neffen Golo – und zog ihn ausdrücklich dem dank Sammlung erfahrenen Klaus vor. Golo sei reizend in seiner Gediegenheit und Zuverlässigkeit... Wozu ein anderer, wenn der Beste gleich im Hause ist. Golo bringt alles mit, das Wissen, das unentbehrlich ist, um eine Zeitschrift hoch zu bringen und die seelische Empfänglichkeit"."

Trotzdem wird Golo sein Leben lang mit einem schwankenden Selbstwertgefühl zu kämpfen haben, bis ins hohe Alter und bis in alle Sphären seines Lebens hinein.

""Golo Mann schwankte zwischen Niedergeschlagenheit und Selbstüberschätzung, rang mit sich und der Welt. ‚Daran, daß ich ein gescheiter Kerl bin, ist kein Zweifel, aber mir fehlt ein bestimmtes Talent.’ "

In zwei Bereichen seines Lebens lässt sich das besonders deutlich erkennen: seiner Sexualität und seiner Politik. In Salem hatte er gelernt, seine Homosexualität zu negieren. Auch wenn er sie als Erwachsener zu akzeptieren vermochte, blieb er doch unsicher. Den zweiten Bereich, die Politik, beherrscht eine eigenartige Mischung aus Leidenschaft und Wankelmut. Golo begann als – so hieß das damals wohl – Salonkommunist. Er war nirgends Mitglied, aber immer und auf Abruf politisch erregt. Er selbst sah sich als Sozialisten, jedenfalls so lange er im "Sozialistischen Studenten" publizieren konnte. Er war ein lautstarker Gegner der Nationalsozialisten, aber nicht so sehr aus politischen Gründen. Er hielt sie vor allem für verächtliches Pack – womit er ja wohl recht hatte. Interessant ist jedenfalls, dass schon damals wie auch jetzt wieder die Bedeutung des Vertrages von Versailles den intellektuellen Lackmus-Test abgab. Erst kürzlich hat ja der "Spiegel" seine Titelgeschichte dieser Frage gewidmet. Und der Publizist Ernst Cramer, selbst Flüchtling aus dem von Hitler beherrschten Deutschland, meinte, dass ohne Versailles "es Hitler wohl nicht gegeben" hätte. ("Die Welt", 9.07.09 Seite 8). Lange Zeit galt für Golo das unter Intellektuellen kursierende Klischee, dass die preußische Tradition den Humus für den Nationalsozialismus abgegeben habe. Erst allmählich begann Golo Versailles als wesentliche Ursache für den Aufstieg Hitlers zu verstehen, eine Erkenntnis, die auch heute noch – selbst nach dem 20. Juli - nicht allen Publizisten und Wissenschaftlern zur Verfügung steht.

""War er noch in Deutschland seit der Salemer Zeit für eine bedingungslose Absage jeglicher Militäreinsätze, für Kriegsdienstverweigerung und Kriegssabotage eingetreten, so kritisierte er nun die pazifistische Grundhaltung"."

Er vertrat gegen Ende seines Lebens immer offener realpolitische Positionen, die ihn in die Nähe von Helmut Schmidt, Franz-Joseph Strauß und Ernst Jünger rückten – damals noch Horrorfiguren der links-öffentlichen Meinung. Dass Golo Mann daraufhin einem Kesseltreiben ausgesetzt wurde, konnte er, der glaubte in einem Land der Meinungsfreiheit zu leben, nicht einordnen. Viele seiner Freunde versuchten ihn, wenn auch mit eigenartig opportunistischen Argumenten - oft genug mit latenten Drohungen - auf den herrschenden Zeitgeist einzuschwören.

Tilman Lahme hat einen schönen, langen Text über einen verträumten und gütigen, zugleich tief gespaltenen Deutschen geschrieben, über einen der Deutschen, von denen es früher mehrere gegeben haben mag.

Tilman Lahme: Golo Mann – Biographie
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2009
Tilman Lahme: „Golo Mann – Biographie“
Tilman Lahme: „Golo Mann – Biographie“© Verlag S. Fischer