Ein Kind der DDR

Rezensiert von Klaus Schroeder · 10.07.2011
Weniger Freiheit, weniger Wohlstand: Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht skizziert einen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, der in vielem der sozialistischen Umwälzung in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg ähnelt.
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht skizziert in diesem Buch einen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, der in vielem der sozialistischen Umwälzung in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg ähnelt.

Die stellvertretende Parteivorsitzende der "Linken", Sahra Wagenknecht, hat in zahlreichen Interviews vom linksradikalen Blatt "junge Welt" bis zur linkskonservativen FAS erzählt, sie habe mit ihrem Buch die inhaltlichen Grundlagen für einen neuen, einen kreativen Sozialismus gelegt. Dabei knüpfe sie auch an ordoliberale Konzepte an, die die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik begründeten. Wer das Buch genauer als ihre jeweiligen Interviewpartner liest, stellt jedoch fest, dass Wagenknecht einen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus skizziert, der in vielem der sozialistischen Umwälzung in der SBZ ähnelt.

Wie von eingefleischten Marxisten nicht anders zu erwarten, werden eingangs heutige Verhältnisse als Elendsszenario dargestellt: Die Bevölkerung müsse immer mehr arbeiten, werde immer ärmer, die Sozialsysteme würden auf Druck mächtiger Wirtschaftslobbys zerschlagen und vielen stehe die Altersarmut bevor. Schuld sei ein aus dem Ruder gelaufener Kapitalismus, der vom Finanzsektor dominiert werde.

"Der Kapitalismus ist unter diesen Bedingungen keine Wirtschaftsordnung mehr, die Produktivität, Kreativität, Innovation und technologischen Fortschritt befördert. Heute verlangsamt er Innovationen, behindert Investitionen und blockiert den ökologisch dringend notwendigen Wandel. ( ... ) Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden."

Konsequent blendet Wagenknecht die soziale Realität breiter Bevölkerungskreise aus. Eine Gesellschaft, in der die Staatsquote bei etwa 50 Prozent, die Sozialleistungsquote bei rund einem Drittel und die Armutsgrenze bei etwa 1000 Euro für einen Single liegen, als am Rande der Verelendung stehend zu bezeichnen, ist schon ein starkes Stück.

Die kreative Sozialistin Wagenknecht differenziert faktisch zwischen dem schaffenden und dem raffenden Kapital, wobei Letzteres als Übeltäter für das angebliche Elend benannt wird. Die "Ackermänner" hätten gezockt, die Politik erpresst und noch an der Krise verdient. Damit die weitere Entwicklung nicht in einer Katastrophe ende, gebe es nur ein Mittel: die Verstaatlichung von Banken und Versicherungen. So begann auch in der SBZ im Sommer 1945 die sozialistische Umwälzung.

Der nächste, in der SBZ ebenfalls erfolgte Schritt, die Entflechtung und Verkleinerung und damit faktische Verstaatlichung von Großkonzernen, sei zur Förderung des Gemeinwohls notwendig. Privates Eigentum im Bereich von Großunternehmen sei anachronistisch geworden und könne entschädigungslos auf Belegschaften übertragen werden. In privater Hand sollten nur noch Unternehmen bis zu einer bestimmten Größe bleiben. Das darüber hinausgehende Betriebsvermögen werde in unveräußerliche Belegschaftsanteile umgewandelt, die von einer Art Stiftung verwaltet werden könnten. Bei größeren Unternehmen möchte die Autorin 25 Prozent Stiftungsanteile auf die öffentliche Hand übertragen. Dann bestimmen nicht mehr Unternehmer die Geschicke der Betriebe, sondern Staats- und Gewerkschaftsfunktionäre.

Um die jetzigen Eigentumsverhältnisse radikal zu ändern, schlägt sie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer vor - freilich mit höheren Sätzen - und eine Begrenzung von Erbschaften und Schenkungen auf eine Million Euro. Was hierüber hinaus geht, soll vom Staat vollständig eingezogen werden. Wagenknecht greift insbesondere ihre direkten politischen Widersacher an. Die Sozialdemokraten werden als Partei der Zerschlagung des Sozialstaates bezeichnet und die Grünen als Wegbereiter des Öko-Kapitalismus, bis hin zur Öko-Diktatur.

"Immerhin hatten SPD und Grüne gerade einen rabiaten sozialen Kahlschlag durchgesetzt, hatten die Renten gekürzt und teilprivatisiert und bereiten augenblicklich die Abschaffung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe und deren Ablösung durch Hartz IV vor. All diese Untaten hatten sie mit angeblich unausweichlichen 'Sparzwängen' im 'Zeitalter der Globalisierung' begründet."

Die Politik hat heutzutage laut Wagenknecht kaum noch Spielräume.

"Die herrschende Politik ist heute zu weiten Teilen von der Wirtschaft gekauft. Die Fähigkeit der einzelnen Interessengruppen, ihren Wünschen Geltung zu verschaffen, lässt sich dabei an den politischen Entscheidungen ablesen."

Da fragt sich der erstaunte Leser dann doch: wie es kommt es, dass die schwarz-gelbe und aus Wagenknechts Sicht kapitalhörige Regierung so schnell gegen den Widerstand der Energiekonzerne aus der Atomenergie aussteigt, dass Opel keine staatlichen Subventionen erhielt und dass demnächst wohl ein Mindestlohn eingeführt werden wird.

Sahra Wagenknecht spricht manche Missstände unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu Recht an, zum Beispiel fehlenden Wettbewerb in manchen Bereichen, unzureichende Bankenkontrollen und soziale Aufstiegsmöglichkeiten, aber ihre Therapie wird nicht zu mehr Freiheit und Wohlstand, sondern zu weniger Wohlstand und zur Einschränkung individueller Freiheiten führen. Freiheit ist für sie offenbar immer noch die Einsicht in die historische Notwendigkeit. Auch wenn sie eine zentralistische Planwirtschaft wie im SED-Staat ablehnt, bleibt sie in ihrer Argumentation doch ein Kind der DDR.

Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main/2011
Buchcover: "Freiheit statt Kapitalismus" von Sahra Wagenknecht
Buchcover: "Freiheit statt Kapitalismus" von Sahra Wagenknecht© Eichborn Verlag