Ein Kribbeln erfasst Leib und Seele
Noch ist das Erhabene nicht ganz aus unserem Blickfeld verschwunden: Astronomen, Chemiker, Neurobiologen und Kunstwissenschaftler entdecken inmitten all der skeptischen Überprüfung der Welt Elemente des Mysteriösen und Numinosen.
Nach der Entzauberung der Welt scheint der Sinn fürs Erhabene verloren. Die Gebirge sind alle erklommen, die Abgründe alle ausgemessen. Den Kosmos durcheilen fliegende Roboter, in den Wüsten kurven die Geländewagen umher. Das Unheil, das die Menschen einst erschaudern ließ, ist oft von ihnen selbst verursacht. Das Unsagbare, Unheimliche oder Ungeheure ist zum Objekt rationaler Erkenntnis degradiert. Die Bauten und Bildnisse, die willentlich aufs Erhabene zielen und den Beschauern einen übersinnlichen Kontakt vermitteln sollen, wirken allzu oft wie monumentaler Kitsch. Erfahrungswissen hat die Einbildungskraft zurückgedrängt. Das ehrfürchtige Staunen scheint entwertet. Und auf den Schwundstufen moderner Religiösität kennt man den heiligen Schrecken nicht einmal mehr vom Hörensagen.
Umso überraschender ist nun ein kleiner Band, in dem prominente Vertreter der modernen Wissenschaft versuchen, sich dem Erhabenen im Kern ihrer eigenen Disziplinen anzunähern. Astronomen, Chemiker, Neurobiologen und Kunstwissenschaftler entdecken inmitten all der skeptischen Überprüfung Elemente des Mysteriösen und Numinosen.
"Die Chemie war und ist die Kunst, das Handwerk und das Geschäft der Substanzen und ihrer Umwandlung. Die Synthese spielt eine besondere Rolle. Sie ist der Königsweg der Chemie zum Erhabenen. Die Molekularforschung ist von der Analyse des Vorhandenen zur Synthese übergegangen, zur teils planmäßigen, teils zufallsbedingten Herstellung von Molekülen. Die meisten von uns erschaffen ein Universum und studieren die von uns selbst kreierten Objekte."
Für den Homo faber ist nicht das unbegreifliche Widerfahrnis erhaben, sondern das Erlebnis eigener Schöpfungsmacht. Es ist der Mensch, der den Stoffen Lebendigkeit verleiht, sie durch Energie verwandelt und immerzu neue Substanzen entwickelt: Chinin und Kortison, Chlorophyll oder - Strychnin. Das Potential der Kreationen scheint unendlich, das Universum der Verbindungen kennt kaum Grenzen.
Wie der Mikrokosmos verspricht auch das Weltall Erlebnisse von Unermesslichkeit und Seelenstärke. Die Fotobilder des Hubble-Weltraumteleskops zeigen einen unübersehbaren Raum von Sternhaufen, umherwirbelnden Galaxien, farbigen Gaswolken und schwarzen Feldern des Nichts. Die Ästhetik der Bilder zielt weniger aufs Wohlgefallen als auf die Phantasie des Betrachters. Doch dokumentieren die Fotos mitnichten die Weite der Welt. Sie sind Erzeugnisse akribischer Konstruktion.
"Indem sie Farben hinzufügen, die Kontraste ändern und Szenen komponieren, machen die Astronomen Aspekte der Daten sichtbar, die anders nicht zu erkennen wären. Was dabei herauskommt, ist kein Spiegelbild des Kosmos, sondern zwangsläufig eine neue Interpretation."
Was beim naiven Beschauer Bewunderung auslöst, ist nichts als eine wissenschaftliche Kalkulation. In Wahrheit wirken nicht die Bildnisse erhaben, sondern nur die Widerfahrnisse der rohen Natur. Astronauten, die den Bannkreis der Erde verlassen haben, berichten gelegentlich von Anflügen leisen Erschauderns. Die Betrachter der Weltbilder dagegen verspüren nichts von der beklemmenden Unendlichkeit.
Seit Kant und Edmund Burke wissen wir, dass das Erhabene keine Eigenschaft von Ereignissen, sondern ein Modus menschlichen Erlebens ist. Nicht in kleinen oder großen Universen ist es zu Hause, sondern in den Bewegungen der Seele. Hierzu weiß die Neurobiologie Klärendes beizusteuern. Gefühle der Erhabenheit gehen oft einher mit einer physiologischen Reaktion der Haut. Ein Kribbeln erfasst Leib und Seele, wenn Töne jene alten Hirnareale reizen, wo das Gattungswesen Kälte, Verlassenheit und Sehnsucht empfindet.
"In Musik, die eine Gänsehaut erzeugt, vermengt sich oft ein wehmütiges Gefühl des Verlustes mit der Möglichkeit der Wiedervereinigung und der Erlösung. Dafür sind wohl die akustischen Eigenschaften von Klängen verantwortlich, die besonders wirksam "Hautorgasmen" auslösen – weil sie den Trennungsschreien von Babys ähneln, den ursprünglichen, Fürsorge erflehenden Signalen, die die soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit verstärken."
Der Ursprung des Erhabenen im sozialen Affekt von Trennung, Schmerz und Vereinigung? Die Haare sträuben sich, das Herz hämmert, die Tränen fließen, wenn das Lebewesen von Schrecken und Mitleid ergriffen wird, wenn die Grenzen des Selbst zerbrechen und das akustische Gehirn die Oberhand gewinnt. Inmitten des Dramas der Verlorenheit jedoch stellt sich das Gefühl ein, in Sicherheit zu sein, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Wie diese Bewegung des Gemüts sich genau vollzieht, das bleibt auch nach der Lektüre dieses bemerkenswerten Bandes ein Rätsel. Aber immerhin beweist das Buch, dass die Entzauberung des Erhabenen noch lange nicht abgeschlossen ist.
Rezensiert von Wolfgang Sofsky
Roald Hoffmann, Iain Boyd White (Hg.): Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft
Suhrkamp Verlag, Edition Unseld, Berlin 2010
Umso überraschender ist nun ein kleiner Band, in dem prominente Vertreter der modernen Wissenschaft versuchen, sich dem Erhabenen im Kern ihrer eigenen Disziplinen anzunähern. Astronomen, Chemiker, Neurobiologen und Kunstwissenschaftler entdecken inmitten all der skeptischen Überprüfung Elemente des Mysteriösen und Numinosen.
"Die Chemie war und ist die Kunst, das Handwerk und das Geschäft der Substanzen und ihrer Umwandlung. Die Synthese spielt eine besondere Rolle. Sie ist der Königsweg der Chemie zum Erhabenen. Die Molekularforschung ist von der Analyse des Vorhandenen zur Synthese übergegangen, zur teils planmäßigen, teils zufallsbedingten Herstellung von Molekülen. Die meisten von uns erschaffen ein Universum und studieren die von uns selbst kreierten Objekte."
Für den Homo faber ist nicht das unbegreifliche Widerfahrnis erhaben, sondern das Erlebnis eigener Schöpfungsmacht. Es ist der Mensch, der den Stoffen Lebendigkeit verleiht, sie durch Energie verwandelt und immerzu neue Substanzen entwickelt: Chinin und Kortison, Chlorophyll oder - Strychnin. Das Potential der Kreationen scheint unendlich, das Universum der Verbindungen kennt kaum Grenzen.
Wie der Mikrokosmos verspricht auch das Weltall Erlebnisse von Unermesslichkeit und Seelenstärke. Die Fotobilder des Hubble-Weltraumteleskops zeigen einen unübersehbaren Raum von Sternhaufen, umherwirbelnden Galaxien, farbigen Gaswolken und schwarzen Feldern des Nichts. Die Ästhetik der Bilder zielt weniger aufs Wohlgefallen als auf die Phantasie des Betrachters. Doch dokumentieren die Fotos mitnichten die Weite der Welt. Sie sind Erzeugnisse akribischer Konstruktion.
"Indem sie Farben hinzufügen, die Kontraste ändern und Szenen komponieren, machen die Astronomen Aspekte der Daten sichtbar, die anders nicht zu erkennen wären. Was dabei herauskommt, ist kein Spiegelbild des Kosmos, sondern zwangsläufig eine neue Interpretation."
Was beim naiven Beschauer Bewunderung auslöst, ist nichts als eine wissenschaftliche Kalkulation. In Wahrheit wirken nicht die Bildnisse erhaben, sondern nur die Widerfahrnisse der rohen Natur. Astronauten, die den Bannkreis der Erde verlassen haben, berichten gelegentlich von Anflügen leisen Erschauderns. Die Betrachter der Weltbilder dagegen verspüren nichts von der beklemmenden Unendlichkeit.
Seit Kant und Edmund Burke wissen wir, dass das Erhabene keine Eigenschaft von Ereignissen, sondern ein Modus menschlichen Erlebens ist. Nicht in kleinen oder großen Universen ist es zu Hause, sondern in den Bewegungen der Seele. Hierzu weiß die Neurobiologie Klärendes beizusteuern. Gefühle der Erhabenheit gehen oft einher mit einer physiologischen Reaktion der Haut. Ein Kribbeln erfasst Leib und Seele, wenn Töne jene alten Hirnareale reizen, wo das Gattungswesen Kälte, Verlassenheit und Sehnsucht empfindet.
"In Musik, die eine Gänsehaut erzeugt, vermengt sich oft ein wehmütiges Gefühl des Verlustes mit der Möglichkeit der Wiedervereinigung und der Erlösung. Dafür sind wohl die akustischen Eigenschaften von Klängen verantwortlich, die besonders wirksam "Hautorgasmen" auslösen – weil sie den Trennungsschreien von Babys ähneln, den ursprünglichen, Fürsorge erflehenden Signalen, die die soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit verstärken."
Der Ursprung des Erhabenen im sozialen Affekt von Trennung, Schmerz und Vereinigung? Die Haare sträuben sich, das Herz hämmert, die Tränen fließen, wenn das Lebewesen von Schrecken und Mitleid ergriffen wird, wenn die Grenzen des Selbst zerbrechen und das akustische Gehirn die Oberhand gewinnt. Inmitten des Dramas der Verlorenheit jedoch stellt sich das Gefühl ein, in Sicherheit zu sein, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Wie diese Bewegung des Gemüts sich genau vollzieht, das bleibt auch nach der Lektüre dieses bemerkenswerten Bandes ein Rätsel. Aber immerhin beweist das Buch, dass die Entzauberung des Erhabenen noch lange nicht abgeschlossen ist.
Rezensiert von Wolfgang Sofsky
Roald Hoffmann, Iain Boyd White (Hg.): Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft
Suhrkamp Verlag, Edition Unseld, Berlin 2010