Marcel Beyer ist vielfach ausgezeichneter Lyriker, Erzähler und Romancier, Hörspielautor und Opernlibrettist, Essayist und Herausgeber. Seit mehr als 20 Jahren lebt er in Dresden.
Der Trost der Wölfin
02:24 Minuten

Die AfD hat den Wolf als Wahlkampfthema entdeckt. Das Eindringen einer fremden Gefahr in den Kulturraum erinnert nicht von ungefähr an die Rhetorik im Zusammenhang mit Flüchtlingen.
            
            
            
          Der Trost der Wölfin
              Worin der Trost der Wölfin liegt, wenn
              sie auf ihrem morgendlichen Weg
              zurück ins Unterholz den eingeschlafenen
              Mann dort oben auf dem Hochsitz
              kurz betrachtet, ein, zwei Minuten, bevor
              das erste Licht des Tages sich in
              den Tautropfen bricht – ich weiß es nicht.
              Worin der Trost der Wölfin liegt,
              wenn er, er hat geniest, hat sich am Kopf
              gekratzt, herabsteigt und einen
              Augenblick am Fuß der Leiter steht, als
              suche er nach Orientierung auf dem
              Stoppelfeld, und vor sich hin redet, als säße
              ihm ein Traum noch im Genick – ich
              weiß es nicht. Kann sein, sie sieht etwas in
              ihm, das keiner seiner Jägerfreunde,
              das nicht einmal er selber sieht – als gäbe
              es, jetzt ist die Sonne da, etwas wie
              einen raschen Schattenwechsel auf seinem
              Gesicht, als wechsele auch er nun
              von der Nacht zum Tag. Er drückt noch
              mal den Oberkörper durch, er beugt
              die Knie, er schultert das Gewehr und stapft
              davon zu seinem SUV. Er kehrt in seine
              Welt zurück – kann sein, er führt die größte
              Legehennenbatterie hier in der Gegend,
              kann sein, es zieht ihn in die Politik,
              fünf Marktplätze heute in Sachsen oder
              Brandenburg, danach ist er erledigt. Kann
              sein, mehrmals vergißt er, wem diese
              Hand gehört, die einem Kind ein Fähnchen
              überreicht, kann sein, er möchte sich
              verkriechen, als die Kapelle "Weil mein
              Schatz ein Jägermeister ist" anstimmt
              und ihm sein Referent den Ellbogen sanft
              in die Seite schiebt, da er bei "grün, grün,
              grün" schon wieder nicht mitsingt, kann
              sein, er pennt mit offenen Augen, wenn
              er seine Rede hält. Kann sein, er denkt dabei
              an eine Wölfin, die er niemals sehen wird.
              
Büchner-Preisträger Marcel Beyer vor der Preisverleihung am 5. November 2016 im Staatstheater Darmstadt© dpa / picture alliance / Andreas Arnold
                  





