Ein lupenreiner Autokrat

Rezensiert von Joachim Jauer · 02.03.2008
Detailliert und kenntnisreich beschreibt der britische Journalist Edward Lucas, wie Wladimir Putin seine Macht mit einem Netzwerk von ehemaligen KGB-Kollegen und jetzigen Spitzeln sicherte und ausbaute. Immerhin, so Lucas, geht es einigen Russen jetzt wirtschaftlich so gut wie nie zuvor. Auch herrscht mehr Ordnung als zu Zeiten Jelzins. Doch der Preis dafür ist die fehlende "echte" Demokratisierung Russlands.
Aktueller kann ein Buch kaum sein. Hätte es in Russland einen echten Wahlkampf um das Präsidentenamt gegeben, wäre dies die umfangreichste Stoffsammlung für Kandidaten der Opposition, die beste Argumentationshilfe gegen Putin und Co. Leider wird das erst aus dem Untertitel des Buches von Edward Lucas klar. Denn der deutsche Titel "Der Kalte Krieg des Kreml" lässt eher auf ein Geschichtsbuch über die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schließen. Das englische Original hat der Autor "The New Cold War" - der neue Kalte Krieg - überschrieben und das kommt der Sache dann doch viel näher.

Der historische Begriff "Kalter Krieg" ist mit der Erinnerung an den Eisernen Vorhang, kommunistische Unterwanderungsversuche in Westeuropa, Asien und Afrika, Breschnew-Doktrin sowie Wettrüsten in West und Ost bis zum vielfachen atomaren Overkill belegt. Vorsicht bei der Wiederverwendung des Begriffs "Kalter Krieg" scheint mir angebracht, denn die beängstigende militärische Bedrohung der früheren Sowjetunion ist nun rund zwei Jahrzehnte vorbei.

Was der britische Journalist allerdings unter dem Begriff "Neuer Kalter Krieg" zusammengetragen hat, macht auf andere Weise äußerst besorgt. In neun Kapiteln wird das "System Putin" mit einer Fülle von Beispielen aus Politik, Wirtschaft, Justiz, und Medien erläutert. Als lupenreiner Autokrat wird der Kreml-Herr dargestellt, der auch nicht davor zurückschreckt, mit Hilfe alter KGB-Kumpane und einem Netzwerk der neuen Sicherheitspolizei FSB zu regieren. Scharf zeichnet Edward Lucas das Gesicht des wieder erstarkten Russland, mit zahlreichen Beispielen beschreibt er Putins Weg an die Spitze und seinen Umgang mit der Macht.

"Russland steckte schon in völligem Chaos, als Putin Premierminister wurde. Dann versetzte eine Welle von mysteriösen Terroranschlägen, die ungefähr dreihundert Tote forderten, das Land in einen Zustand nationaler Panik. Putins Reaktion - starke Worte und noch stärkere Taten - machten ihn binnen weniger Wochen zum beliebtesten Politiker der Nation... Seitdem hat er die Misswirtschaft der Jelzin-Jahre rückgängig gemacht und dafür gesorgt, dass Russland stark und wohlhabend wurde."

Bedrückend die Vielzahl der Fakten, die einen Machtmissbrauch Putins nahe legen, von der Entmachtung einiger Ölmilliardäre bis zur Ermordung von unliebsamen Journalisten. Manche der erschreckenden Beispiele bleiben jedoch unbewiesene Verdächtigung, solange kein rechtsstaatliches Gericht den Schuldigen festgestellt und verurteilt hat. Aber, so würde Autor Lucas sicher zu Recht argumentieren, auch das Fehlen solcher verlässlichen Gerichtsbarkeit ist eben Teil des Putin-Systems.

Edward Lucas misst Putins Amtszeit an den Jahren seiner unmittelbaren Vorgänger Gorbatschow und Jelzin und kommt dabei zu zwei Urteilen. Verglichen mit der Demokratisierung von Gorbatschows "Glasnost und Perestrojka" schrammt der Putin-Staat hart an einer Demokratie vorbei. Andererseits räumt Lucas ein, dass es einem wachsenden Anteil der Bevölkerung unter Putin wirtschaftlich so gut geht wie seit der Oktoberrevolution nicht mehr. Verglichen mit Lenins und Stalins System von Terror, Gulag und Hungerwirtschaft ist der sicher beklagenswerte Zustand von Putins "Demokratur" für viele Russen heute so etwas wie ein Fortschritt. Nur so wird verständlich, warum Putin und seine Kreml-Partei die Mehrheit der Wählerstimmen - wohl auch ohne Wahlfälschungen - erreichen können.

In der Betrachtung der kommunistischen Vergangenheit eifert Edward Lucas nicht, streitet jedoch gegen Moskaus Geschichtsverdrehung und westliche Geschichtsvergessenheit. Ein Teil von Putins innenpolitischem Erfolg ist wohl, dass er nach den chaotischen Jahren Jelzins mit seinem neuen Russland an die Großmacht der alten Sowjetunion anknüpft. Deren Zusammenbruch nennt er die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Und mit Blick auf Leninismus und Stalinismus bestand Putin darauf, "dass es niemandem gestattet ist, uns Schuldgefühle einzureden."

Scharf kritisiert Autor Lucas den "neuen Zarismus", eine Politik von gefährlichen Übernahmeversuchen in der westlichen Finanzwelt und von Erpressung der Nachbarn mit Erdöl, Erdgas und Geld. Lucas selbst wird dabei nicht zu dem, was man landläufig einen "Kalten Krieger" nennt, sondern zum engagierten, ernstzunehmenden Mahner. In seinem Schlusswort schreibt er:

"Bei sämtlichen Verhandlungen mit Russland sollten wir jede Form von Wunschdenken fahren lassen. Wenn wir immer noch an das Gute glauben, dann darf uns das nicht davon abhalten, uns auf das Schlimmste gefasst zu machen."

Autor Lucas, der neben Russisch auch Polnisch, Litauisch und Tschechisch beherrscht und auch Deutsch spricht, hat im Internet viele Quellen aufgetan, Originaldokumente von Regierung und aus Kreisen der Opposition. Eine Form der Recherche, die als Informationsbeschaffung besonders jüngeren Lesern entgegenkommt. Schade, dass man auf ein Sach- und Personenregister verzichtet hat. Dennoch: Als neuester Sachstand mit geradezu lexikalischer Gründlichkeit und einem ausführlichen Anhang mit ergänzenden Anmerkungen gehört das Buch ab sofort in mein Bücherregal.

Edward Lucas: Der Kalte Krieg des Kreml. Wie das Putin-System Russland und den Westen bedroht
Riemann Verlag, München 2008
Edward Lucas: Der Kalte Krieg des Kreml
Edward Lucas: Der Kalte Krieg des Kreml© Riemann Verlag