Ein rätselhafter Begriff

Rezensiert von Alexander Schuller |
Dekadenz ist rätselhaft und bedrohlich, schmeckt nach Proust und fin de siècle, nach Luxus und Polemik, nach moralischer Verkommenheit und unerbittlicher Strafe. Dekadenz konfrontiert uns mit uns selbst. Das Merkur-Sonderheft befasst sich in 25 Beiträgen mit diesem Begriff.
Es gibt Begriffe, die kommen und gehen und kommen nie wieder. Sie sagen uns, wer wir waren, aber sie sagen uns nicht, wer wir sind. Tempi passati. Doch es gibt auch andere Begriffe. Die ziehen sich zurück, lauern im Dunklen und sind plötzlich wieder da - anmaßend oder verschämt, verwirrend oder freundlich - manchmal als wutschnaubender Rache-Engel. Dekadenz ist ein solcher Begriff. Und er ist wieder da, rätselhaft und bedrohlich. Er schmeckt nach Proust und fin de siècle, nach Luxus und Polemik, nach moralischer Verkommenheit und unerbittlicher Strafe. Er konfrontiert uns mit uns selbst. Zur Eröffnung des Merkur-Sonderheftes über Dekadenz befragt dessen Herausgeber Karl Heinz Bohrer die Leser nach der deutschen Identität.

"Der Wille der deutschen Bevölkerungsmehrheit, befragt, ob sie das Land im Falle einer feindlichen Invasion zu verteidigen bereit sei, ist so dubios, dass man den vor einigen Jahren bekannt gewordenen Satz eines namhaften Universitätsphilosophen - "Lieber rot als tot" - inzwischen als eine Regel zu nehmen hat: lieber die Besetzung des Landes hinnehmen, als bei seiner Verteidigung sterben. (…)Die berühmte Formel hierfür lautete: Von deutschen Boden darf nie wieder Krieg ausgehen."

Aber diese modische deutsche Dekadenz agiert nicht nur als moralische oder als polemische Kategorie, sondern auch als ein - in der Sprache der Aufklärung - geschichtsphilosophischer und ein - in der Sprache des Mythos - sakraler Begriff. Die Angst vor Lähmung und Verfall verbarg sich schon immer hinter dem Begriff der Dekadenz. Waren nicht schon der biblische Sündenfall und der Abschied vom Paradies die Beschwörung einer solchen Dekadenz? Überhaupt ist jegliche Sünde ja ein Abfall von Gott und dem Guten und damit dekadent. Zugleich formuliert der Begriff - dialektisch gewendet - eine Idee von Fortschritt, sogar von Hoffnung.

Das Feuer des Prometheus ist Emanzipation, Aufruhr, Befreiung. Die Emphase und das Gemetzel von Stalin und Mao setzen ihren chiliastischen Hoffnungen einen Begriff von Dekadenz voraus. Verfall und Fortschritt, Verzweiflung und Hoffnung, Ohnmacht und Macht bedingen einander. Das eine ist des anderen Widerhall und Bedingung.

Dieser Wille zur Macht ist oft realpolitisch, militärisch gar verstanden und damit missverstanden worden. Für Nietzsche geht es am Ende des 19. Jahrhunderts, in den Umbrüchen des neuen imperialen Deutschland, eigentlich um das genaue Gegenteil: um Selbstbesinnung und Selbstbewusstsein, um die Rückgewinnung der diffus gewordenen geistigen Macht, um Identität. Die berühmte blonde Bestie - eine ziemlich Rousseau’sche Figur - ist die Metapher für diesen radikalen Neubeginn. Mit ähnlichen Kategorien ging es auch anderen besonders deutschen Denkern um einen solchen Neubeginn. Freuds Kampf gegen die Verdrängung darf man als Suche nach Authentizität und neuer Kraft verstehen. Schließlich zielt auch die marxistische Ideologiekritik in diese Richtung. Diesen Denkern geht es nicht um materielle und ökonomische, sondern um geistige Macht.

Darum geht es auch in dem Beitrag von Norbert Bolz, "Die Religion des Letzten Menschen". Bolz stellt uns den berühmten Text "Also sprach Zarathustra" als Verhöhnung des deutschen Sozialstaatsbürgers vor:

"Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühl über alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesentum."

Der Mensch sei zum Haustier verkümmert, folgert Bolz mit Nietzsche.

"In dieser Welt herrscht das Rentnerideal freiwilliger Knechte, die Nietzsche mit größter Präzision als ‚autonome Heerde’ beschrieben hat… Dekadenz wird nicht mehr als Not, sondern als lebenskluge Bequemlichkeit erfahren… Dekadenz heißt politisch: die soziale Frage. Genauso wie sich die Heuchelei des 19. Jahrhunderts um das Sexuelle drehte, dreht sich die Heuchelei des 20. Jahrhunderts um das Soziale. Es ist das Gott-Wort unserer Epoche. Man muss heute nur das Zauberwort "Selbstverwirklichung" und "soziale Gerechtigkeit" aussprechen, um die Massendemokratie in politische Trance zu versetzen und alle Widerworte zum Schweigen zu bringen."

Wenn es um Untergansszenarien geht, dann ist der Untergang der Nibelungen - zumindest im deutschen Denken - nicht zu umgehen. Herfried Münkler nutzt ihn, um seine These vom Helden als einer notwendig tragischen Figur zu erläutern.

"Der notorische pessimistische Tonfall aller Heldendichtung greift auf das heroische Bewusstsein über: Heroische Gemeinschaften sind von einer tragischen Grundstimmung durchzogen, die Helden begreifen sich als die letzten oder doch vorletzten ihrer Art; um sie herum breiten sich unheroische Einstellungen aus, gegen die man zwar Widerstand leisten kann, denen man letztlich aber unterliegen muss."

Das ist eine erstaunliche Sicht. Alexander der Große, the Duke of Marlborough, George Washington, Friedrich der Große, Columbus, Dschingis Khan, die Stammesführer der Völkerwanderung - alle umflort von einer "tragischen Grundstimmung"? Das Gegenteil ist wahr: sie sind erfüllt von der Euphorie des Sieges, süchtig nach Zukunft, trunken mit einem geradezu jungfräulichen Willen zur Macht. Münkler verbeißt sich in seine eigenartige, provinziell deutsche, These noch weiter.

"Das Selbstbewusstsein des Heroischen ist unglücklich. Es ist vergangenheitsfixiert und rückwärtsgewandt, weil es ihm an Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft mangelt. Der dem Heroischen eingeschriebene Gedanke des Opfers ist offenbar zu einem positiven Blick in die Zukunft wenig geeignet."

Diese These ist als generelle These Unsinn, in einem spezifischen Fall aber von aufschlussreicher Bedeutung. Münkler beschreibt als typischen Helden: Adolf Hitler. Aber er merkt es nicht. Vielleicht besteht in dieser unschuldigen Fehlleistung des Autors Herfried Münkler der letztlich entscheidende Beitrag zu dem Band über Dekadenz.

Die Lektüre der 25 Beiträge hinterlässt insgesamt einen ambivalenten Eindruck. Wenn man den verlockenden Titel des Sonderheftes als Maßstab nimmt, dann handelt es sich eine wohlmeinende, aber doch eher beliebige Rundreise. Die Beiträge stammen von den üblichen ‚Merkur’-Autoren und sind von unterschiedlichem Niveau. Der Eindruck, dass eher fahrig lektoriert wurde, drängt sich auf, eigentlich ein halbfertiges Heft. Wer aber seinen Sinn für "work in progress" wachzukitzeln vermag, wird sich dann doch über einzelnes freuen können. Mich persönlich hat der bildungssatte, gelassen formulierte Beitrag von Alexander Demandt am meisten angesprochen. Wozu Oswald Spengler mehr als 1000 Seiten braucht - das fasst Demandt in 14 Zeilen und fünf lakonischen Thesen zusammen.


Kein Wille zur Macht. Dekadenz
Hrg. Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel

Sonderheft 700 Merkur (Berlin), Verlag Klett-Cotta, 2007