Ein mutiger Ideologiekritiker

Von Michael Schornstheimer |
Der geläufigen Lesart nach geht der Machiavellist über Leichen, Macht bedeutet ihm alles, Moral nichts. Wer war der historische Niccolò Machiavelli wirklich? Volker Reinhardt, Historiker an der Universität Fribourg, wagt eine neue Deutung.
Sein Vater war ein kleiner Rechtsanwalt. Er stammte also keineswegs aus einer vornehmen Patrizierfamilie. Dennoch wählte der Rat der Republik Florenz den 29-jährigen Niccolò Machiavelli zum Kanzleichef. Ein beachtlicher Posten für einen jungen Mann. Damit wurde er zu einer Art diplomatischer Unterhändler.

Das brüchige Machtgefüge zwischen republikanischen Stadtstaaten, Fürstentümern und Kirchenfürsten stand ständig unter Spannung. Allianzen zerbrachen. Neue Feindschaften entstanden. Neue Krisenherde. Da war es gut, wenn man jemanden vorschicken konnte, der die Lage sondierte.

Wie sollte sich beispielsweise Florenz gegenüber seinen rebellischen Untertanen in Arezzo verhalten? Nach langem Widerstand hatten diese die Waffen gestreckt. Wie sollte es jetzt weitergehen?

"Machiavellis Antwort lautete: auf keinen Fall so, wie es Florenz gemacht hatte. Die Republik hatte die Einwohner von Arezzo bestraft und dadurch entehrt, doch nicht am Boden zerstört. Verständlicherweise sannen die Geschlagenen auf Rache, was Florenz zu erhöhter Wachsamkeit zwang und dadurch teuer zu stehen kam. Entweder man warf die Rebellen so nieder, dass sie sich nie wieder erheben konnten; zu diesem Zweck eliminierte man die Eliten und deportierte ganze Völkerschaften. Oder man erwies ihnen Wohltaten und band sie dadurch dauerhaft an sich."

Die Eliten ausrotten, die Bevölkerung deportieren. Solche Vernichtungsstrategien kommen uns bekannt vor. Tatsächlich hätten sich die Nationalsozialisten gut auf Machiavellis Ratschläge berufen können. Und auch die menschenverachtende Politik Stalins erscheint durch die Brille Machiavellis fast in einem rationalen Licht.

"In politischen Prozessen geht es nicht um Schuld oder Unschuld. Sie sind vielmehr ein notwendiges Mittel, um den Großen selbst eine heilsame Furcht vor dem Staat und seinen Gesetzen einzuflößen. Vor diesen sind an sich alle gleich. Doch da die Vornehmen eher dazu neigen, die Verfassung zu missachten, müssen sie vorsorglich angeklagt und verurteilt werden können, allein zur Warnung und zur Abschreckung."

Machiavellis Ansichten sind unbestritten rücksichtslos und brutal. Aber sollte man seine Person und sein Denken deshalb ignorieren? Der Historiker Volker Reinhardt meint: nein! Er möchte mit seiner Biografie herausfinden, wie Machiavelli zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu den Ideen kam, die heute noch Machtstrategen in aller Welt beschäftigen.

Das Florenz, in dem Machiavelli lebte, war formal zwar eine Republik. Tatsächlich aber beanspruchten die Patrizier alle Führungspositionen. Allen voran die Familie der Medici. Der Staat war ihre Beute. Vetternwirtschaft, Korruption und Bestechung waren das politische Schmieröl. Dagegen empörte sich Machiavelli:

"Politiker, die sich um den Staat verdient gemacht haben, tun nichts als ihre Pflicht; dauerhafte Vorrechte oder gar eine Vorrangstellung, geschweige denn Straffreiheit bei Verstößen gegen die Gesetze dürfen sie daraus nicht ableiten. Macht gewinnt man im Namen des Staates und auf Zeit, danach gibt man mit dem Amt auch die Macht zurück und wird wieder einfacher Bürger unter Bürgern."

Der korrupten Wirklichkeit hielt Machiavelli sein Idealbild der Republik entgegen. Vorbild war ihm dabei das antike Rom, das er verherrlichte. Das alte Rom war sein blinder Fleck. Denn ob die römische Republik wirklich so viel besser funktionierte, war ja keineswegs ausgemacht.

Volker Reinhard sieht in Machiavelli vor allem einen mutigen Ideologiekritiker. Der sich traute, seine Dienstherren durch ironische bis sarkastische Stellungnahmen zu provozieren. Der unerschrocken an Tabus rührte. Und auch nicht haltmachte vor den Privilegien der Kirche. Von seiner Kritik nahm Machiavelli selbst einen Papst wie Julius den Zweiten nicht aus.

"Der Papst ist ein hochfahrender und hochgemuter Herr. Er will, dass die Macht der Kirche unter seiner Regierung zunimmt, statt weiter abzusinken. Wenn es darum geht, seine Versprechungen zu halten, wird der Papst Schwierigkeiten bekommen, denn viele von diesen Zusagen widersprechen einander."

Machiavelli kritisierte ohne Rücksicht auf Verluste. Es kam ihm nicht darauf an, Karriere zu machen oder reich zu werden. Nachdem die ihm verhasste Familie der Medici aus dem Exil zurückgekehrt war, verlor er sein Amt. Und damit sein Einkommen. Es schien, als würden die Medicis seine einstigen Ratschläge befolgen, allerdings nur auf ihn, Machiavelli, gemünzt. Sie demütigten ihn weiter, bis er am Boden lag. Fortan durfte er noch nicht einmal mehr den Regierungspalast betreten.

Und da sein Name auf einer Liste von Verschwörern auftauchte, wurde er verhaftet und verhört. Die meisten Verhafteten bekannten spätestens nach vierfacher Folter alles, was ihre Peiniger von ihnen hören wollten. Machiavelli widerstand der Folter sechs Mal, ohne sich schuldig zu bekennen. Dass er wieder freigelassen wurde, verdankte er allein einer Amnestie, weil Giovanni de'Medici zum Papst gewählt wurde.

Erst als Privatier kam Machiavelli dann dazu, seine berühmt gewordenen Bücher zu schreiben, "über den Fürsten" und über die "Kriegskunst". Auch eine Geschichte über Florenz verfasste er sowie etliche Komödien.

"Nicht nur Machiavellis Idealfürst blieb aus, auch die von ihm erträumte Republik wurde niemals Wirklichkeit. Nicht den Reichsstädten, sondern den fürstlichen Territorien gehörte die Zukunft in Deutschland. Nicht der Rückgriff auf das altrömische Heidentum, sondern die Rückbesinnung auf das frühe Christentum prägte das Zeitklima."

Dass sich Niccolò Machiavelli so sehr in die Idee des starken Staates verbiss, liegt, wie sein Biograf meint, vor allem daran, dass der Staat seiner Zeit zu schwach war, um Recht und Gesetz zu garantieren. Volker Reinhardt hat eine flüssig lesbare Biografie über einen intellektuellen Außenseiter geschrieben, ohne diesem zu verfallen.

Volker Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie
C.H.Beck Verlag, München 2012
Cover: Machiavelli oder die Kunst der Macht
Cover: Machiavelli oder die Kunst der Macht© C.H.Beck Verlag