Ein Leben im "Eigentlich"

Von Frauke Meyer-Gosau · 25.07.2010
Mit seinen Kalendergeschichten wurde Johann Peter Hebel ein bekannter Dichter des frühen 19. Jahrhunderts, der keineswegs die gemütliche Provinz verkörperte. Die Biografin Heide Helwig zeigt ihn als ein Bündel von Widersprüchen.
Was für ein seltsames Leben war das nur - ein Leben im "Eigentlich". Eigentlich nämlich wollte Johann Peter Hebel reisen, nach Italien vor allem. Und umhergereist ist er dann auch viel, zumeist allerdings in dienstlichen Belangen. Die führten ihn auf einer kurzen Linie hin und her, immer am Oberrhein entlang: von Basel (wo er 1760 geboren wurde) über Lörrach und Karlsruhe (wo er die längste Zeit lebte und arbeitete) bis nach Schwetzingen, wo er im Jahr 1826 starb - auf einer Dienstreise natürlich.

Was den Beruf anging, hatte Johann Peter Hebel Landpfarrer werden wollen, eigentlich. Am liebsten in einer kleinen Gemeinde wie Hausen im Wiesental, im idyllischen Schwarzwald - hier hatte er seine Kindheit verbracht. Aber er wurde ein Gymnasialdirektor in der Residenzstadt und Prediger am Herzogshof in Karlsruhe, danach war er der höchste Kirchenmann in Baden - Johann Peter Hebel vereinigte die verfeindeten evangelischen Kirchen und saß kraft Amtes im badischen Landtag. Da aber war er schon längst ein bekannter Dichter.

Seine "Alemannischen Gedichte", in Mundart verfasst, erschienen 1803 und wurden von Goethe in den höchsten Tönen gelobt. Seit 1807 gab er den Kalender "Der Rheinländische Hausfreund" heraus, 1811 erschien eine Sammlung seiner Kalendergeschichten unter dem Titel "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds". Wer heute das Wort "Hausfreund" hört, wird an Betuliches denken: Man stellt sich jemanden vor, der am Ofen sein Pfeifchen schmaucht, selig in der Provinz. Doch wieder ist das Gegenteil der Fall.

"Auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm gleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft (…) noch keines erlebt hatte …"

So heißt es am Beginn von Johann Peter Hebels wohl bekanntester Kalendergeschichte, "Kannitverstan", und sie führt ohne Umwege in die Fremde - Reisende und fahrende Gesellen sind die Helden dieses Dichters. Denn sie haben Erstaunliches zu berichten, und genau darum geht es hier: um wunderliche Nachrichten aus aller Welt, für jeden Tag des Jahres eine, und der Dichter hat sie nicht erfunden, er ist lediglich der Sammler und Erzähler. Aber was für einer: Alles, was in seinem Kalender auf engem Raum berichtet wird, ist zum Staunen. Es zielt auf eine Pointe, eine überraschende Wendung, und am Ende wird die Konsequenz gezogen - doch nicht mit erhobenem Zeigefinger. Hebel legt sie gern seiner Hauptfigur selbst in den Mund.

So beim Handwerksburschen in "Kannitverstan", der nicht begreift, dass die Holländer seine auf Deutsch gestellten Fragen nicht verstehen und daher immer dieselbe Antwort geben: "Kannitverstan", "Versteh ich nicht". So dass der Deutsche am Ende glaubt, dem reichen Herrn Kannitverstan hätten nicht nur das herrliche Haus und die prächtigen Schiffe gehört - nein, er werde nun von einem Beerdigungszug bis an sein Grab begleitet:

"’Armer Kannitverstan’, rief er aus, ‚was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch’ (…) Und wenn es ihm (später) wieder einmal schwerfallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und sein enges Grab."

Eine ganz aktuelle Geschichte ist das, und eine mit List und Tücke - die Schlussfolgerung des Handwerksburschen beruht ja auf einem Irrtum. Er beherrscht die fremde Sprache nicht und bekommt darum alles in den falschen Hals: Keineswegs ist der verstorbene Herr Kannitverstan der Groß-Kapitalist von Amsterdam gewesen. Und doch hat der weitgereiste Tropf auch wieder recht: Das letzte Hemd hat keine Taschen, im Tod sind Arm und Reich einander gleich. Aber doch erst dann! Und wie das Leben bis dahin aussieht, ist ganz und gar nicht unwichtig. Darüber mögen sich weiland die Leser in Baden die Köpfe heiß geredet haben, denn es waren politisch äußerst bewegte Zeiten, in denen der "Rheinländische Hausfreund" erschien, bis der Autor aufgrund seiner zeitraubenden Haupttätigkeiten die Kalenderarbeit wieder aufgab.

Wer mehr über diesen besonderen Dichter wissen will, der sollte die Biografie von Heide Helwig lesen. Hier wird die erstaunliche Geschichte des armen Weber-Sohns Johann Peter Hebel in dessen wirrer Zeit verortet: in der napoleonischen Besetzung, in den Befreiungskriegen und schließlich in der sich organisierenden Restauration. Es ist die Geschichte eines früh verwaisten Dorfjungen, der als Gelehrter zu höchsten Ämtern aufstieg und sich für alles Neue in der Welt, besonders aber für die sich stürmisch entwickelnden Naturwissenschaften begeisterte. Ein befreundeter Botaniker benannte sogar eine Pflanze nach ihm: Hebelia allemannica, die "Gewöhnliche Simsenlilie".

Den "Hausfreund" hat’s gefreut. Wir aber wissen, dass dieser Mann kein unscheinbares Feld-, Wald- und Wiesengewächs seiner literarischen Epoche war. Heide Helwig zeigt ihn als ein Bündel aus Widersprüchen, die auch uns Heutigen bekannt vorkommen müssen:

"Während Hebel der Professor nach geltenden Spielregeln Lob und Tadel verteilt, schlägt Hebel der Dichter krumme Wege abseits der pädagogischen Hauptstraße ein und macht zwei pfiffige Gauner zu Serienhelden der Kalendergeschichten. Und was ist von Hebel dem Theologen zu halten, der Monotheismus mit ‚Zwang’ in Verbindung bringt und sich dafür ausspricht, den Glauben mehr auf die ‚Natur des sinnlichen Menschen’ einzustimmen? Ein Hauch von Subversion weht durch Hebels Denken, ein wohl gehüteter, gebändigter, kontrollierter Hauch, gemildert von Fragezeichen und Ironie, aber doch nicht zu leugnen"

- Hebel, der Gegenwärtige.

Heide Helwig: Johann Peter Hebel. Biographie
Hanser Verlag, München 2010
368 Seiten, 24,90 Euro

Johann Peter Hebel: Die Kalendergeschichten
dtv, München 2010
848 Seiten, 14,90 Euro
Cover Johann Peter Hebel: "Kalendergeschichten"
Cover Johann Peter Hebel: "Die Kalendergeschichten"© dtv
Cover von Heide Helwig: "Johann Peter Hebel"
Cover Heide Helwig: "Johann Peter Hebel"© C. Hanser Verlag
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