Ein "Pippi-Langstrumpf-Werk" für Erwachsene

Rezensiert von Jochen Thies |
Zunehmende Entfremdung und soziale Verwahrlosung diagnostiziert der ehemalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye in der deutschen Gesellschaft. Darum versetzt er sich in seinem Buch "Gewonnene Jahre" per Zeitsprung ins Jahr 2019 und beschreibt in Briefen an seinen Sohn eine Welt, wie sie besser sein könnte.
Uwe-Karsten Heye, der ehemalige Regierungssprecher von Gerhard Schröder, hatte eine gute Idee. Der Mittsechziger, vor wenigen Jahren stolzer Vater eines Sohnes in zweiter Ehe geworden, hat ein bunt gemischtes Buch vorgelegt, eine Art von "Pippi-Langstrumpf-Werk" für Erwachsene. Es handelt von allem und jedem, und man könnte es auf den Haufen der sogenannten Instant-Books werfen, der uferlosen Zeitgeistliteratur, wenn die Idee nicht umwerfend gut wäre.

Heye unternimmt einfach einen Zeitsprung, versetzt sich ins Jahr 2019 und schreibt an seinen Jungen, der dann, wenn alles normal verläuft, als Halbwüchsiger auf ein Gymnasium in Potsdam gehen wird, wo die Heyes nach dem windungsreichen Parcours eines langen Journalistenlebens mittlerweile wohnen.

Der Sohn von Heye heißt Tom. Ein zärtlicher Vater schreibt über ihn weiter:

"Seit fünf Jahren tobt er also durch unser Leben, und bei der Arbeit an diesem Manuskript ist mir noch einmal klar geworden, wie sehr sich mit ihm mein Leben verändert hat. Ich habe mit ihm auf einer neuen Zeitachse Jahre dazu gewonnen. Und ich finde Zugang zu Menschen, denen ich ohne ihn nie begegnet wäre: Hätte ich beispielsweise jemals wieder einen Kindergarten betreten?

ch bin ziemlich sicher, dass ich ohne Tom nicht mit so gespannter Aufmerksamkeit in die Gesellschaft hineinhören würde. Jede Nachricht über alleingelassene und psychisch oder physisch verwahrloste Kinder erschüttert mich aufs Neue, ich kann dann nur schwer wieder zur Tagesordnung übergehen. Mit diesem kleinen Sohn richtet sich mein Blick auch schärfer auf all die Unwuchten im Gefüge der Welt, die das Leid derer verursachen, die so unendlich abhängig sind von Zuwendung und Vertrauen: Kinder.

Die Kinder von heute werden in der Zukunft mit der Welt umzugehen haben, die ihnen von der derzeit verantwortlichen Erwachsenengeneration hinterlassen wird."

Heye begründet danach, warum er auf den Buchtitel "Gewonnene Jahre" gekommen ist. Er liefert eine sehr plausible Erklärung:

"Der Titel 'Gewonnene Jahre' ist doppeldeutig. Er steht für mein Lebensgefühl und das meiner Frau, das so sehr geprägt ist von Tom, dessen Selbstbewusstsein derzeit geradezu platzt, weil er im Handumdrehen Fahrradfahren gelernt hat. Es steht aber auch für den Gewinn von rund einem Jahrzehnt an aktiven Lebensjahren, die heute ein 6o-Jähriger zusätzlich zur Verfügung hat, vergleicht man seine geistige und körperliche Konstitution mit einem Gleichaltrigen in den 8oer-Jahren. Ja, ich betrachte diese zusätzlichen Lebensjahre als Gewinn - persönlich, für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft. Wir müssen diese Jahre nur sinnvoll für alle nutzen.

Nach meiner festen Überzeugung haben wir in der alternden Gesellschaft die einmalige Gelegenheit, die Qualität unseres sozialen Miteinanders zu überprüfen und durch die Begegnung der Generationen wieder eine Lebensqualität zu ermöglichen, die der spürbaren Entfremdung und sozialen Verwahrlosung, wie sie derzeit in steigendem Maße zu besichtigen sind, entgegenwirkt."

Sodann macht man sich an die Lektüre des Buches, das - soviel sei gesagt - keine allzu großen Überraschungen bietet, jedoch in gewisser Weise die Gedankenwelt der deutschen Baby-Boomer-Generation, die in etwa mit den 68ern zusammenfällt, auf sympathische Weise wiedergibt.

Darüber hinaus ist Heyes Buch interessant, weil es auch den Lebensweg eines Flüchtlingskindes erzählt, das sich in der Bundesrepublik durchsetzte und an der Seite von Gerhard Schröder eine große berufliche Karriere zurücklegte. Heye wurde vom Ex-Kanzler später für seine Dienste belohnt, unternahm einen Ausflug in die Welt der Diplomatie und wurde Generalkonsul der Bundesrepublik in New York. Auch darüber berichtet er ebenso wie über interessante Momente mit Schröder und Steinmeier im Bundeskanzleramt.

Je länger er schreibt, umso öfter vergisst Heye das Motiv, mit dem er gestartet ist. Das Temperament als politischer Journalist reißt ihn fort, er sieht - bildlich gesprochen - seinen Sohn nur noch selten. Aber wenn er an ihn denkt, wenn der Junge vielleicht bei ihm im Arbeitszimmer ist, dann ist Heye am besten.

"Es freut mich, dass Dir die Schule Spaß macht und Dir das Internat sogar unvermutete Anregungen gibt. Interessant, was Du über die Schulpaten schreibst, die sich für Ergänzungsunterricht zur Verfügung stellen. Ich selbst habe hier eine Schulpatenschaft für zwei Schüler übernommen, die dringend Nachhilfe in Deutsch brauchen. Die Familie des einen ist erst vor wenigen Monaten aus Bangladesch gekommen und die des anderen aus dem Libanon. Ich hole sie dreimal in der Woche von der Schule ab. Es hat nur wenige Tage gedauert, dass wir zueinander Vertrauen fassen konnten."

Danach gerät Heye, der sich neben anderen Aufgaben darum bemüht, die SPD-Zeitung "Vorwärts" am Leben zu erhalten, ins Schwärmen:

"Endlich steht nicht mehr das Auto, sondern das Leben der Familien im Mittelpunkt der sozialen Stadtentwicklung. Endlich können Kinder wieder ungefährdet Straßen und Plätze erobern. Ihr fröhlicher Lärm ist wieder zu hören. Welch ein wunderbares Geräusch. Und ganz nebenbei wurde mit dem Rückbau zur menschlichen Stadt auch die Anonymität des Zusammenlebens abgebaut. Die Städte sind sicherer geworden, Kinder haben es besser in der Obhut einer kinderfreundlichen Gesellschaft."

Deutschland im Jahre 2019. Hoffentlich behält Heye Recht.

Uwe-Karsten Heye: Gewonnene Jahre
Karl Blessing Verlag, München 2008
Uwe-Karsten Heye: Gewonnene Jahre
Uwe-Karsten Heye: Gewonnene Jahre© Blessing Verlag