Ein schier unglaubliches Leben

Diktatur ist Diktatur - ob rot oder braun, findet Erwin Jöris.
Diktatur ist Diktatur - ob rot oder braun, findet Erwin Jöris. © Deutschlandradio
Rezensiert von Hans-Joachim Föller · 01.04.2013
Vom Faschismus in die kommunistische Dikatur, aus den Fängen Hitlers ins sowjetische Arbeitslager. Das hat Erwin Jöris erlebt. Heute lebt er als 100-Jähriger in Köln. Der Berliner Historiker Andreas Petersen hat diese Lebensgeschichte aufgeschrieben.
Was für ein Leben! Im Rückblick liest es sich wie ein Bildungsroman: Geboren im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg, Jungkommunist in der Weimarer Republik, Wehrmachtssoldat, Häftling in Workuta und zuletzt Bundesbürger. Das alles war und ist Erwin Jöris - einer der letzten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts und seiner totalitären Versuchungen.

In Berlin-Lichtenberg kam er als Sohn eines Maschinenschlossers zur Welt. Sein Vater, ein Spartakist, kämpfte nach dem Ersten Weltkrieg für eine Räterepublik. Der Sechsjährige sah aus dem Fenster der elterlichen Wohnung den langen Trauerzug für die ermordeten Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Damals wurden sie seine Vorbilder.

Noch während seiner Tischlerlehre trat er dem Kommunistischen Jugendverband bei und wurde Straßenkämpfer. Das war 1928. Wenig später verdüsterte sich die politische Szenerie. Nationalsozialisten und Kommunisten kämpften um den öffentlichen Raum - und schwächten die Republik.

Erste Zweifel kamen ihm, als einer Direktive aus Moskau die SPD beschuldigte, sozialfaschistisch zu sein, und zum ärgsten Feind der KPD erklärte. Dann war es zu spät. 1933, nach er Machtergreifung der Nazis, zittert er um sein Leben. Versteckt hinter einer Litfasssäule beobachtet er grölende SA-Männer und wollte seinen Augen kaum glauben.

Ehemalige Kameraden marschierten mit der SA

""Was ich da dann gesehen habe, hat mich bald umgehauen. Da sah ich ehemalige Kameraden – und zwar ehemalige Radikalinskis aus dem KJVD - in den Reihen der SA marschieren. Am liebsten hätte ich ja gebrüllt. Pfui Teufel ihr! Ich wollte eben was sagen. Ihr Lumpen! Nicht? Aber ich war zufrieden, dass ich noch einmal davon kam. Und so war es dann täglich in den Straßen kreuz und quer. Es war auch nicht so wie es immer heißt, dass Hitler mit Gewalt an die Macht kam. Die Bevölkerung hat ihn ganz schön unterstützt.""

Doch lange kam er nicht mehr ungeschoren davon, wurde verhaftet, in eine SA-Kneipe verschleppt und verprügelt, weil er kommunistische Treffpunkte nicht verraten wollte.

""Und dann haben sie ein Zeichen gegeben zu den übergelaufenen Kommunisten. Und dann haben die mit den Füßen und mit den Fäusten auf mir rumgedonnert, die Übergelaufenen. Mit den Worten: 'Das hast du Schwein dir wirklich nicht vorgestellt'. Das einzige, was ich noch sagte, war: 'Nee, das habe ich mir wirklich nicht vorgestellt.'""

Wenig später fand er sich im ersten Konzentrationslager wieder, dem KZ Sonnenburg bei Küstrin - heute Polen, zusammen mit fast allen leitenden kommunistischen Funktionären Berlins. Dort begegnete er Carl von Ossietzky und Erich Mühsam. Nach sechs Monaten Lagerhaft kehrt er zurück.

Von der KPD wird er in die Sowjetunion beordert. Mit seinem Hang zu eigenständigem Denken und seinem Berliner Witz eckt er dort bald an. Die kommunistische Jugendschule darf er deshalb nicht besuchen, sich aber in Swerdlowsk in der Produktion bewähren.

In den vier Jahren von 1934 bis 1938 staunt er über die ärmlichen Lebensbedingungen russischer Arbeiter und erlebt die Zeit der großen stalinistischen Säuberungen. Schätzungsweise 70.000 Menschen fielen allein in zwei Jahren den planmäßigen Mordaktionen zum Opfer, darunter auch deutsche Kommunisten – und zwar mehr als unter Adolf Hitler, wie der Autor Andreas Petersen festhält.

Er gilt als vom Kommunismus geheilt

All die Jahre war Erwin Jöris von Spitzeln und Denunzianten umgeben. Er wird wegen trotzkistischer Ansichten und Spionage für die Gestapo verhaftet, kommt in das berüchtigte NKWD-Gefängnis Lubjanka nach Moskau, wird überraschend in das Deutsche Reich abgeschoben, wo er sogleich im Gefängnis landet. Den Nazis gilt er als vom Kommunismus geheilt und wird bald entlassen.

Seinen Genossen sagte er damals, dass ihn der Hitler-Stalin-Pakt, der den Auftakt zum Zweiten Weltkrieg bildete, nicht überrascht habe.

""Ich hab immer gesagt, die arbeiten schon lange zusammen. Da braucht ihr euch gar nicht wundern. Das habt ihr mir ja nicht geglaubt.

Aber die uralten Kommunisten, die haben das begrüßt. Die haben dann gleich die Wandlung gehabt. Und das musste sein. Die Sowjetunion, die ist ja für den Frieden."
"

Wenig später musste er als Sanitätssoldat in einen Krieg, den er immer verhindern wollte, aber nur mit viel Glück überlebte. Schwer verwundet schleppt er sich in ein sowjetisches Gefangenenlager. 1946 zurück in Berlin, zeigte er sich doch nicht geheilt vom Kommunismus. Er wurde KPD-Mitglied und als solches später SED-Genosse.
Doch kam ihm bald wieder sein Eigensinn in die Quere. Er wollte sich Apparatschiks wie Walter Ulbricht nicht fügen und kritisierte die rasche Integration alter Nazis in die Sozialistische Einheitspartei, sprach offen von den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion. Das bringt ihn 1950 in das berüchtigte sowjetische Straflager nach Workuta. Das Urteil lautet: 25 Jahre Zwangsarbeit.

Aufgrund von Stalins Tod und Adenauers Verhandlungen ist er 1955 wieder zuhause bei seiner Frau. Beide setzen sich wenig später in den Westen ab und lassen sich bald in Köln nieder.

Diktaturen setzt er gleich

""Wenn ich darüber urteilen soll, ob die Diktaturen sich gleichen, dann sage ich ja. Die eine war die braune Diktatur, die andere war die rote. Die haben verschiedene Methoden gehabt, aber im Grunde genommen waren sie doch gleich. Auf beiden Seiten gab es doch nur Redeverbot, Diktatur, Bevormundung. Alles, was eigentlich der freie Mensch braucht, das gab´s doch da gar nicht.""

Ungeschminkt setzt er Diktaturen gleich – ob nun braun oder rot. Er hat sie erlebt und erlitten. Solche Schicksale sind es, die den Berliner Historiker Andreas Petersen interessieren.

Darum hat er die Erinnerungen eines Menschen aufgeschrieben, der an den Kommunismus glaubte, aber aus Erfahrungen lernte. Rückblickend liefern beide, der Autor und sein Zeitzeuge, eine vernichtende Kritik an der linken Utopie der Zwangsbeglückung. Gerade diese Konfrontation macht das Buch lesenswert. Und spannend ist es obendrein.

Cover Andreas Petersen: "Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren"
Cover Andreas Petersen: "Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren"© Marix Verlag
Andreas Petersen: Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren
Ein Jahrhundertdiktat. Erwin Jöris

Marix-Verlag, Wiesbaden 2012
520 Seiten, 24,90 Euro